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Charakteristisch bezeugen Girnus’ Ausführungen den stalinistischen Geist in der Kunstdebatte jener Jahre. Der Künstler Barlach ließ allen Optimismus vermissen und war folglich untragbar für die glorreiche Neue Zeit. Ihm fehlte das Positive, Konstruktive.

Uwe Johnson hat im Abschlußband der Jahrestage direkt auf die zitierte Girnus-Passage Bezug genommen. Das geschah mit zahlreichen wörtlichen Übernahmen und einem Verweis auf Stalin, so daß der Leser meinen kann, der Woschd selbst spräche, wo in Wahrheit lediglich Wilhelm Girnus zitierend zum Sprechen gebracht wird:

Die S.E.D. hatte ihren Sachbearbeiter für Kunst entsandt in die Akademie, einen Girnus, wohlbewandert in den volksfeindlichen Praktiken des Formalismus, der wollte dem Verstorbenen wenigstens zugute halten, daß die Nazis ihn behandelt hatten als ihrer Art fremd. Aber Barlach habe auf verlorenem Posten gestanden, ein im Grundzug rückwärts gewandter Künstler sei er gewesen. Unberührt vom Hauch der russischen Revolution von 1906. Bekleidete eine Welt der »Barfüßler« mit einem Glorienschein. Was hingegen hat Stalin in seinem Werk »Anarchismus oder Sozialismus« über diese Welt der »Barfüßler« gesagt? Er hat erwidert: Richtig ist, daß ... Barlachs Orientierung auf eine verfaulende Gesellschaftsschicht hat ihm den Zugang zu dem großen progressiven Strom des deutschen Volkes verschlossen. Von ihm sich isoliert. Das das ganze Geheimnis seiner selbstgewählten Vereinsamung. (Jahrestage, S. 181)

Die paraphrasierende Genauigkeit der Wiedergabe zeigt, wie sehr hier einem das Gedächtnis geschärft war durch große Verletzung. Denn nichts deutet daraufhin, daß Uwe Johnson den Girnus-Artikel aufbewahrt hätte.

Was der Abiturient wohl nicht kannte, war die von Brechts Autorität getragene Gegenposition, wenngleich deren Argumente zugunsten Ernst Barlachs, mit erheblicher Verzögerung freilich, 1952 in Sinn und Form (4. Jg., Heft 1) veröffentlicht worden waren:

Ich halte Barlach für einen der größten Bildhauer, die wir Deutschen gehabt haben. Der Wurf, die Bedeutung der Aussage, das handwerkliche Ingenium, Schönheit ohne Beschönigung, Größe ohne Gerecktheit, Harmonie ohne Glätte, Lebenskraft ohne Brutalität machen Barlachs Plastiken zu Meisterwerken. [...] Auch einige seiner schönsten Werke erwecken den traurigen Gedanken an die deutsche Misere, die unsere Künste so geschädigt hat. (ebd., S. 182 ff.)

Nicht zuletzt die Tatsache, daß Güstrower Schüler in den Jahren 1951 und 1952 an Material wie dem zitierten für ihr Abitur haben lernen müssen, wurde Uwe Johnson zum Schreibantrieb für die uns bekannte, deutlich politisierte Fassung der Babendererde. Und nicht nur hierfür: Da der Erstling zu seinen Lebzeiten nicht veröffentlicht wurde, wird er im Abschlußband der Jahrestage die Schulgeschichte noch einmal neu und anders schreiben. Sie wird dann vollends zeigen, daß in der Güstrower Abiturs-Realität von 1952 es paradoxerweise jene leichter hatten, die zuvor schon von den Nazis indoktriniert worden waren.

DER ABITURAUFSATZ: VON LENIN ÜBER SHDANOW UND

LUKÁCS BIS ZU WALTER ULBRICHT

Folgende deutschlandpolitische Situation stellte den Hintergrund für Johnsons Abituraufsatz: Im März 1952 waren die sowjetischen Vorschläge zu Friedensverhandlungen für ein wiedervereinigtes Deutschland von den Westmächten zurückgewiesen worden. Der Abiturient Johnson verfolgte den Fortschritt bzw. Nicht-Fortschritt dieser Verhandlungen. Las, wie er in den Begleitumständen berichten wird, fiebrig Zeitung. Die Bundesrepublik hatte im gleichen Monat Mai (der also auch deutschlandpolitisch ein heißer war) den Deutschlandvertrag abgeschlossen, mithin ihren Beitritt zur Nato erklärt. Was bedeutete, daß die SED nun ihrerseits die eigenständige Entwicklung der DDR im Sinne eines eigenständigen sozialistischen Staates forcierte. Johnsons Reifeprüfung fiel zudem in die Vorbereitungsphase zur 2. Parteikonferenz der SED im Juli 1952. Dort wurde die neue Politik in Richtlinien gefaßt und der planmäßige Aufbau des Sozialismus mitsamt der Kollektivierung der Landwirtschaft und des verstärkten Ausbaus der Schwerindustrie beschlossen. Ferner auch der »verschärfte Klassenkampf« gegen die Kirchen und ihre Organisationen. Als weitere Gegner wurden der bürgerliche Mittelstand und dessen Intellektuelle namhaft gemacht. Schulen und Hochschulen beanspruchte die Staatspartei jetzt verstärkt als die Gelenkstellen der von ihr gewünschten Ideologievermittlung. Dabei kam selbstverständlich der FDJ eine zentrale Rolle zu. Bis 1953 sollten alle diese Beschlüsse verwirklicht sein. Der Student Johnson wird ihnen in Rostock erneut begegnen.

Im Mai 1952 schrieb Uwe Johnson seinen Abituraufsatz, und möglicherweise siedelt der Reifeprüfungsroman Ingrid Babendererde das Abitur in memoriam realitatis just in der Woche zwischen dem 26. und dem 30. Mai an. Die Themenstellung zielte aufs Eigentliche und lautete: Die Kunst gehört dem Volke. Sie muß ihre tiefsten Wurzeln in den breiten schaffenden Massen haben. Sie muß von diesen verstanden und geliebt werden. Sie muß sie in ihrem Fühlen, Denken und Wollen verbinden und emporheben. Sie muß Künstler in ihnen erwecken und entwickeln (Lenin). Unverblümt verpflichtete das Lenin-Motto zu einer Stellungnahme gegen den »Formalismus« und »Kosmopolitismus« in der Kunst. Darüber hinaus sollte der Aufsatz sich auf die aktuelle kulturpolitische und überhaupt politische Lage der DDR beziehen. Der Abiturient Johnson fertigte, wie es sich gehört, dazu eine »Disposition«, gewidmet der »Lage der Kunst in der DDR«. Die »Ausführung« dann griff das vorgegebene Lenin-Zitat auf, indem sie es durch Absätze unterteilte in die Aspekte 1. Volkstümlichkeit, 2. Notwendigkeit positiver Perspektive und 3. gewünschte Erweckung schöpferischer Fähigkeiten bei den Massen. Als »Schluß« fragte der Schüler rhetorisch: »Welche Aufgaben ergeben sich aus diesen Forderungen für unseren Kampf um eine realistische deutsche Kunst?« Um dann die geforderte Parteilichkeit unter Beweis zu stellen. Diese erschien ihrerseits sorgfältig gegliedert: »Erstens«, »Zweitens«, »Drittens« und »Viertens«. Auf die Analyse der Wirklichkeit habe die Aneignung des »Erbes« zu folgen. Darauf das Studium der »Volkskunst« und dann, viertens und apotheotisch abschließend, das Studium der Kunst in der »sozialistischen Sowjetunion [...], die es in vorbildlichem Maße versteht, die Menschen für den Aufbau und Schutz ihrer Heimat zu begeistern«.

Johnsons Aufsatz war gleichsam als ein doppelter angelegt. Er enthält eine Anzahl von Klammern, die ihrerseits, je nachdem, ob man ihren Inhalt nun mitliest oder nicht, zwei verschiedene Textfassungen ergeben. Beide Versionen erweisen sich dabei in syntaktischer sowohl wie in grammatikalischer Hinsicht als vollständig und »richtig«. Wie der fast 18jährige diese beiden Texte ineinander gearbeitet hat, zeigt seine Sprachbeherrschung. Ein Beispiel:

Jede dieser beiden Richtungen behauptet, (die) schöpferisch(e) zu sein. Kann eine Kunst, die (eine Kraft der) Kriegshetze und (der) Unterdrückung freien Menschentums unterstützt, auch nur im mindesten Anspruch darauf erheben, schöpferisch zu sein?

Schülerhaft scheint daran allenfalls noch, daß diese Sprachbeherrschung auf solche Weise demonstriert werden sollte – zumal beide Textversionen in ihrer Aussage kongruent sind.

Der Abiturient Johnson berief sich nicht ausschließlich auf Lenin. Sondern weiterhin auch auf Stalins Hauptfachmann in aestheticis, Alexej Shdanow, den Erfinder jenes goldenen Wortes, dem zufolge man im Dichter einen »Ingenieur der menschlichen Seele« zu erblicken habe. Shdanows Schrift »Über Kunst und Wissenschaft« war gerade 1951 in einer Massenauflage erschienen. Der Band enthielt zwar alte Texte, entstanden bereits zwischen 1934 und 1948, gleichwohl markierte sein Erscheinen die Übernahme der stalinistischen Kunstbetrachtung durch die Führung der DDR. Weiterhin lag seit demselben Jahr die Sammlung von Äußerungen zu Kunst und Literatur von Marx und Engels (in der Babendererde wird die DDR in karikierender Anlehnung an die Physiognomie dieser beiden das »Land der Bärtigen« geheißen) im Aufbau-Verlag vor. Johnsons einleitende Anrufung des Alexej Shdanow glich einer quasireligiösen Eröffnung. Er stellte seinen Tribut an die große Sowjetunion dar, die den Faschismus besiegt hatte, war aber keineswegs nur als Taktik eines Schülers zu verstehen, der das Abitur gut bestehen wollte. Der vormalige »Jungmann« Uwe Johnson kannte Shdanows Kunstkonzept in dessen Mischung aus »Volkstümlichkeit« und Widerstand gegen den »kosmopolitischen Formalismus« ja eigentlich bereits, stimmte es doch wesentlich mit dem überein, was er einst in der »Heimschule« gelernt hatte.

Der Abituraufsatzschreiber wandte sich in seiner »Einleitung« dann dem zu, was er die DDR-deutsche »realistische Kunst als Teil des Überbaus« nannte. Dabei fallen die Namen Becher, Brecht, Seghers, Willi Bredel und Friedrich Wolf, wobei die Reihung nicht alphabetisch gehalten ist, was wiederum auf eine Rangfolge in der damaligen Wertschätzung dieser Künstler durch den Schreibenden selbst hindeuten mag. Daneben verweist die Auswahl dieser Namen (und vor allem auch die Nennung von Stephan Hermlins Manfelder Oratorium) darauf, daß im Unterricht der Text der Zentralkomitee-Entschließung zum »Kampf gegen den Formalismus in Kunst und Literatur, für eine fortschrittliche deutsche Kultur« eine Rolle gespielt haben muß. Auch am Zustandekommen dieses vom Zentralkomitee am 17. März 1951 verabschiedeten Dokumentes hatte Girnus »verdienstvoll« mitgewirkt. Es lautete:

Kulturelle Erfolge in der Deutschen Demokratischen Republik.

Das Zentralkomitee der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands stellt fest, daß in der Deutschen Demokratischen Republik auch auf dem Gebiet der Kunst und Literatur Leistungen erzielt wurden, auf die alle fortschrittlichen Deutschen mit Recht stolz sind. Dazu gehören die Werke der Schriftsteller und Dichter Arnold Zweig, Johannes R. Becher, Bertolt Brecht, Anna Seghers, Bernhard Kellermann, Friedrich Wolf und Willi Bredel, Erich Weinert, Hans Marchwitza, Bodo Uhse, Stephan Hermlin, Kurt Bartel (Kuba), Alfred Kantorowicz, die während der Emigration oder nach 1945 geschrieben und in den letzten Jahren veröffentlicht wurden. Diese Werke haben an der Bewußtseinsänderung des deutschen Volkes einen bedeutenden Anteil. [...] Mit dem Mansfelder Oratorium haben seine Schöpfer ein Werk geschaffen, das einen besonderen Platz im kulturellen Leben in der Deutschen Demokratischen Republik einnimmt.

Auch das hatten die Schüler also lernen müssen. Daher rühren die von Johnson genannten Namen. Weiterhin hatten Johnson wie seine Mitabiturienten gelernt, daß man sich für den Kampf gegen den »Formalismus« am besten jenes kanonisierten Engels-Ausspruches bediente, der lautete: »Realismus bedeutet, meines Erachtens, außer der Treue des Details die getreue Wiedergabe typischer Charaktere unter typischen Umständen.« (Engels an Margaret Harkness, April 1888) Bei Engels schien andererseits aber nicht angelegt, was die faschistische und die »marxistische« Kunstanschauung in der Argumentation zusammenführte: der Vorwurf nämlich, daß der »kosmopolitische Formalismus« »zersetzend« wirke. Der Ausdruck »zersetzen« findet sich in einem ZK-Beschluß (»Der Formalismus bedeutet Zersetzung und Zerstörung der Kunst selbst«) ebenso wie in Johnsons Aufsatz. Letzterer schreibt vom »Kampf zwischen der zersetzenden, antinationalen Kunst des Imperialismus und der [...] Kunst des Fortschritts«. Mit der durchaus systematischen Zusammenkopplung von Kosmopolitismus und Formalismus aber befand man sich nicht weit vom Vorwurf entfernt, daß es eine jüdische Internationale sei, die alle nationale, völkische bzw. volksverbundene Kunst zersetze. Im Rückblick der Begleitumstände hat Johnson, mit Erbitterung wiederum, an die antisemitischen Untertöne dieser Kampagne erinnert. Im Abituraufsatz lesen wir:

Wenn wir uns diese unsere Ziele vor Augen führen und sie gründlich durchdenken, dann erst erkennen wir die ungeheure Bedeutung des Kampfes gegen Formalismus und Kosmopolitismus, diese beiden reaktionärsten und volksfeindlichsten Strömungen im Kulturleben des Westens. Diese Kunst ist ein Instrument der imperialistischen und kriegshetzerischen Bestrebungen der Feinde der Menschheit. Der Formalismus verzerrt durch Überbetonung formaler Dinge die seit jeher gültigen Gesetze der Ästhetik. Er verwirrt die Menschen, vernichtet ihr gesundes Empfinden und hat das Ziel, sie unter den Einfluß des amerikanischen Imperialismus zu bringen. Der Kosmopolitismus, das »Weltbürgertum« soll den Begriff der Nation vernichten und damit die nationale Eigenart der Völker unterdrücken. Die USA-Imperialisten hoffen sich eines nicht in Nationen gegliederten Europa leichter bemächtigen zu können. [...] Der selbstverständliche Ton des Satzes »Die Kunst gehört dem Volke« ist durchaus begründet. Hier wird etwas Richtiges und von jeher Natürliches ausgesprochen und in das wahre und richtige Licht gestellt. Gerade aus der Tiefe des Volkes entstanden in der deutschen Vergangenheit die schönsten und reinsten Werke deutschen Wesens und Volkstums.

Der vormalige »Jungmann« und seine Lehrer hatten in ihrer »Neuen Schule« nicht viel Neues lernen müssen. Im Zeichen des Antimodernismus und des National-»Volksverbundenen« erscheinen die beiden Totalitarismen einander zum Verwechseln ähnlich – gerade in ihrem Nachdenken über die Kunst. Und dennoch versprach der sich etablierende Sozialismus, die Verbrechen der Nazis wiedergutzumachen. Beides in seinem widersprüchlichen Miteinander erleichterte für so manchen Überbauarbeiter den Übergang.

Der Abiturient Johnson fuhr sehr nah am Originalton eines Kulturschutzbundobmannes fort:

Ob wir hier noch die widerlichen Auswüchse des Jazz, die entwürdigenden Auswirkungen der Schmutzliteratur oder anderes erwähnen –: Es ist eine der vordringlichsten Pflichten aller deutschen Kulturschaffenden und kulturbewußten Deutschen, für die Reinhaltung und Natürlichkeit unserer deutschen Kunst zu kämpfen, damit sie »von den Massen verstanden und geliebt« wird.

Was, im Fall des Jazz, beim Abiturienten Johnson tatsächlich noch eigener Überzeugung, was bereits bloßer Taktik entsprang, ist heute nur sehr schwer unterscheidbar. Um so weniger, als der Schüler gleich nach bestandenem Abitur in seinen Gedichten den Jazz frenetisch feiern wird. Gegen den Jazz stand, jedenfalls im Frühjahr 1952, das Gemeinschaftslied. Für dieses schwärmte Uwe Johnson, der Abiturient:

Es gibt so eine Art geniale Überheblichkeit, die ein schönes Volkslied mit der verächtlichen Bezeichnung »momentane geniale Improvisation« abtut. Hieraus entwickelt sich dann die (absolut) exklusive Schicht der Kulturschaffenden, die individualistischen und, da die Verbindung zum Volk fehlt, idealistischen Bestrebungen und Zügen freien Lauf läßt. Jede Tendenz dieser Art müssen wir entschieden bekämpfen. Gerade im Volk liegen die kräftigsten und schöpferischsten Impulse, die es für die Entwicklung unserer Kunst auszunutzen gilt. Darum müssen wir die Bewegung der Laienkunst stärken, damit der Zusammenhang, die Verbindung der Kunst mit dem Leben des Volkes gewahrt und gefestigt wird.

Dank eines glücklichen Fundes läßt sich die unmittelbare Quelle der Themenstellung für den Abituraufsatz benennen. Es war kein Geringerer als der »kalte Walter«, so Wolf Biermann, selbst. Der themenstellende Lehrer hatte die Ausführungen des Staatschefs Walter Ulbricht dem Neuen Deutschland vom 31. Oktober und 1. November 1951 direkt entnommen. Aus Ulbricht sprach der Kleinbürger, der sich als Revolutionär verstand. Der wandte sich wie selbstverständlich gegen jede – so wörtlich: »entartete« Kunst. Walter Ulbricht auch war es gewesen, der auf dem Formalismus-Plenum des Zentralkomitees, als Otto Nagel attackierte Malerkollegen verteidigte, arglos und mit augenzwinkernder List gefragt hatte: »Gab es nicht auch vor Hitler Entartete?«

Ulbricht forderte, sich auf Lenin berufend, ein volksverbunden-realistisches »Gestalten«. Das sollte das Leben schöner machen und »die Helden unseres Volkes so realistisch (darstellen), daß sie jeder Jugendliche als sein Vorbild betrachtet«. Der Jugendliche Uwe Johnson singularisierte in seinem Abituraufsatz dann die Helden des Volkes zum »Mechaniker Schulz von der Warnow-Werft«. Man sieht: Die Lehrerschaft war bei den Abiturvorbereitungen kein Risiko eingegangen. Die Schüler hatten die Ansichten des Staatschefs geradezu auswendig lernen müssen. Hatte der spitzbärtige Staatschef gemeint:

Wir brauchen weder die Bilder von Mondlandschaften noch von faulen Fischen und ähnliches,

so traf der Abiturient den gewünschten Tonfall genau, wenn er seinerseits formulierte:

Es entstehen dort Bilder von Mondlandschaften und faulen Fischen, jedoch keine, die den Aufbau und den Friedenskampf der DDR zum Gegenstand haben.

Hier scheint sich ein Paradefall des kleinbürgerlichen Kommunismus in Sachen der modernen Kunst zu artikulieren. Noch Ernst oder schon Ironie? Wie hat er ausgeführt, wissend, was seine Lehrer lesen wollten?

Die Kunst hat doch als höchsten Zweck die Aufgabe, den Menschen Freude und neue Kraft zu schenken. Hierzu steht in aufreizendem Gegensatz die Tatsache, daß wir oft in Gemäldeausstellungen vor einem Bild stehen und es für eine Darstellung besonders merkwürdig geformter Kartoffeln halten; nachher hieß das Bild dann »Interpretation des Nietzscheschen Übermenschen«. Interessant ist in diesem Zusammenhang der widerliche Zynismus Westberliner Zeitungen, die den Vorschlag machen, die von Dissonanzen und Atonalität strotzenden Werke Strawinskys dem Publikum doch zehnmal vorzuführen, dann werde es sich schon daran gewöhnen.

Anzeichen ironisierenden Umschreibens offizieller Forderungen, wie sie sich wenig später in den Rostocker Klausuren finden werden, fehlen hier noch zur Gänze. Des weiteren wird Uwe Johnsons damals noch gewünschte Verbundenheit mit der Gemeinschaft seine Einstellung bestimmt haben. Walter Ulbricht lobte gleichfalls die »Laienkunst« und das ihr entspringende Lied. Der Abiturient immerhin, dem der Chor unter Kurt Hoppenrath – wie erwähnt – als die einzige wahre Gemeinschaft an der John-Brinckman-Schule erschien, korrigierte hierin seinen Staatschef, nannte das »Chor- und Volkslied« anstelle des »Massenliedes«.

Am 3. Juni 1952 erhielt der Abiturient Uwe Johnson sein Zeugnis: »Uwe Johnson hat sehr gute Leistungen in Deutsch« erbracht. Bis fast zur Unleserlichkeit durchgestrichen wurde irgendwann später ein anderer Passus dieser Beurteilung, der dem Schulabgänger bescheinigt: Er »überragt die Leistungen der übrigen Schüler«. Der als ein Primus begonnen hatte, schloß seine Schule als ein solcher ab.

II.
VON WARNOW UND PLEISSE BIS AN DIE SPREE
ERSTES KAPITEL
EINE AUFNAHMEARBEIT UND EIN LYRISCHES INTERMEZZO

_____________

DER ABITURIENT ALS ANGEHENDER STUDENT

Uwe Johnson hat unter dem 25. Mai 1952 eine Arbeit über ein aktuelles Allgemeininteresse, das in Beziehung zu dem künftigen Beruf steht, abgefaßt und an seine künftige Universität Rostock gesandt. Das geschah unmittelbar nach seinem Abitur. Der Text war handschriftlich, sehr lesbar und übersichtlich gehalten. Er handelte über Arnold Zweigs Der große Krieg der weißen Männer. Hier schrieb der angehende Student übrigens noch, was sich mit der ersten Klausur während des Studiums für immer ändern wird, das ß anstelle eines durchgehenden Doppel-s. Johnsons Denken zeigt sich noch weitgehend geprägt durch den »marxistisch« orthodoxen Deutschunterricht. Für Lukács’ Konzept ebenso wie für den Kampf der SED gegen den »Formalismus« war Arnold Zweig ein wichtiger Autor – einer, der als vormals bürgerlicher Intellektueller zu den Kräften des Fortschritts gefunden hatte.

Georg Lukács hatte seine Einschätzung Zweigs zuerst 1945 in der Internationalen Literatur Nr. 3, dann im selben Jahr in einer Buchveröffentlichung im Aufbau-Verlag zum Ausdruck gebracht. Publikationen, in denen sich Sätze finden, die auch des Schülers Johnson vitales Interesse an der Vorgeschichte und der Verstrickung der Eltern in den Nationalsozialismus formulierten. Erkenntnisinteressen, die sich bereits in der Babendererde und dann reich orchestriert in den Jahrestagen finden: Wie werden aus harmlos-»wehrlosen« Kleinbürgern am Ende »Faschisten«? Lukács hat dazu geschrieben:

Reich entfaltet wird das Motiv der deutschen Wehrlosigkeit in Arnold Zweigs Kriegsromanen aus dem ersten imperialistischen Krieg behandelt. Der Zyklus [...] zeigt auch, wie unter den Bedingungen des preußischen Militarismus aus normalen Kleinbürgern widerliche sadistische Verbrecher herangezüchtet werden. (Lukács, Deutsche Literatur im Zeitalter des Imperialismus, S. 68)

Uwe Johnson hatte also eine ganze Reihe von Gründen, auch subjektive, seine Aufnahmearbeit für die Universität gerade über Arnold Zweig zu schreiben. Er sah den Zyklus denn auch noch durchgehend mit den Augen eines Lukács-Adepten. Lobte, daß Zweigs Gestalten für »ihre Klasse und Gesellschaftsschicht typisch« seien. Betrachtete als verwirklicht, was große Kunst laut Lukács kathartisch-pädagogisch vom Betrachter fordert: »Du mußt dein Leben ändern.« Man habe, so Johnson, in Zweigs Romanen einen antimilitaristischen Zyklus vor sich, der »jeden Menschen zum Kampf für das Gute in der Welt begeistern« müsse. Das klingt noch schülerhaft. Und weist doch schon auf einen differenzierteren Blick voraus. Zweig lieferte in seinem Zyklus die Analyse des deutschpreußischen Militarismus mit den Mitteln epischen Erzählens. Der Studienbewerber, der in dem Zweig-Aufsatz die Literatur als generelles Mittel zur Humanisierung der Welt auffaßte, zeigte sich beeindruckt von der konkreten Dehumanisierung, wie er sie damals in der eigenen Familiengeschichte erblickt haben mochte. In der Aufnahmearbeit von 1952 geschah mehr, als daß ein angehender Germanist mit Hilfe der analysierenden Aufzählung von Personen und einer Wiedergabe der Handlung unter Beweis stellte, daß er Zweigs umfänglichen Zyklus genau gelesen hat – und daß er ihn als »höhnische Satire auf die Phrasen des ›preussischen Mannestums‹« auffaßte.

LYRISCHES INTERMEZZO, SOMMER 1952.

»DER SINGENDE« ODER JOHNSON ALS »SPITTA«

Der Singende, eine von Ernst Barlachs Plastiken, beeindruckt durch seine glückliche Einfältigkeit. Den gleichen Eindruck erweckt der Abiturient Johnson, wo er Lyrik, vielleicht besser: Gedichte, Gereimtes geschrieben hat. Uwe Johnsons frühe Gedichte waren, im genauen Sinn des Wortes, »Gebrauchslyrik«. Ihnen war aufgegeben, Gemeinschaft im Kreis Gleichgestimmter herzustellen. Stets sind sie dabei auf ferienhafte Umgebung abgestellt. Sie sollten ein Wir-Gefühl möglich machen und die Gemeinschaft des Augenblicks in Gereimtem feiern. Leopold Tober, der heute in Schweden lebende Bruder von Johnsons Schulfreundin Antonie Landgraf, erinnert sich, daß der Schüler Johnson gern sogenannte Katschmarek-Gedichte, also Verse im Slawen-Deutsch, improvisierte. Auch diese stellten Unterhaltung für eine Gemeinschaft dar. Sie konnten lauten: »Gut wenn sich im Grase liegt/Schlecht wenn sich in Fresse fliegt/Abgeschrieben wenn Granatsplitter.«

Das Insel-Tagebuch, eine Art Gedicht-Sammlung, die Kurt Hoppenraths Witwe Louise aufbewahrt hat, ist auf den 25. bis 28. Juni 1952 datiert, also binnen weniger Tage in der Zeit unmittelbar nach bestandenem Abitur entstanden. Da war der frischgebackene und gewiß vom Gefühl neu gewonnener Freiheit beschwingte Abiturient zusammen mit Schulkameraden beiderlei Geschlechts auf einer Insel im Krakower See, dem Großen Werder vermutlich. Teilnehmer erinnern sich, daß Johnson damals leidenschaftlich »Kann denn Liebe Sünde sein« sang. Daß er andererseits häufig allein am Wasser saß. Da wird der Schulabgänger dann gedichtet haben. Einige Resultate dieser Mußestunden werden im folgenden zum ersten Mal vorgelegt. Ihnen vorangestellt war ein gleichfalls gereimtes Vorwort:

Statt eines Vorwortes

Auf dem Landungssteg der Insel

Stand ein Hund, der mit Gewinsel

Mir eine herzliche Begrüßung machte.

(Weil ich für ihn das Futter brachte.)

Weiter stand da noch ein Schild,

Wirklich ein sehr schönes Bild,

Daß das Betreten verboten sei,

Andernfalls sei Strafe dabei.

Als der Schreiber stellt sich vor

Ein gewisser Berthold Mohr.

Dadurch wurde mir sehr klar,

Daß es hier nicht anders war

Als da, von wo ich hergekommen,

Doch hab ich das nicht tragisch genommen.

Man kann ja nicht gleich bis zum Nordpol verreisen,

Schon wegen der Aussicht, da zu vereisen.

Auch hier war ich nun ganz allein

Und wollte versuchsweise glücklich sein.

Davon, wie dies mir gelungen,

sei hier nun ein Lied gesungen.

Was im konformen Stil dieser Gedichte umgeht, ist eine Sehnsucht nach Gemeinschaft, zu der unabdingbar das gemeinsame Singen gehört. In den hier zur Rede stehenden Versen hat Uwe Johnson, der nicht eben gut singen konnte, gesungen. Hat sich so noch einmal der verbindenden Nähe einer Gruppe anvertrauen wollen. Gemeinschaftliches, gemeinschaftsbildendes Singen, wie Johnson es von seinen Schulen kannte, jetzt als literarische Handlung. Für die Feriengemeinschaft auf der Insel im Krakower See, auf ihr hatte die Familie Mohr einmal eine Pacht besessen, schrieb Uwe Johnson Verse wie die folgenden:

Nieder-Geschlagenes

Große und auch kleine Tropfen

Leise an die Scheiben klopfen.

Es regnet. Es regnet ungebührlich

Und viel zu sehr kontinuierlich

Große und auch kleine Tropfen.

Ich frage nur: Ist dieses nötig?

Wenn nicht, so bin ich gern erbötig,

Für morgen und auch übermorgen

Für lauter Sonnenschein zu sorgen.

Doch bin ich nicht als Petrus tätig.

Ich sitze den ganzen Tag im Haus,

Denn der Regen läßt mich nicht raus.

Er macht da draußen große Pfützen.

Da kann die Sonne tagelang sitzen

Und trocknen die wieder aus.

Der Regen katzenähnlich schnurrt

Und äußerst geistverwirrend surrt.

Als ich den Hund vorhin mal fragte,

Was er zu diesem Wetter sagte,

Hat dieser Kerl mich angeknurrt.

Vielleicht über Irland ein neues Tief

Oder es regnet mal ohne Motiv.

Vom Trübsinn des Wetters angesteckt,

Habe ich Bosheit in mir entdeckt

Und mache aus posi-negativ.

Das Barometer: Veränderlich,

Doch nichts am Wetter ändert sich

Außer der Stärke des Regens

Und Hoffnung klammert sich vergebens

An das tröstliche Wort: Veränderlich.

Oder auch:

Verschlafenes

Dieweil nach stattgehabter Kauung

Empfiehlt sich gründliche Verdauung,

Ging mitten ich in die Natur

Mit einer Badehose nur

Und sonst nichts weiter angetan.

Im starken, unbewußten Tran,

Ließ ich mich dort, wo Rindvieh weidet,

Das ungewöhnlich unbekleidet,

Zu dem Verdauungsschlafe nieder

Und streckte meine langen Glieder

Unbekümmert, ungehindert in das Gras.

Da Platz genug war, konnt’ ich das.

Als mir dann die Augen sanken,

Hatte ich nur den Gedanken:

O wie ist das schön!

Dann habe ich gegähnt.

Man konnte sich im Himmel wähnen,

Genau so schön ist es gewesen.

Und wenn dies jemand sollte lesen,

So möge er recht herzhaft gähnen!

Ferien in der Gemeinschaft als der Himmel auf Erden. Doch eines: Die erotische Erfüllung läßt sich hinter der so erfrischend kalauernden wie häufig verunglückten Melodik dieser Zeilen als ein Wunsch verspüren. Man schlief, nach Geschlechtern getrennt, in einer scheunenartigen Behausung. Der sehnsüchtig-erschreckte Ruf aus Mädchenmund »Die Jungen kommen« wurde neben der Frage, ob Liebe denn Sünde sein könne, zum Schlager dieser Saison. Es blieb beim bloßen Rufen. Die Disteln, die die Mädchen in hoffnungsvoller Furcht in die Eingangsluken der Schlafscheunen legten, blieben ohne Funktion.

Kalamität

Ich schlief dort unterm Dach.

Darauf wies ich das Fehlen nach

Einer Leiter, mittels derer

Mein an siebzig Kilo schwerer

Körper auf den Boden käme,

Ohne daß er Schaden nähme.

Schließlich fand ich dann auch eine

Besser war sie schon als keine,

Doch war sie außerdem gebrechlich:

Tatsächlich lebensgefährlich schwächlich.

Den ersten Abend trug sie mich,

Nur knarrte sie absonderlich,

Denn sie war, wie schon gesagt

äußerst schwach, da hoch betagt.

In Heu und Decken eingepackt

Verschlief ich meine erste Nacht,

Nur träumte ich von einer Leiter!

Die ich hochstieg, immer weiter – – –

Bis das Ding, das altersschwache

Zusammenbrach mit viel Gekrache.

Davon bin ich aufgewacht.

Es war schon mitten in der Nacht,

Ich hab es noch drei Mal geträumt

Und morgens wild vor Wut geschäumt.

Man liebt doch eine romantische Nacht

Nur, wenn man sie ohne Aufregung verbracht.

Ein psychoanalytischer Interpret würde diesen »Traum« vielleicht als einen von gefürchteter Bestrafung bei geträumter Erfüllung erotischer Sehnsucht verstehen: die zusammenbrechende, sich hoch erstreckende Leiter. Wie auch immer: Die Landschaft und die Atmosphäre der engeren Heimat des Abiturienten Uwe Johnson, zwischen Güstrow und Müritz, erscheinen in diesen Versen aufbewahrt. Es wird genau diese Wasser-Landschaft sein, die zunächst auch die Spiel-Welt der Babendererde abgeben wird. Erst im Zuge der Überarbeitung des Textes wird sie durch die großartigere Müritz (deren Name »Meer« bedeutet) ersetzt werden. Die aber würde erst der Student Johnson in seine Erfahrung bringen.

Bereits in den beiden Jahren vor dem Abitur waren die Oberschüler der Brinckman-Schule am Krakower See gewesen. Man fuhr mit dem Fahrrad bis Krakow, setzte dann auf die Insel über. Ein Wandervogel-Leben griff Platz. Man schlief auf Heuböden, schwamm in den Seen, sammelte Möweneier und beobachtete Fischreiher auf einer Nebeninsel. Wenn Johnsons Schulkameradin Brigitte Stüwe, damals noch Martens, aus dem Wasser stieg, spielte die Clique auf einem von Hand aufgezogenen Grammophon das allseits beliebte »Kann denn Liebe Sünde sein«. Unbeschwerte Tage, die dann in den Abschlußband der Jahrestage und in das Verhältnis zwischen Pagenkopf und Gesine eingehen durften:

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