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Der Gegenstand der Religionsethnologie

Religionsethnologen müssen sich noch vor Beginn jeglicher Forschung die problematische Natur des Konzepts, das im Zentrum unseres Arbeitsgebietes steht, vergegenwärtigen, d. h. die Natur von Religion. „Religion“ ist ein Schlüsselwort in der modernen Gesellschaft, das „by millions of Western people as routinely as they use the words ‚politics‘ or ‚sex‘, and with an apparently effortless sense of its self-evident meaning“ verwendet wird (Braun 2000: 4). Aber „Religion“ ist ein Produkt europäischer Wissenschaften, das nicht in außereuropäische Sprachen übersetzt werden kann. Wenn wir uns die Quellentexte ansehen, erkennen wir, dass keiner der Religionsgründer gesagt hat, dass er oder sie eine „Religion“ gründet. Wie Max Charlesworth schreibt, „they spoke of a ‚revelation‘ or disclosure of the divine, or of a ‚Way‘ of belief and living, or of a ‚Law‘, or of the ‚spiritual life‘, or of a life of ‚perfection‘“ – aber nie von der Gründung einer Religion (1997: 1). Der Begriff „Religion“ enthält die irreführende Idee, dass „all the multifarious beliefs and practices and […] ‚phenomena‘ that we now call ‚religious‘, have something in common by reference to which we can define religion and clearly demarcate it from other areas of human life such as the realms of ethics, or art, or science“ (1997: 1). Leider verwenden wir nicht nur im Alltag den Begriff „Religion“ in vielfältiger Bedeutung, oftmals basierend auf einer sehr oberflächlichen Vorstellung von dem, was Religion sein kann. Wie Jonathan Z. Smith schreibt, ist es nicht das Problem, dass Religion nicht definiert werden könnte, sondern, dass sie mehr oder weniger erfolgreich öfter als fünfzig Mal definiert wurde (Smith 1982: 281). Religion ist daher für Jonathan Z. Smith lediglich eine Erfindung von Wissenschaftlern und hat keine unabhängige Existenz außerhalb der Wissenschaft (Smith 1982: XI). Willi Braun folgt dieser Kritik und argumentiert für eine Verwendung des Begriffs Religion als Konzept im technischen Sinne und „not as a substance that floats ‚out there‘, a something that might invade and enlighten us if we should only be fortunate as to have the right kind of receiving apparatus“ (Braun 2000: 9). Ausgehend von diesen Überlegungen muss eine Einführung in die Religionsethnologie mit der Entstehungsgeschichte des Religionsdiskurses an europäischen Universitäten beginnen.

Die Religionsethnologie entstand Mitte des 19. Jahrhunderts, zu einer Zeit, in der das Interesse an fremden Kulturen und Religionen in Europa wuchs. Bis ins 19. Jahrhundert wurden lediglich die drei monotheistischen Religionen in der Tradition Abrahams, d. h. Judentum, Christentum und Islam, als Religion bezeichnet. Alle anderen Vorstellungen galten als Aberglaube oder Magie, bis sich dann im 19. Jahrhundert die Denkweisen veränderten.

Die ersten Wissenschaftler waren stark von der Aufklärung beeinflusst, die vor allem auf den scheinbaren Fortschritt der menschlichen Zivilisation blickte. Wie Fiona Bowie betont, waren es die Philosophen der Aufklärung, die bereit waren, Traditionen abzulegen und existierende Autoritäten in Frage zu stellen (2000: 3). Jean-Jacques Rousseau (1712–1778), die führende Gestalt der Aufklärung, konstruiert das Modell des „noblen Wilden“, das die Ethnologie über Jahrhunderte inspirierte. Der französische Philosoph bewertete die „noblen Wilden“ höher als die Vertreter der „europäischen Zivilisation“, die er als degeneriert gegenüber dem ursprünglichen harmonischen kollektiven sozialen Leben betrachtet. Rousseau glaubte an die Erziehung als einzigen Weg im Kampf gegen soziale Ungleichheit, die er als Zeichen der Degeneration der europäischen Gesellschaften verurteilte. Beeinflusst von Rousseau widersprachen Ethnologen des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts, wie z. B. der Brite Sir Edward Burnett Tylor (1832–1917), den vorherrschenden Ideen ihrer Zeit. Zu Tylors Zeit glaubten die meisten Wissenschaftler, dass die menschliche Kultur auf einem relativ hohen Niveau entstanden sei, einige Kulturen degenerierten, während andere sich auf ein noch höheres Niveau entwickelten. In Bezug auf Religion wurde davon ausgegangen, dass die so genannten Wilden keine Religion hätten. Evans-Pritchard verweist beispielsweise auf Sir Samuel Baker, einen berühmten Entdecker der Viktorianischen Zeit, der in einem Vortrag vor der ethnologischen Gesellschaft in London 1866 behauptete, dass die Völker, die er in Afrika traf, keine Religion hätten, weder einen Glauben an einen Schöpfergott noch eine andere Form der Verehrung. Ihre Vorstellungswelt sei noch nicht einmal vom Aberglauben erhellt (Evans-Pritchard 1981: 38). Dieses Missverständnis lässt sich heute erklären mit der Unkenntnis von Sprache und Kultur der Völker. Die damaligen europäischen Reisenden suchten nach Bezugspunkten zu ihrer eigenen Kultur und verkannten daher alles, was fremdartig war. Und sogar wenn eine Kommunikation mittels einer Pidgin-Sprache zustande kam, war dies, wie Bowie betont, noch keine Garantie, dass die Bedeutung der Begriffe auch verständlich war (2000: 21). Evans-Pritchard warnte deshalb in seiner Vorlesung zur Religionsethnologie vor Behauptungen über Glaubensvorstellungen anderer Menschen und schrieb, dass sie nur mit Vorsicht aufgestellt werden sollten, da man es mit etwas zu tun habe, das nicht direkt beobachtet werden kann. Begriffe für Konzepte, Ideen und Vorstellungen von Religionen setzen eine große Sprachkompetenz sowie ein großes Verständnis der gesamten Ideensysteme, deren Bestandteil Religion ist, voraus und entzögen sich daher meist dem Verständnis (Evans-Pritchard 1981: 39). Das ist der Beginn der Religionsethnologie.

Gegenstand der Religionsethnologie waren ursprünglich fremdartige Glaubensvorstellungen. Es ging den ersten Religionsethnologen nicht um die Erforschung der eigenen Religion, sondern um die anderer Völker außerhalb Europas, die allerdings auf ein bestimmtes Ziel hin untersucht wurden. Die außereuropäischen Kulturen, z. B. in Afrika und Australien, wurden aus europäischer Sicht auf einer niedrigeren Stufe der Entwicklung der menschlichen Kultur eingeordnet. Im Unterschied zu Vertretern dieser Richtung, den so genannten Degeneristen, sahen Evolutionisten eine progressive Entwicklungslinie von den Kulturen auf der niedrigsten Stufe hin zu denen auf der höchsten. Evolutionisten wie Tylor und Spencer vertraten die Ansicht, dass sich alle Kulturen in die gleiche Richtung weiterentwickelten. Um etwa zu untersuchen, wie die früheren Stufen der europäischen Kultur funktioniert hatten, müsse man die Kulturen betrachten, die sich gegenwärtig auf einer niedrigeren Stufe befänden. Religionsethnologen dieser Zeit konstruierten ihren Gegenstand mit der Absicht, die Urgeschichte der eigenen Kultur zu untersuchen, allerdings nicht mit historischen, sondern mit ethnologischen Methoden. Tylor betonte immer wieder die Notwendigkeit, dass Ethnologen die Kulturen in den entlegensten Regionen erforschen sollten. Damit kritisierte er keineswegs die Unterdrückung der Völker, sondern verwies lediglich auf die Anpassung an die dominante europäische Kultur, die zum Verlust aller niedrigeren Kulturen führen werde. Seine Kritik richtete sich vor allem gegen Missionare, denen er vorwarf, mit den Schriften über ihre Missionsarbeit und über die Kulturen, bei denen sie meistens jahrelang lebten, ein verfälschendes Bild zu verbreiten.[2] Mit seiner Anklage gegen die Missionsschriften versuchte Tylor, den Weg für eine institutionalisierte Ethnologie zu ebnen, da er darauf bestand, dass nur ausgebildete Ethnologen die wirklichen Glaubensvorstellungen ermitteln könnten. Für Tylor war der Gegenstand der Religionsethnologie somit klar umrissen: Es ging um die Erforschung der Glaubensvorstellungen tribaler Völker, die sich auf einer niedrigen Entwicklungsstufe (erkennbar an ihrer materiellen Entwicklung) befanden. Tylor definierte Religion als den Glauben an spirituelle Wesen. Wenngleich er Religion lediglich als Survival früherer Entwicklungen betrachtete, als etwas das angesichts wissenschaftlicher Entdeckungen verschwinden würde, war es seiner Meinung nach dennoch wichtig, die Glaubensvorstellungen zu erforschen. Animismus, für Tylor die Religion auf der untersten Stufe der menschlichen Entwicklung, sei die erste bedeutende Theorie, die Menschen entwickelt hätten, und bis heute würden Reste davon in Europa verbreitet sein.[3] Auch wenn auf dem europäischen Kontinent die Ethnologie anfangs einen anderen Weg beschritten hat, wie ich im nächsten Kapitel ausführen werde, wurde auch hier der Gegenstand der Religionsethnologie ähnlich definiert. Religionsethnologen grenzten sich von Anfang an von Nachbardisziplinen ab, die sich auch mit Glaubenssystemen beschäftigen (vor allem von der Theologie) und plädierten für einen nachdrücklich „wissenschaftlichen“ (d. h. naturwissenschaftlichen) Ansatz. Sogar Wilhelm Schmidt (1868–1954), Priester des Missionsordens Societas Verbi Divini, betonte als Ethnologe stets die empirische Ausrichtung des Faches. Er widersprach der Übertragung des Evolutionismus auf menschliche Kulturen und versuchte mittels einer kulturhistorischen Methode, den Urmonotheismus empirisch nachzuweisen. Religion war für Schmidt in erster Linie Gottesglaube, den er als „Anerkennung eines oder mehrerer persönlicher über die irdischen und zeitlichen Verhältnisse herausragender Wesen“ beschrieb (Schmidt 1926: 5). Wie Tylor ging es auch Schmidt in der Forschung darum, die Vorstellungen der so genannten Wildbeuter- und Erntevölker, der Sammler und Jäger und der einfachen Bauern, die außerhalb Europas lebten, zu erkunden. Diese Ausgangshaltung kennzeichnete die Ethnologie jahrzehntelang. Obwohl sich die Definitionen änderten, und Religion anhand anderer Kennzeichen definiert wurde, blieb der Gegenstand ähnlich fernab der eigenen Lebenswelt. Claude Lévi-Strauss beschrieb in seinem berühmten Buch Traurige Tropen sehr deutlich den Schmerz angesichts des Verlusts der „kleinen“ Kulturen im Amazonasgebiet, ein Gefühl, das viele Religionsethnologen teilten.

Im Bestreben, den Gegenstand der Forschung eindeutig zu definieren, wurden verschiedene Wege beschritten. Viele Definitionen – wie auch Tylors Version – enthielten dabei eine unlogische Verkettung, denn eine Definition kann nicht auf einer Kategorie basieren, die ebenfalls eine Definition benötigt. In Tylors Fall bleibt die Definition von Religion ohne eine vorherige Definition von spirituellen Wesen unverständlich. Bei der Definition von Émile Durkheim (1858–1917) und auch anderen Kollegen ist das Adjektiv sakral bzw. heilig das entscheidende Wort, das eine eigene Definition benötigt. So ist Religion nach Durkheim ein vereinigendes Glaubenssystem von Praktiken, die in einem Verhältnis zu sakralen Dingen stehen, zu Dingen, die abgesondert sind. Spätere Studien haben aber deutlich gezeigt, dass in vielen Kulturen Religion keineswegs abgesondert ist, und dass damit eine Trennung in sakral und profan ebenfalls ein Konstrukt der europäischen Denkweisen ist. Obgleich Durkheim Tylors Vorgehensweise kritisierte und dessen substantielle Definition (eine Definition mit Bezug auf die Substanz des Glaubens) ablehnte, verschob er mit seiner Definition das Problem lediglich auf eine andere begriffliche Ebene: er ersetzte Religion durch sakral. Dennoch brachte Durkheim eine wichtige Neuerung in die Debatte, indem er Religion als soziales Faktum betrachtete, das Menschen zu einer Gemeinschaft verbindet. Er sah somit in der Funktion von Religion den zentralen Gegenstand unserer Forschung und verschob damit die Perspektive von substantiell zu funktional (siehe auch Hock 2006: 14, 16). Auch wenn seine Definition aufgrund des Verweises auf sakral Religion sui generis definiert, d. h. Religion für sich genommen betrachtet, gehören seine Arbeiten doch zu der anderen Kategorie von Definitionen, die Religion als Kennzeichen eines differenzierten Sets eines Phänomens (mit Ideen, Ritualen, Erfahrungen, Praktiken etc.) betrachten.

Als Meisterleistung in dieser Kategorie gilt bis heute die Definition von Clifford Geertz (1926–2006), der Religion als kulturelles System fest in der Ethnologie verankerte. Geertz definiert Religion in einem 1966 erstmals erschienenen Aufsatz als

„(1) ein Symbolsystem, das darauf zielt, (2) starke, umfassende und dauerhafte Stimmungen und Motivationen in den Menschen zu schaffen, (3) indem es Vorstellungen einer allgemeinen Seinsordnung formuliert, und (4) diese Vorstellungen mit einer solchen Aura von Faktizität umgibt, dass (5) die Stimmungen und Motivationen völlig der Wirklichkeit zu entsprechen scheinen“ (Geertz 1991: 48).

Geertz folgt somit einem symbolistischen Ansatz, der das untersucht, was Religion repräsentiert. Er definiert den Begriff in Beziehung auf zwei seiner Aspekte: Ethos und Weltauffassung, was auch seine Arbeit über den Islam (Islam Observed, 1968) verdeutlicht. Er zeigt darin, wie religiöses Verhalten (ausgedrückt im Ethos) mit religiösen Glaubensvorstellungen (ausgedrückt in der Weltauffassung) zusammenkommt. Hier liegt, wie Dan Merkur schreibt, ein besonderer Bereich der Religionsforschung vor, da jede religiöse Person im Spannungsbereich zwischen Ethos und Weltbild lebt, d. h. im Spannungsbereich zwischen dem, wie jemand lebt, und dem, wie jemand nach den religiösen Vorstellungen leben sollte. Jede Beschreibung einer lebenden Religion muss diese Spannung einfangen (Merkur 1998: 81).

Talal Asad, Vertreter der postkolonialen Religionsethnologie, geht einen anderen Weg in seiner Kritik an Geertz und dessen Definition und beanstandet vor allem dessen Methode. Geertz beschreibt beispielsweise das Vorgehen der Religionsethnologie anhand zweier Stufen: „erstens eine Erforschung der Bedeutungssysteme, wie sie sich in den Symbolen materialisieren, die die eigentliche Religion ausmachen; und zweitens das Inbeziehungsetzen dieser Systeme mit soziokulturellen und psychologischen Prozessen“ (1991: 94). Wie Asad kritisiert, können wir aber religiöse Symbole nicht von nichtreligiösen Symbolen trennen, weil religiöse Symbole gar nicht unabhängig von ihren historischen Beziehungen zu nichtreligiösen Symbolen oder zu anderen Artikulationen des sozialen Lebens verstehbar sind; religiöse Symbole können somit nicht von Machtfragen abgelöst verstanden werden (Asad 1993: 53). Obwohl Asad an dieser Stelle Geertz kritisiert, weist seine Kritik auf einen zentralen Aspekt aller Definitionen von Religion hin. Asad fragt beispielsweise: Wenn religiöse Symbole als Träger von Bedeutung betrachtet werden, kann dann solch eine Bedeutung unabhängig von der Lebensweise etabliert werden? Oder einfacher formuliert: Ist es möglich, religiöse Symbole zu verstehen, ohne sie in Bezug zum Alltag der Gläubigen zu setzen? Religion ist, wie Asad in seinem Buch deutlich darstellt, eine historische Kategorie, die im Westen entstand, nun aber als universelle Kategorie verwendet wurde und wird. Ethnologen wie Geertz, die Religion als abstraktes und universelles System betrachten, vergessen laut Asad, dass Religion mit der christlich-europäischen Geschichte verbunden ist und daher übertragen auf andere Kontexte keine Bedeutung hat.[4]

Definition an sich ist ein historisches Produkt bestimmter diskursiver Prozesse (Asad 1993: 29) und deshalb nur bedingt auf andere Kontexte übertragbar, wie sich in der Religionsethnologie immer wieder zeigt. Nicht nur bei der Definition von Religion, sondern auch bei speziellen Phänomenen werden wir mit diesem Problem der diskursiven Machtposition konfrontiert. Totemismus oder Schamanismus sind beispielsweise Konzepte bestimmter Kulturen, die im Verlauf der Wissenschaftsentwicklung abstrahiert, generalisiert und dann auf andere Kulturen übertragen wurden. Sie wurden dadurch mit bestimmten Bedeutungen versehen, die nicht in allen Kontexten einen Sinn haben, aber dennoch weiterhin verwendet werden, da ihre Bedeutung normativ wurde. Religionen und religiöse Phänomene sollten aber stets im historischen und kulturellen Kontext untersucht und behandelt werden und nicht als normative Kategorie.

Was ist also der Gegenstand der Religionsethnologie heute, wenn wir Religion nicht als westliche Kategorie auffassen sollen? Viele Definitionen wurden kritisiert, weil sie zu weit gefasst seien und sogar profane Weltanschauungen wie Marxismus und Kapitalismus einbeziehen würden. Andere wurden kritisiert, weil sie sich zu eng an den monotheistischen Religionen orientieren und nicht-theistische Systeme ausschließen. Es ist nicht möglich, eine Religionsdefinition zu finden, die von allen akzeptiert wird. Und das ist in der Religionsethnologie auch gar nicht notwendig. Außerhalb der Wissenschaft verlangen bestimmte gesellschaftliche Notwendigkeiten, dass Religion eine normative Kategorie wird. Wenn beispielsweise ein Gesetz einer Landesverfassung das Wort Religion enthält, muss dieses auch klar definiert sein. Das sind aber lediglich Zweckdefinitionen, die in einem bestimmten Kontext ihre Bedeutung erhalten. Die religionsethnologische Forschung arbeitet anders.

Karen McCarthy Brown veröffentlichte 1991 die Biografie einer haitianischen Vodou-Priesterin in Brooklyn, der sie den Namen Mama Lola gab (auch gleichzeitig der Titel des Buches).[5] Ich habe beide Frauen 1999 in New York kennengelernt und war von ihnen sehr beeindruckt. Brown beschreibt in dieser Monografie wie auch in ihren weiteren zahlreichen Veröffentlichungen ein System von Glaubensvorstellungen und Praktiken, so wie es ihr von einer bestimmten Priesterin erklärt, gelehrt und auch gezeigt wurde. Mama Lola (ich verwende weiterhin ihr Pseudonym, obgleich ihr richtiger Name in New York seit langem allseits bekannt ist) bezeichnet sich allerdings als Katholikin, denn es ist für sie kein Widerspruch, etwas zu sein und etwas anderes zu praktizieren. Der Katholizismus ist in Haiti ein Teil von Vodou, wenngleich das Hotel in Benin von einem katholischen Priester exorziert wurde, nachdem Mama Lola sich dort während eines Kongresses einige Tage aufgehalten hatte (so wurde mir berichtet). Das Buch basiert auf der Beziehung zwischen den beiden Frauen und auf der Offenheit, die zwischen ihnen herrscht. Brown beschreibt einfühlsam eine faszinierende Frau, kein schier übernatürliches Wesen wie eine Heilige, sondern eine lebendige Person mit einer ambivalenten Vergangenheit und Charakterfehlern. Vodou wird dadurch zu einem sehr persönlichen Glaubenssystem. Indem Brown die diversen Aufgaben und Praktiken der Priesterin beschreibt und sie auf ihren Reisen nach Haiti begleitet, wird gleichzeitig deutlich, dass es sich hierbei auch um eine Migrationsgeschichte und somit um ein Porträt der haitianischen Diaspora handelt. James Clifford bezeichnet die Arbeit als Paradebeispiel der neuen ethnologischen Methode. Er beschreibt diese Forschung als multiply located, vielfach verortet, da die ethnografische Arbeit nicht allein an einem Ort, sondern vielmehr innerhalb einer zwischenmenschlichen Beziehung lokalisiert ist. Browns Feldforschung umfasste Beobachtungen, Gespräche und Unterweisungen, aber vor allem entstand sie auf der Basis der Freundschaft zu der Priesterin (Clifford 1997: 189). Bei dieser Form von Forschung ist die Frage, was denn nun Religion sei, bedeutungslos. Gegenstand der neuen Religionsethnologie sind Systeme von Glaubensvorstellungen und Praktiken, die eine Bedeutung für eine bestimmte Gruppe, in einem bestimmten historischen und kulturellen Kontext haben.

Folglich schließt die Religionsethnologie heute keine Glaubensvorstellungen mehr aus. Evans-Pritchard hatte 1965 noch geklagt, dass Kollegen einiger Nachbardisziplinen – er führte Theologen, Klassische Altertumswissenschaftler, Judaistiker und Religionswissenschaftler an – die so genannten Naturreligionen als unwichtig erachten und auf Ethnologen herabsehen, da „wir keine schriftlichen Überlieferungen haben“ (1981: 34). Er begrenzte somit die Religionsethnologie auf das Studium schriftloser Völker, während so genannte Offenbarungsreligionen in das Aufgabengebiet anderer Fächer fielen, wobei er allerdings festhielt, dass „die Voraussetzung zum Verständnis des Wesens der Offenbarungsreligionen das Verständnis der sogenannten Naturreligionen ist“ (1981: 33). Dieser Gegensatz gilt nicht mehr, lediglich der Ansatz ist unterschiedlich. Richard Gombrich beispielsweise, Professor Emeritus für Sanskrit an der University of Oxford, bezeichnet sich mitunter auch als Ethnologe, vor allem wenn er über den sri-lankischen Buddhismus spricht, denn dann analysiert er nicht mehr Sanskrit-Texte, sondern spricht über die Praktiken in einem Kloster in Sri Lanka, die er beobachten und studieren konnte. Während er als Indologe Texte studiert und textkritisch arbeitet, wendet er als Ethnologe ethnografische Methoden an, vor allem Interviews und teilnehmende Beobachtung unter den Gläubigen in Sri Lanka. Ein anderes Buch, das die Religionsethnologie ebenfalls sehr bereichert hat, ist die Publikation von Lynn Bennett über Hindu-Frauen in Nepal (1983). Es ist, wie David Gellner in einem Review-Artikel lobt, ein bereits klassisches Buch über den Göttin-Kult und dessen Bedeutung für Frauen, das mit einer ethnografischen Methode Hinduismus darstellt (Gellner 2004). Wie in Islam Observed von Geertz geht es in diesem Buch von Bennett nicht um die Darstellung der zentralen Dogmen des Hinduismus oder der Religionsgeschichte. Vielmehr stehen die Bewohner eines Dorfes, in dem sie gelebt hat, im Mittelpunkt. Es geht im weiteren Verlauf des Buches um individuelle Frauen dieses Dorfes und ihre sozialen Rollen. Bennett beschreibt sehr deutlich, dass es nicht möglich ist, die Frauen abgelöst von der Hindu-Kultur zu verstehen, so dass sie in den ersten Kapiteln zuerst den Rahmen behandelt und die Hindu-Kultur vorstellt. Ausgangspunkt ist ihre eigene Position in Nepal, denn sie schrieb ihre Monografie auf der Basis einer zehn Jahre langen Vertrautheit mit den Dorfbewohnern. Obgleich das Buch noch nicht von den postkolonialen Studien späterer Jahre beeinflusst ist, deutet sich hier bereits ein Wechsel in der religionsethnologischen Forschung an, auf den ich später, im Kapitel über die Bedeutung der Feldforschung, noch genauer eingehen werde. Bennett präsentiert den Hinduismus durch die Perspektive der Frauen und verdeutlicht, wie stark ihre sozialen Rollen durch den Hinduismus geprägt sind und wie stark der Kult einer Göttin sie beeinflusst.

Heute ist eine solche Verfahrensweise zwar noch nicht Standard, wird aber doch immer üblicher.[6] Ethnologen untersuchen Glaubenssysteme und deren Praktiken, um etwas über die Kultur und die sozialen Rollen der Kulturträger zu lernen. Das ist das Besondere an religionsethnologischer Forschung: die Untersuchung von Einzelfällen und von Beziehungen innerhalb neuer, globaler Zusammenhänge. Der Gegenstand der Religionsethnologie sind heute somit schon lange nicht mehr ausschließlich indigene oder autochthone Religionen (Kohl 1988). Heute geht es um religiöse Praktiken und Glaubenssysteme und die Art und Weise, wie sie Kulturen und Menschen prägen und verändern, sei es in Hermannsburg in Australien, in Yogyakarta in Indonesien oder in Brooklyn in New York. Eine Frage allerdings sollte nicht in der Religions-ethnologie beantwortet werden: Die Frage nach der Wahrheit. Raymond Firth weist uns in diesem Punkt den Weg:

“To a humanist such as myself, religion is not a set of truths about the divine or transcendent. The idea of revelation from on high is an illusion – every religion has its own different revelation. But to me as an anthropologist, each religion, even that which may appear to be intellectually not very sophisticated, contains some explanatory ideas about the world, some rituals as guides to conduct, serving as patterns for human relationships. Therefore I would argue that there is a truth in every religion” (Firth 2004: 215).

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Дата выхода на Литрес:
23 декабря 2023
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401 стр. 3 иллюстрации
ISBN:
9783496030027
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