promo_banner

Реклама

Читать книгу: «Einführung in die Religionsethnologie», страница 5

Шрифт:

Die Entwicklung der modernen Religionsethnologie

Nach dem Zweiten Weltkrieg veränderte sich die Religionsethnologie, so wie sich die Ethnologie an sich veränderte. Obwohl das Buch Witchcraft, Magic and Oracles among the Azande[19] von Sir Edward Evan Evans-Pritchard (1902–1973) auf einer Forschung aus den 1920er Jahren basiert und schon 1937 erschien, symbolisiert es diese Veränderungen. Evans-Pritchard präsentiert in seinem Meisterwerk einen neuen Zugang zu Religionen, indem er die besondere Form von Rationalität, die den Glaubensvorstellungen der Zande zu Grunde liegt, als fremd, aber an sich logisch charakterisiert.

Evans-Pritchard argumentiert, dass ein Schlüsselthema der Ethnologie die Frage der Übersetzung ist, die zwei Komplexe betrifft: zum einen das Problem, in die mentale Welt einer unbekannten Kultur einzutreten, und zum anderen, diese Welt anderen verständlich zu machen. Um den Mitgliedern der eigenen Kultur die fremde zu erklären, sei es wichtig, die fremden Bräuche mit Elementen, die den Lesern vertraut sind, zu vergleichen. Ein Ethnologe müsse daher die eigenen Gedanken in einer Weise übersetzen, die den Erfahrungen der fremden Kultur entspreche, und danach diese Erfahrungen in Vorstellungen übertragen, die andere wiederum verstehen können. Evans-Pritchard ging davon aus, dass Gläubige und Nichtgläubige sich der Religion auf verschiedene Weise annähern. Nichtgläubige tendierten dazu, nach soziologischen, psychologischen, existenziellen oder biologischen Theorien Ausschau zu halten, die Religion als Illusion erklären. Gläubige fassen dagegen Religion in Begriffe, mit denen die Menschen ihre Realität wahrnehmen und in Beziehung setzen. Obwohl beide Gruppen darin übereinstimmen, dass Religion ein wichtiger Faktor im sozialen Leben sei, habe Religion für Gläubige eine weitere Dimension. Evans-Pritchard stimmte gewissermaßen mit Wilhelm Schmidt überein, der schrieb, dass Religion am besten von Gläubigen verstanden würde, da deren innerliches Bewusstsein und ihre Erfahrung mit Religion eine wichtige Rolle beim Verständnis von Religion spiele. Allerdings machte Evans-Pritchard gleichzeitig deutlich, dass er nicht fand, dass Ethnologen religiös sein sollten (1981: 50). Er wehrte sich lediglich gegen Autoren, die eine „theologische Position“ im negativen und impliziten Sinne einnahmen und die auf einer kausalen Erklärung von religiösen Phänomenen bestanden, denn sie, so Evans-Pritchard, überschritten „die Grenzen ihres Gegenstandes“ (1981: 51).

Evans-Pritchard, selbst zum Katholizismus konvertiert, führte mehrere religionsethnologische Forschungen durch, beispielsweise über die Nuer-Religion (siehe z. B. Nuer Religion, 1956). Sein bekanntestes Buch ist allerdings seine Arbeit über die Hexerei bei den Zande im Sudan, bei denen er zwischen 1926 und 1929 etwa 20 Monate lebte (mit Unterbrechungen). Während seines ersten dreimonatigen Aufenthaltes im Sudan führte er die Forschung für seine Dissertation über die Sozialorganisation der Zande in der Bahr-el-hazel-Provinz durch, mit der er 1927 bei Malinowski in London promovierte. Diese Forschung führte ihn schließlich zu seiner Arbeit über die Hexerei.

In seinem Hexerei-Buch beschrieb Evans-Pritchard in brillanter und für seine Zeit sehr ungewöhnlicher Weise die interne Logik der Zande. Er demonstriert, wie sich Ideen, die für Außenstehende widersprüchlich und irrational erscheinen, dennoch einigermaßen vernünftig behaupten können. Er schrieb beispielsweise, dass die Zande im Falle eines Unglücks oft auf Hexerei verweisen. Wenn etwa ein alter Getreidespeicher kollabiert und Personen, die zufälligerweise darunter sitzen, verletzt werden, halte man Hexerei dafür verantwortlich. Diese Erklärung beschreibt Evans-Pritchard als ein Bindeglied: Natürlich wüssten die Zande, dass zum einen Termiten die Gebäudekonstruktion aushöhlten und zum anderen Menschen unter dem Dach säßen, um sich vor der Sonne zu schützen. Die Zande verbänden aber diese beiden Ereignisse, um zu begründen, warum diese verletzten Personen gerade unter dem Dach gesessen hatten als es kollabierte. Und die logische Erklärung sei Hexerei. Für Evans-Pritchard bietet die Zande-Hexerei nach der Art und Weise, wie die Zande denken und schlussfolgern eine völlig rationale Erklärung (1988: 65–66).

Evans-Pritchards Arbeit war richtungsweisend für die religionsethnologische Forschung. Im 21. Jahrhundert ist es üblich, individuelle religiöse Erfahrungen zu untersuchen, aber nicht zu Evans-Pritchards Zeiten, wie das vorherige Unterkapitel deutlich gemacht hat. Ein Schlüsselbegriff ist heute die Kontextualisierung. Wir versuchen, die religiöse Erfahrung in ihrem sozialen Kontext zu erfassen und damit die Art und Weise ihrer sozialen Konstruktion zu erklären (Kunin 2003: 149). Dieses Unterfangen ist allerdings überaus schwierig und oft trotz aller Bemühungen spekulativ, wie Godfrey Lienhardt beschreibt.[20] Der Prozess der Übersetzung ist vor allem im Bereich der Religionen schwierig, da er oftmals abstrakte Ideen und Glaubensvorstellungen betrifft. Bei der Deutung spielen häufig auch Machtverhältnisse eine große Rolle, wie Talal Asad in seiner Kritik an der Religionsethnologie betont. Asad verweist auf die „Ungleichheit der Macht der Sprachen“, wobei er allerdings nicht nur die unterschiedlichen Sprachen, sondern auch die soziale Dimension der Sprecher meint. Es ginge somit nicht nur um Englisch gegenüber Dinka, oder Englisch gegenüber Kabbashi-Arabisch, sondern um ein britisches akademisches Auftreten der Mittelklasse gegenüber den Lebensweisen nomadischer tribaler Sudanesen (Asad 1993: 193). Ein Beispiel dieser Ungleichheit zeigt sich auch in Evans-Pritchards Buch über die Hexerei bei den Zande. Während seiner Forschung gehörte die Region zum anglo-ägyptischen Sudan. Seine Arbeit wurde daher auch hauptsächlich von der sudanesischen Regierung gesponsert (unterstützt mit Mitteln der Royal Society und des Rockefeller Memorial-Funds).[21] Evans-Pritchard war somit, wie fast alle Ethnologen seiner Zeit, Teil des kolonialen Systems. Da das Ziel seines Buches die Erklärung der traditionellen Denkweise in den emischen Konzepten war, ignorierte er, dass Sudan in dieser Zeit einen radikalen Kulturwechsel durchlebte. Traditionelle Führer sandten ihre Kinder zu Missionsschulen und 1927, vermutlich zwischen Evans-Pritchards erstem und zweitem Aufenthalt in der Region, entschied die Regierung, Grundschulen in allen Dörfern einzuführen. Das traditionelle System begann zusammenzubrechen und eine neue Führerschaft entstand. Darüber schreibt Evans-Pritchard allerdings nichts. Ganz im Sinn einer typischen Ethnografie seiner Zeit beschreibt er die Kultur in einem statischen Zustand, ohne den Kulturwandel zu thematisieren, zu dem er vermutlich auch selbst beigetragen hat.

Evans-Pritchard schreibt, dass er sich während seiner Forschung vor allem auf vier Personen verließ: zwei Diener und zwei Informanten, die seine Freunde wurden. Neben ihnen traf er natürlich auch zahlreiche Zande, die jederzeit in seinem Haus ein- und ausgingen. Seine Informationen beruhten auf Interviews und informellen Gesprächen mit diesen Personen, die in Azande durchgeführt wurden. Einige Themen konnten nicht öffentlich und folglich nur im privaten Milieu seines Hauses besprochen werden. Obwohl er im Dorf lebte und auch die lokale Sprache erlernte, waren ihm einige Informationen trotz aller Bemühungen verschlossen. Unter anderem konnte er nicht ermitteln, was während der Ausbildung zum Medizinmann passierte. Da sein Diener Kamanga den Wunsch hatte, Medizinmann zu werden, gab Evans-Pritchard ihm die notwendigen Mittel und heuerte ihn somit als Ersatzmann an, um Informationen über den Ausbildungsprozess zu erhalten (1988: 118). Evans-Pritchard berichtet darüber sehr offen und beschreibt Kamanga als überaus zuverlässige Informationsquelle (1988: 122), die es ihm ermöglichte, in das traditionelle System aus die Perspektive eines Einheimischen zu blicken. Evans-Pritchard nutzte hier Kamangas Vertrauen, aber auch seine hohe soziale Stellung im politischen Sudan, um Informationen zu erhalten, die ihm eigentlich verschlossen waren. Das Problem bildet nicht so sehr die Bezahlung – heute müssen Ethnologen in der Regel einen Ausgleich für die Zeit anbieten, welche die Gesprächspartner uns für unsere Fragen gewähren. Sondern es ist vielmehr der Zugang zu Informationen, die vertraulich, geheim, ja sakral sind. Forschung wird heute mehr als Dialog verstanden und nicht mehr als koloniales Unterfangen. Deshalb sollten auch Grenzen akzeptiert werden, gerade – aber nicht nur – im Bereich der Religion. Dennoch soll mit diesem Vorwurf keineswegs die gesamte Arbeit von Evans-Pritchard diskreditiert werden. Ähnlich wie im vorherigen Unterkapitel soll die Kritik nur verdeutlichen, dass Verfahrensweisen, die vor einigen Jahrzehnten noch üblich waren, heute nicht mehr geduldet werden können.

Obwohl Evans-Pritchard überaus einflussreich war und die Religionsethnologie lange dominierte, war er bei weitem nicht der einzige in dieser Zeit. Eine weitere Richtung der Religionsethnologie, die auch in den USA einige Zeit lang eine Rolle spielte, war die marxistische Interpretation religiöser Glaubensvorstellungen und Praktiken. Beispiele sind die Arbeiten von Peter Worsley über den Cargo-Kult in Melanesien (siehe The Trumpet Shall Sound: A Study of ‘Cargo’ Cults in Melanesia, 1957) oder Marvin Harris Buch Cows, Pigs, Wars and Witches (1975), in welchem er die Beziehung zwischen dem materiellen und dem religiösen Element in den Kulturen untersucht. Seine kulturmaterialistische Perspektive führte dazu, dass Harris die Möglichkeit des Wandels in der Geschichte ignorierte. Seth Kunin kritisiert beispielsweise, dass Harris den vermeintlichen Ursprung einer religiösen Praktik mit den Gründen vermischte, warum diese Praktik weiterhin besteht (2003: 15). Die marxistische Richtung der Religionsethnologie wird heute im Allgemeinen kaum beachtet, obwohl der Zusammenhang zwischen Glaubensvorstellungen und sozialem Leben, auf den u. a. Harris verwies, weiterhin wichtig ist und in heutige Forschungen einfließt. Interessanterweise taucht die marxistische Religionsethnologie mitunter in lateinamerikanischen Studien wieder auf, z. B. bei Untersuchungen von Festen und anderen Ritualen von lateinamerikanischen Religionsethnologen (siehe z. B. Simbolismo y Poder, von Ángel Montes del Castillo, 1989).

Ebenfalls einen wichtigen Einfluss auf die Religionsethnologie in Lateinamerika und darüber hinaus hat bis heute Claude Lévi-Strauss (geb. 1908). Obwohl seine Arbeiten bis heute andauern, möchte ich ihn bereits an dieser Stelle vorstellen, da er richtungsweisend für die Religionsethnologie nach dem Zweiten Weltkrieg war. Lange wurde der Name Lévi-Strauss vor allem mit der Entwicklung des französischen Strukturalismus verbunden (siehe z. B. Les structure élémentaire de la parenté, 1949, auf Deutsch 1981). Beeinflusst von der strukturalen Linguistik der Arbeiten von Noam Chomsky und Ferdinand de Saussure sowie dem russischen Formalismus eines Wladimir Propp versuchte Lévi-Strauss, die Grammatik des Geistes zu ermitteln. Er bewertete hierbei die zu Grunde liegenden Strukturen höher als die Bedeutung spezifischer Elemente. Basierend auf seiner Kenntnis der Indianer im Amazonasgebiet, vor allem ihrer Mythen (siehe z. B. Mythologiques, vol. I–IV, 1964–1971, auf Deutsch 1976), extrahierte er die grammatikalischen Regeln der Gesellschaften, um etwas über deren Struktur zu erfahren, über ihre Texte, Sprachen und Kulturen. Er war der Ansicht, dass die zu Grunde liegenden Strukturen einzelner Gesellschaften universell seien, zumindest auf einigen Ebenen. Individuelle Erfahrungen und Gefühle wie Liebe, Hass, Angst und Begierde waren für Lévi-Strauss den Strukturen untergeordnet, die zu einer Gesellschaft führen. Gesellschaften hatten für Lévi-Strauss eine biologistische Basis. Wenngleich Lévi-Strauss die angelsächsische Sozialethnologie nur bedingt beeinflusste (Bowie 2006: 17–18), hatte er doch lange eine wichtige Wirkung auf die kontinental-europäische und die lateinamerikanische Ethnologie, in der mehrere strukturalistische Schulen entstanden. Edmund Leach charakterisiert die Schriften von Lévi-Strauss als „schwer verständlich“, denn „seine soziologischen Theorien verbinden verwirrende Kompliziertheit mit überwältigter Gelehrsamkeit“ (Leach 1991: 9).

Von Religionsethnologen wird Lévi-Strauss mitunter mit Frazer verglichen, da seine strukturalistischen Werke sich ebenfalls durch eine immense Ansammlung von Daten auszeichneten, während seine Feldforschungserfahrung überaus mager war. Außerdem wird seine universalistische Theorie heute oft als spekulativ abgelehnt. Dennoch ist sie weiterhin wichtig in der Religionsethnologie. Er hat uns mit ihr ein kohärentes Modell angeboten für die Untersuchung von Religion als sozialer Institution, wie Verwandtschaft und andere Einrichtungen. Dabei hat er, wie Kunin lobend schreibt, die essentialistische Einheit menschlicher kognitiver Prozesse an Stelle der Einheit einer einzelnen sozialen Institution hervorgehoben (Kunin 2003: 166). D. h. statt Religion universalistisch zu betrachten und damit von den anderen Bereichen der Gesellschaft und der Kultur zu isolieren, hat Lévi-Strauss den Menschen in den Mittelpunkt seiner Studien gestellt. Wenngleich dieser Ansatz heute angesichts der zahlreichen religionsethnologischen Einzelstudien überholt erscheint, weist er doch auf einen wichtigen Aspekt der Religionsethnologie hin. Auch wenn im Zentrum unserer Forschung Religion steht, darf Religion nie getrennt von anderen Bereichen menschlichen Lebens betrachtet werden, da diese Sichtweise lediglich eine akademische Konstruktion darstellt, aber nicht der ethnografischen Realität entspricht. Lévi-Strauss hat zwar keine lange Feldforschung betrieben, er hat sich aber stets von den Kulturen, die er getroffen hat, inspirieren lassen. Heutzutage scheint die Theorie oft aus der Religionsethnologie verdrängt zu sein. Das Werk von Lévi-Strauss zeigt uns aber, dass Religionsstudien durchaus einen Beitrag zur theoretischen Diskussion leisten können.[22] Wie Mary Douglas in einem Vorwort zur englischen Neuausgabe des Buches Essai sur le Don von Marcel Mauss schreibt, wird zwar allgemein die Feldforschung als zentrales Paradigma der modernen Ethnologie bezeichnet. Allerdings sieht sie deren Beginn bei der Systematisierung kultureller Konzepte wie sie Mauss als Pionier betrieben habe (Douglas in Mauss 1990: X). Lévi-Strauss steht – genau wie Douglas selbst – in dieser Tradition.

Ein Schüler von Mauss war Roger Bastide (1898–1974), der sich in seinen Schriften oft auf Mauss bezog, wenngleich sein Werk auch von Lévi-Strauss beeinflusst war. In der Religionsethnologie sind vor allem seine Arbeiten über die afrobrasilianischen Religionen bekannt (z. B. Les Religions Africains au Brésil, 1960). Seine vergleichenden Studien über afroamerikanische Kulturen (z. B. Les Amérique Noires, 1967) trugen zur Etablierung der afroamerikanistischen Studien bei. Inspiriert durch seine Erfahrungen in Brasilien, vor allem mit den Religionen Candomblé und Umbanda, sind in der Religionsethnologie heute vor allem seine Beiträge zur Synkretismus-Debatte bekannt, während seine anderen Arbeiten, wie der Aufsatz über Religion als kollektives Gedächtnis, heute leider oftmals unbeachtet bleiben (Mémoire collective et sociologie du bricolage, 1970, siehe auch Schmidt 2002: 289–294). Bastide kombiniert in seinen Schriften soziologische Ansätze, welche die kollektive Dimension von Religion in der Tradition von Durkheim erforschen, mit einer emotionalen Dimension, die eher mit dem theologischen Ansatz Ottos verbunden wird. Bastide sah in der Idee der mythischen Erfahrung des Heiligen einen wichtigen Zugang zur Religion. Er wechselte daher in seinen Argumentationen oft zwischen „Religion erklären“ und „Religion verstehen“. Astrid Reuter beschreibt Bastide in ihrer Biografie aus diesem Grund als von „Brasilien verzaubert“ und als „wilden Heiligen“ (Reuter 2000: 357).

Mary Douglas (1921–2007) dagegen ignorierte den mystischen Teil der Religion und konzentrierte sich – ebenfalls in der Tradition von Mauss – auf die Systematisierung religiöser und sozialer Konzepte. Für die Religionsethnologie sind vor allem ihre Werke Purity and Danger (1966, auf Deutsch 1985) und Natural Symbols (1970, auf Deutsch 1974) von Bedeutung. Douglas arbeitet hauptsächlich über die soziale Dimension der religiösen Praktiken, vor allem über Symbole und Rituale. So zeigt sie, wie die Kategorisierung „rein“ und „verunreinigt“ der Realität Bedeutung verleiht, da diese in kulturellen Symbolen ausgedrückt wird. Douglas versteht Symbole, Rituale und Tabus als Kennzeichen des menschlichen Zustands (condition humana) und als wichtiges Referenzsystem. Eine Besonderheit von Douglas ist, dass sie sich von der Begrenzung der Ethnologie auf tribale Gesellschaften löst und neben Verweisen auf traditionelle Gemeinschaften (vor allem in Afrika) auch industrielle Gesellschaften einbezieht.

Diesen Weg nahm auch ein anderer Ritualforscher. Victor Turner (1920–1983) ging wie Douglas aus der britischen Sozialanthropologie hervor, wechselte dann aber in die USA und begann seine Forschung bei den Ndembu. Basierend auf diesen Untersuchungen entwickelte er Arnold van Genneps berühmtes Modell der Übergangsriten weiter, wobei Turner sich vor allem mit der Liminalität beschäftigte. Aus seiner Zusammenarbeit mit dem Theaterwissenschaftler Richard Schechner heraus übertrug Turner sein Modell der Liminalität bei traditionellen Gesellschaften auf industrielle, nannte es hier allerdings Liminoid. Ich werde im übernächsten Kapitel ausführlicher darauf eingehen. Daneben hat Turner zusammen mit Edith Turner eine interessante Studie zur Pilgerreise in Spanien veröffentlicht, die heute etwas in Vergessenheit geraten ist. Nach seinem Tod arbeitete seine Frau, Edith Turner, weiter als Ethnologin und gewann mit der Zeit ein eigenständiges Profil, vor allem in dem Bereich der performativen Ethnologie.

Die Religionsethnologie heute

Die letzte weitreichende Veränderungsphase wurde von Clifford Geertz (1926–2006) eingeleitet, der 1966 den Mangel an theoretischen Fortschritten innerhalb der Religionsethnologie seit dem Zweiten Weltkrieg kritisierte (Geertz 1991: 44). Geertz stellte sich in seinem Versuch, Religion als kulturelles System zu definieren, in die Tradition von Durkheim, Weber, Freud und Malinowski, deren Beiträge er als unentbehrliche Ausgangspunkte für eine ethnologische Religionstheorie bezeichnete (1991: 45–46). Seine Begriffsbestimmung, die ich bereits im vorherigen Kapitel erwähnte, gilt als die einflussreichste ethnologische Religionsdefinition (Asad 1993: 237), obgleich sie mitunter als zu breit oder zu schwammig charakterisiert wird. Darüber hinaus ist Geertz in der Ethnologie vor allem für seine interpretative Perspektive berühmt. Sein Aufsatz über die dichte Beschreibung (1973, auf Deutsch ebenfalls in Geertz 1991) veränderte die Ethnologie, wie es kaum jemals zuvor geschah. Geertz hat seine religionsethnologischen Feldforschungen hauptsächlich in Südostasien und Nordafrika durchgeführt. Obgleich seine späteren Arbeiten vor allem wissenschaftskritische Beiträge zur Ethnologie waren, sind für die Religionsethnologie seine früheren Arbeiten bedeutsamer. Geertz machte auf die Notwendigkeit aufmerksam, sich in der ethnologischen Feldforschung mit dem Bedeutungsrahmen zu beschäftigen, in dem die Menschen ihr Leben verbringen. Er unterschied die religiöse Perspektive von der alltäglichen („Common-sense“-Perspektive), da sie weit über die Realität des Alltags hinausreiche. Definitionskriterium müsse deshalb die Akzeptanz dieser Realitäten sein, womit der Glauben an die religiösen Realitäten wichtiger sei als die Handlungen der Gläubigen (siehe Saler 2000: 94). Geertz schreibt beispielsweise: „Es ist eben diese Idee eines ‚wirklich Wirklichen‘, die der religiösen Perspektive zugrunde liegt und die symbolische Praxis der Religion als kulturelles System hervorbringen, vertiefen und soweit wie möglich gegen die anders lautenden Erkenntnisse der säkularen Erfahrung immun machen soll.“ (Geertz 1991: 77). Geertz gilt als Vertreter einer symbolistischen Richtung der Religionsethnologie, die sich in erster Linie mit dem beschäftigt, was Religion repräsentiert. Anstatt zu ermitteln, was Religion zu erklären sucht, werden Symbole und Rituale als „Metaphern sozialen Lebens“ (Bowie) untersucht. Talal Asad dagegen, dessen Kritik an Geertz’ Definition ich bereits im vorherigen Kapitel erwähnte, gehört zur postkolonialen Richtung der Ethnologie, die gegen universelle Kategorien, Definitionen und Schemata argumentiert. Statt über den Islam, den Buddhismus oder die Religion der australischen Aborigines zu schreiben, sollen Ethnologen nach Asads Argumentation nur über Glaubensvorstellungen und Praktiken in spezifischen historischen, kulturellen und sozialen Kontexten arbeiten. Auf den ersten Blick scheint diese Forderung nicht neu zu sein. Auch Geertz hat in seinem Buch Islam Observed nicht den Islam beschrieben, sondern die Praktiken in zwei verschiedenen kulturellen Kontexten vorgestellt. Um die Kritik von Asad besser verständlich zu machen, schwenke ich kurz ab und stelle den Diskurs um den Orientalismus in der Religionsforschung vor.

Die Debatte wurde durch das Buch Orientalism (1978) von Edward Said (1935–2003) eingeläutet. Said zeigte darin, wie der orientalistische Diskurs für koloniale Aggressionen und die politische Vorherrschaft der westlichen Welt missbraucht wurde (King 1999: 82). Der Begriff Orientalismus steht seit der Publikation des Buches von Said für die abwertende Behandlung des Orients durch die westlichen Kolonialmächte. Orientalismus war als humanistische Kritik gedacht, mit der Said, wie er im Vorwort der Neuauflage zur Feier des 25. Jahrestages der Erstausgabe schrieb, das Feld zum gegenseitigen Verständnis öffnen wollte.[23] Er zeigte in seinem Buch den Austausch zwischen dem Westen und dem Orient, wobei er den Westen mit Europa und Nordamerika beschrieb, während der Orient für ihn die romantische und missverständliche Bezeichnung von Vorder- und Mittelasien war, somit ein Konstrukt und keine Realität. Said definierte den Orientalismus auf drei Ebenen: als akademische Erfindung; als Untersuchungsgebiet von Wissenschaftlern, die über die Region, die als Orient bezeichnet wird, arbeiten; und als Denkstil basierend auf der ontologischen und epistemologischen Trennung zwischen Orient und Okzident (Said 2003: 2). Daraus resultierend sieht Said Orientalismus als Institution, die bestimmt, wie über den Orient gesprochen, wie damit umgegangen, wie er beschrieben, gelehrt und regiert wird. Orientalismus sei folglich der westliche Herrschaftsstil, der autoritär über den Orient verfüge (Said 2003: 3). Wenngleich Said sich vor allem auf die koloniale Literatur bezieht, zeigt er gleichzeitig, dass sich die damals entwickelten Denkweisen auf heutige Forschungen auswirken. Das gilt auch für die Religionsforschung, denn Said zeigt uns indirekt auch den ambivalenten Umgang mit fremden Kulturen und Religionen in unserem Fach. So schreibt Richard King, dass wir – trotz aller Kritik an dessen Methodik – Saids Forderung nach einem neuen Umgang mit fremden Gesellschaften auf die Religionsforschung übertragen sollten. In der Tradition von Said kritisiert King im Besonderen den „Mythos der Homogenität“ in der Beschreibung asiatischer Religionen (King 1999: 82). Er widerspricht rigoros jeglicher Anwendbarkeit globaler, sehr abstrakter und einstimmiger Denksysteme auf religiöse Erfahrungen, da ein solcher Zugang uns lediglich mit einem sehr homogenisierten Bild der Religion versorgt (1999: 98). King schließt in seine Kritik an der Forschung über indische Religionen Wissenschaftler ein, die sich der postkolonialen Wende zurechnen, da die Welle postkolonialer Studien oftmals die koloniale Phase überbewerten würde (1999: 187). Im Unterschied zu Saids Zweiteilung in Ost und West sieht King in dem postkolonialen Diskurs eine Zweiteilung in Nord und Süd, in Erste und Dritte Welt, wobei allerdings die bipolaren Oppositionen ähnlich funktionierten wie die im orientalistischen Diskurs. Resultat sei, dass Verschiedenartigkeit in Oppositionen statt in pluralen Begriffen wahrgenommen wird. “Differences between cultures become fetishized at the same time as internal heterogeneities within each culture are effaced” (King 1999: 188).

Desgleichen verfügt jede Religion über eine interne Heterogenität, die von vielen Studien überdeckt wird. Es gibt somit keine Yoruba-Religion und keine Arrente-Religion, da die religiöse Erfahrung jedes Gläubigen individuell verschieden ist, abhängig von Geschlecht, Alter, sozialer Stellung und individuellen Lebenserfahrungen, wie bereits die feministische Kritik in den 1980er Jahren deutlich machte. Können Religionsethnologen da noch über fremde Religionen schreiben und deren Konzepte vorstellen? Während Asad Geertz vor allem deswegen kritisiert, weil Geertz nicht die politischen Machtverhältnisse in seinen Arbeiten berücksichtigt, impliziert Kings Kritik an den postkolonialen Studien, dass Asad durch seinen Fokus auf die politischen Machtstrukturen ebenfalls ein verfälschtes Bild der Religion liefere. King verweist am Ende seines Buches auf die Subaltern Studies, insbesondere auf Gayatri Chakravorty Spivak und ihren Artikel „Can the subaltern speak?“ (1988), in dem er einen Ausweg aus der Debatte um Repräsentation findet. Spivak argumentiert in ihrem Artikel, dass die Suche nach dem Subalternen die ethnozentrische Begrenztheit der westlichen Kritik am Humanismus verdeutlicht. Der Anti-Humanismus von Althusser und Foucault steht zwar in Opposition zum Fokus auf das unabhängige Subjekt, der den Westen seit der Aufklärung dominierte; kolonisierte Gruppen müssten allerdings zuerst die Strukturen der westlichen kolonialen Gewalt, die sie weiterhin unterdrücke, ablösen (King 1999: 192). Spivak, die von der indischen Diaspora aus spricht und keineswegs aus Indien, steht für eine wichtige Strömung in der Wissenschaftskritik, bietet aber kein konkretes Beispiel, wie sich die Religionsethnologie nun verändern soll. Auch King will mit seiner Übertragung der Orientalismus-Kritik auf die Religionsforschung diese keineswegs aufheben, sondern lediglich zum Nachdenken anregen.

Wichtige Impulse, die uns aus dem Zwangskäfig der postkolonialen Studien befreien können, erhält die Religionsethnologie derzeit aus der Peripherie. Ich sehe gerade in der dynamischen Wechselbeziehung, der Vermischung von Positionen und der steten Neupositionierung als Forscher und Forscherin, so wie bereits seit einiger Zeit von brasilianischen Ethnologen betrieben wird, einen Ausweg aus der Sackgasse der postkolonialen Kritik. Eduardo B. E. Viveiros de Castro beispielsweise zeigt in seiner Studie Araweté: Os deuses Canibais (auf Englisch unter dem Titel From the Enemy’s Point of View 1992 veröffentlicht) eine interessante Interpretation der Kosmologie von Indianern im Amazonasgebiet. Vor allem seine Idee vom Perspektivismus bietet eine faszinierende Erweiterung der Religionsethnologie. Viveiros de Castro definiert Perspektivismus als indigene Theorie, welche erklärt, wie Menschen Tiere und andere Wesen, die die Welt bereichern, wie beispielsweise Geister, Götter oder die Toten, wahrnehmen, aber auch umgekehrt, wie diese die Menschen und sich selbst wahrnehmen. So erklärt Viveiros de Castro, dass Tiere und andere Wesen sich als Menschen betrachten. Ihre innere Gestalt ist allerdings für andere verborgen, nur Schamanen können sie so sehen, wie sie sich selbst betrachten. Viveiros de Castro zeigt in seinem Buch, wie eine indigene Theorie aus Mythen und Kosmologien herausgearbeitet werden kann. Es handelt sich hier um ein Beispiel dafür, wie Religionsethnologie einen Beitrag zur theoretischen Debatte in der Ethnologie leisten kann, aber auch, dass es möglich ist, diese Theorie nicht auf der Grundlage westlicher Paradigmen, sondern anhand indigener Ideen zu entwickeln. Anstatt von oben eine hierarchische Perspektive zu indoktrinieren und Glaubensvorstellungen sowie -praktiken in ein europäisches System zu pressen, zeigt Viveiros de Castro, wie Religionsethnologie ihr kontextualisiertes Material nutzen kann, um indigene Konzepte zu entwickeln.

Einen in mancherlei Hinsicht vergleichbaren Ansatz vertritt Fritz Kramer in seinem Buch Der Rote Fes (1987), in dem er u. a. den Zar-Kult, aber auch andere Kunstformen in Afrika behandelt. Obwohl das Buch international nicht so berühmt wurde wie das Buch von Evans-Pritchard über die Zande-Hexerei, sind beide Werke dennoch vergleichbar, denn auch Kramer versucht, einem europäischen Publikum die innere Logik der so genannten Besessenheit zu erklären. Er beschreibt die Besessenheit durch Geister als eine Form der Kommunikation, einen Weg des Austauschs mit dem Anderen. Fremde Einflüsse werden über Geister in eine Kultur aufgenommen, wenn diese Teil des eigenen religiösen Systems werden. Kramer verweist in seiner Interpretation auf das Konzept passiones von Godfrey Lienhardt und meint, dass passiones genau das beschreibe, was in einem Gläubigen in der Phase der Besessenheit durch einen Geist stattfindet. Durch die Manifestation eines fremden Geistes wird das Konzept der Anderen in ein emisches Wesen transformiert. Die spirituellen Bilder von Fremden sind daher keine simplen Aufführungen. Ein Geist, der sich im Körper eines Gläubigen manifestiert, ist nach Kramer ein Abbild der passiones der Fremden. Fremde Geister sind also Fremde innerhalb der eigenen Kultur. Obgleich Kramer hier auf ein Konzept der europäischen Wissenschaft zurückgreift, um zu erklären, was bei einer religiösen Praktik geschieht, ist sein Versuch der Übersetzung ein faszinierender Beitrag zur Religionsethnologie und entspricht ebenfalls dem Ziel der Kontextualisierung von religiösen Vorstellungen.

Бесплатный фрагмент закончился.

1 993,31 ₽
Жанры и теги
Возрастное ограничение:
0+
Дата выхода на Литрес:
23 декабря 2023
Объем:
401 стр. 3 иллюстрации
ISBN:
9783496030027
Издатель:
Правообладатель:
Автор
Формат скачивания:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip