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gemeinsam kamen wir zu dem Rest der Klasse zurückgeschwommen, und offensichtlich hatten wir die ganze Zeit miteinander geredet. War ich da einmal ohne ihn, sangen sie noch manchmal die Frage, ob denn Liebe Sünde sei. (Jahrestage, S. 1588)

Daneben fanden die von der Schule organisierten Reisen des Chors statt, an denen Uwe Johnson als Begleiter teilnahm. Sie führten vor allem an der Ostseeküste entlang und fanden, wie die Schulkameradin Brigitte Stüwe – ihr Vater kehrt als der Fabrikant »Hünemörder« in den Jahrestagen wieder – sich entsinnt, größtenteils unter den gleichen Wandervogel-Bedingungen statt wie die Privatausflüge der Schüler. Auch bei diesen Reisen mußte man zuweilen in Scheunen übernachten.

Uwe Johnsons unglückliche Liebe zur Musik, Martin Walser hat sie in Brandung diagnostiziert, bestimmte den Oberschüler zum Ansager bei den Gesangsveranstaltungen des Chors der John-Brinckman-Oberschule. In den Begleitumständen hat der Güstrower über diese Zeit berichtet, dabei das einzige Mal seine frühe »Poeten«-Tätigkeit selbst erwähnt:

Danach ist für diesen Jugendfreund (denn so war die Titulatur für Angehörige der F.D.J. und ihre Anrede unter einander) vorläufig nur noch etwas zu melden, was aber gedeutet werden kann als zusätzliche »gesellschaftliche Betätigung«: er machte die Ansage für den Chor seiner Schule, wenn dieser Gastspielreisen unternahm. Der Ehrlichkeit halber ist einzugestehen, es war fast eine Conference, in der dem Publikum eine leicht verquere Vorschau auf die dargebotenen Kunst- und Volkslieder geboten wurde. Um ganz ehrlich zu sein: sie war gereimt. Um der letzten Wahrheit die Ehre zu geben: sie wurde in einer Zeitung rezensiert. Wie hiess es da? »In humorigen Zwischentexten versucht sich glückhaft ein junger Güstrower Poet«, folgt ein Name. (Begleitumstände, S. 59 ff.)

Auch der Erhalt dieser Texte des »jungen Güstrower Poeten« ist der Witwe des damaligen Chorleiters, Louise Hoppenrath, zu danken. Sie seien an dieser Stelle auszugsweise erstveröffentlicht:

Ein sogenanntes Vorwort

Der Chor und die Tanzgruppe der John Brinckman-Oberschule Güstrow unternahmen im Auftrag der Landesregierung Mecklenburg vom 14. bis zum 28. Juli 1952 eine Konzertreise durch die mecklenburgischen Ostseebäder Kühlungsborn, Rerik, Wustrow, Dierhagen und Grode. Der Bericht umfaßt weiterhin die Zahlen der Auftritte und der Besucher, die namentliche Aufführung der Mitglieder der Kulturgruppe, des begleitenden Lehrpersonals und natürlich der Leitung sowie eine Beschreibung und Erläuterung des Programms. Das ist alles. Das ist durchaus nicht alles. Es fehlt noch etwas. Es fehlen Dinge, die zwar in keinem offiziellen Bericht stehen dürfen, die ich aber – da sie wahrscheinlich noch keiner von uns vergessen hat – auf meine Art noch einmal zu erzählen mir erlaube. Es sind keine Namen genannt worden, teils aus Pietäts-, teils aus Zweckmäßigkeitsgründen. Nur Herr Mahn kommt namentlich vor, aber der ist ja sowieso blamiert. Wer sich hier nicht wiederfinden sollte, dem sei gesagt, daß das nicht etwa auf die viel bemühte Pietät zurückzuführen ist. Sondern auf Zweckmäßigkeitsgründe. Diese in Skizzenform bereits während der Reise entstandenen Gedichte haben nicht den Zweck, den verlängerten Arm meiner Privatrache zu spielen oder meiner sagenhaften Bosheit ein Betätigungsfeld zu verschaffen. Was man möglicherweise für Bosheit oder Privatrache halten wird, ist ganz etwas anderes. Vielleicht weiß es unsere Kreuzworträtselspezialistin?

Der soziale Kontext bestimmte neben der Form auch die Themen: schülerhaft gehemmte Liebe; die Eifersucht auf die Erwachsenen; der geraubte Kuß; das Gefühl, das einer nicht zu offenbaren wagt; die Scham, die überwinden muß, wer die Angebetete zum Tanz auffordern will. Es sind die Verse eines Tonio Kröger, der sich noch nicht zum Abseitsstehen entschlossen hat, sondern immer noch versucht, im Kreis der Blonden mitzuhalten:

Pietät

Dies war einer Jungfrau Bitte:

Daß man ihr erlauben täte,

daß sie zu ihrer Tante ginge,

an der sie so von Herzen hinge.

Und Herr Mahn voll Pietät

gern erlaubt ihr, daß sie geht.

Leider war man indiskret

(Was nicht zeugt von Pietät!)

und man konnte nicht umhin,

zu bemerken immerhin,

daß die Tante, welche bärtlich,

tat sie küssen äußerst zärtlich.

Wenn man nun mit Pietät

dies zu untersuchen geht,

dann ergibt sich sonnenklar,

daß das wohl ihr Onkel war

(übrigens, der Onkel sächselt)

und sie hat das nur verwechselt.

Und aus dieser Perspektive,

(die wahrscheinlich eine schiefe)

sich mit Deutlichkeit ergibt

(da der halbe Chor verliebt):

daß der halbe Chor verwandt.

Dieser Zustand ist bekannt

als ausschließlich erster Grad,

was vergnüglich, in der Tat.

Ewig dem vor Augen schwebt,

der dies alles miterlebt:

Verwandtschaftliche Pietät

oft wunderliche Wege geht.

Soviel zur poetischen Behandlung erotisch verursachten Neids durch den Abiturienten Uwe Johnson. Eine andere Talentprobe lautete:

Vorbildlicher Lerneifer

oder:

Ich kam, ich sah –: Er siegte

Um nach stattgehabter Kauung

zu befördern die Verdauung,

ging am Abend ich spazieren –

und tat schöne Waldeslüfte

durch die angenehmen Düfte

von der Turf verzieren.

Plötzlich ward mir augenscheinlich

(und es war mir schrecklich peinlich!)

eine Tante und ihr Onkel.

Denn das Wandern ist ergötzlich

und in manchem Sinne nötzlich

in dem Walde, wo es donkel.

Es verdienen alle Achtung

solche, die Naturbetrachtung

noch im Dunkeln unternehmen.

Doch wenn nicht einmal die Sterne

sichtbar sind in weiter Ferne,

spricht man über andre Themen.

Hierbei kann man viele Wissenschaften,

wie z. B. Kü-dunkünste

auf das gründlichste erlernen.

Doch bei aller Pädagogik,

die bezieht sich auf Erotik,

muß ein dritter sich entfernen.

Um das nicht mitanzusehen,

wandte ich mich, wegzugehen

davon ab, von Neid gepeinigt.

Doch daß ihre edle Liebe

(zu dem Lernen) Vorbild bliebe

ewig nur, wird hier bescheinigt.

»In Wessen Leben ging nicht einmal das Wunderbare, in tiefster Brust Bewahrte Geheimnis der Liebe auf!« (E.T.A. Hoffmann, Die Elixiere des Teufels, Band II)

Der dies geschrieben hat, der hatte allerdings seinen Wilhelm Busch gelesen. Und blieb wie dieser im Rahmen des Erlaubten. Von Wedekindscher Jugend-Erotik sind diese Verse weit entfernt. Und doch starren sie gebannt auf »das Wunder der Liebe«, auf daß es sich ereignen möge im Kreis derer, die das gemeinschaftliche Lied verbindet:

Ein Jüngling verliebte sich.

In eine Jungfrau vom Sopran.

Die Jungfrau arg verfärbte sich,

als sie dies vernahm.

Sie ward darob nicht so erfreut,

wie es erwartet und ersehnt.

Drum hat er in der Folgezeit

entsetzlich oft gestöhnt.

Doch hat er redlich sich bemüht

und deutlich ihr gezeigt,

sein Herz sei nur für sie erglüht.

(Das wird von uns bezeugt.)

Als eines Abends nun der Chor

auf offener Bühne stand

und sang dem Publikum was vor,

er starrte an sie. Unverwandt!

Und als der Chor zur Seite ging,

da ist es dann geschehen:

sein Auge an dem Mädchen hing

und – einsam blieb er stehen.

Das Publikum, das dieses sah,

verriet, es sei entzückt.

Der Jüngling war, daß dies geschah

noch tagelang bedrückt.

Ein großes Wunder ist die Liebe.

Wobei nur zu erwähnen bliebe,

daß sie oft wirkt auch lächerlich.

Oh Jüngling! schütze deine Triebe,

doch angestrengt darin dich übe,

sie nicht zu zeigen öffentlich.

Doch sei dir immerhin gedankt,

daß du, indem du lachtest

das Mädchen an (, das auch dir dankt)

– die Leute zum Lachen brachtest!

Das wirkt alles recht konform. Und dennoch enthalten Johnsons gereimte Chor-Gesänge bereits Elemente von Aufbruch und Rebellion. Vage lebt in ihnen bereits die Idee von einem anderen Leben, wie sie in diesen frühen fünfziger Jahren in der »Demokratischen Republik« immer deutlicher spürbar wurde. Von einer solchen Aufbruchszeit wird dann die Babendererde auf ihre Weise handeln. Die am Ende des Erstlings ihre Heimat verlassen, sie hören Jazz. Und auch das »Glaubensbekenntnis« des Abiturienten lautete, ungeachtet all seiner Tiraden gegen den »kosmopolitischen« Jazz im Abituraufsatz, schon damals:

Glaubensbekenntnis

Ja, der Boogie-Woogie, Blues,

»Opus Two« und die Choo-Choos,

kurz gesagt, der ganze Hot,

sind für uns beinahe Gott.

Niemand glaubt, wie wohl das tut,

wenn wir fallen in the mood

bei der schönen Litanei:

wuwu-rabbadibaibom-bubai!

Inschrift auf einem Schultisch:

»Es wird einmal eine Zeit kommen, in der sich der Jazz entgegen allen Vorurteilen im kleinsten Ort durchgesetzt hat.« (sinngemäß)

Drum wir üben in Geduld

unsern Jazzanbetungskult (dschäs)

mit der heil’gen Litanei:

wuwu-

rabbadibaibom-

bubai!!

(dadaaaa ...)

Man mag die akustische Umsetzung der Jazz-Synkopen in Zweifel ziehen. Dennoch gesellt sich mit diesen Zeilen zum konformistischen Einerseits ganz entschieden das rebellische Andererseits. Daß der Prosaist Gedichte schrieb, hatte entscheidend mit der Gemeinschaft seiner Schulklasse zu tun. Das Prosawerk Uwe Johnsons hingegen, ob nun in der Babendererde oder im Abschlußband der Jahrestage, würde stets der Darstellung von Verlorenem, Unwiederbringlichem gelten, erinnert von einem exemplarisch Vereinzelten. Der bald schon in seiner unaufhebbaren Vereinzelung so entschieden moderne Autor Uwe Johnson ging hervor aus einer geradezu archaischen Gemeinschaftsbindung. Lebenslang wird es ihn nach Gemeinschaft verlangen, ihn, dessen literarische Lebensleistung nur möglich erschien aufgrund konsequentester Transzendierung gemeinschaftlicher Bindung. Darin auch liegt Johnsons sozialhistorischer Standort beschrieben. Wenn überhaupt ein Schriftsteller nach 1945, dann muß er als der Chronist jener rapiden Auflösung einer noch traditionsgeleiteten, agrarischen Gesellschaft gelten, zu der Hitler zurückwollte, die sich in Mecklenburg partiell erhalten hatte und die nach dem Zweiten Weltkrieg in die Vereinzelung der Moderne förmlich hineinexplodierte. Eine Bewegung, die auch den Lebensweg der Johnsonschen Figuren von Jerichow nach New York ausmachen wird.

Johnsons Abiturphase erschien zunehmend vom Schmerz der Individuation bestimmt und von einem Wissen um deren Unausweichlichkeit. Dies verraten nicht zuletzt die Zeilen, die der Abiturient an seinem Geburtstag 1952 von einer Chorreise aus Kühlungsborn dem Schulfreund Lehmbäcker gesandt hat:

I.

Der eine sieht ins Abendrot

Und schwärmt für das Ideale.

Der andre kaut sein Abendbrot

Und ist für das Reale.

II.

Nicht alles, was man heiss begehrt,

Ist kühl betrachtet, etwas wert.

Und darum sollte man sich üben

Die Wünsche, die man hat, zu sieben.

Das war ein Anflug frühreif-ironisierten Weltverständnisses, in ganz korrekte Kommasetzung gekleidet. Dann aber folgen jene Sätze, aus denen der Schmerz über die Unausweichlichkeit der Individuation spricht:

Bedauerlicherweise ist der Mensch als Individuum konstruiert und eingerichtet. Dies hindert. Es gelingt höchst selten, diesen unerfreulichen Tatbestand zu einer Art von Gemeinschaft weiterzuentwickeln.

Eben das versuchen Johnsons Abiturientenverse: den unerfreulichen Tatbestand der Individuation »zu einer Art von Gemeinschaft weiterzuentwickeln«. Was ihnen auf Dauer freilich nicht glücken konnte.

Jazz-Rhythmen des »GOING OUTSIDE«, wie sie im Erstling das Aufsprengen der bisherigen Schulgemeinschaft und den Heimatverlust ankündigen, erklingen bereits als Johnsons eigene Absage an die fesselnde Kraft solchen Gemeinschaftsgesangs.

Aus dem Radio kam gelassen und grossartig die tiefe rauchige Stimme eines Mannes announcing AND NOW ... Billie MAY and his orchestra: GOEN OUTSIDE. Hinter ihm begann ein Trompetenchor feierlich Gequältes aufzuführen; dann war da ein Saxophon, das stieg faul und verzweifelt durch ein endloses Treppenhaus, in dem waren alle Türen durchsichtig. (Babendererde, S. 244)

Der Schüler Lockenvitz schließlich wird »schräge Musik« lieben:

Das war der amerikanische Jazz der Frühzeit, gerade per Regierungsdekret von einer Musik der Dekadenz befördert zu insofern fortschrittlich, als entwickelt aus den Arbeitsgesängen zur Zeit der offen betriebenen Sklaverei. Gespräch nach Vorschrift betrieb dieser Junge. (Jahrestage, S. 1726)

Der Jazz als die Aufbruchsmusik der amerikanischen Neger manifestiert einen Kontrapunkt zu Partei-Hymne und gemeinschaftsbildendem Vaterlandslied. Der Jazz als die Oppositionsmusik auch der damaligen DDR. Neben Johnson haben das auch andere Autoren dokumentiert, Fritz Rudolf Fries zum Beispiel in seinem bohemischen Leipzig-Roman Der Weg nach Oobliadooh, also unter bereits frech verjazztem Titel:

Arlecq, immer auf der Suche nach dem Sinn des Daseins, schnitt das Heft in Stücke, klebte sich Armstrong, Stewart, Beiderbecke, Lem Arcons Gesicht, das in der Würde eines seltenen Vogels aus dem Saxophontrichter steigt, an die Zimmerwände und nahm Begriffe wie Jazz, Jive, Swing, Pop und Oldtimer in sein Vokabular auf. Lauschte zur Mitternacht den neuen Klängen aus der nicht entnazifizierten, in nazistischer Verbohrtheit den neuen Wellenlängen feindlich gesinnten Goebbels-Schnauze und blies den Air Lift Stomp auf der Flöte [...] Be-bop ist da und wird bleiben, sagte Paasch, und die Geschichte würde seine voreilige Prognose rechtfertigen. (Fries, Oobliadooh, S. 91)

Der Jazz war für diese Generation die Antwort auf eine zweifache Diktatur. Der Jazz stand für sie gegen die Goebbels-Schnauze ebenso wie gegen die Girnus-Schreibe. Im Jazz standen Synkope und Improvisation gegen die verpflichtend-totalitären Elemente pathetischer Worte und das umschlingende, erstickende Melos, wie sie die von Gesang getragenen Gemeinschaftsveranstaltungen des Staatsapparates kennzeichneten.

Uwe Johnson selbst hat in Leipzig seine Vorliebe für den Jazz (gegenüber dem Freund Klaus Baumgärtner) damit erklärt, daß dies »freche« Musik sei. In Berlin besaß er eine historisch aufgebaute Sammlung von Jazz-Platten. Die weitere Plattensammlung, soweit ich sie aus den Fotografien, die Joachim Unseld im Haus in Sheerness gemacht hat, rekonstruieren konnte, enthielt auch eine Kassette mit den Werken des Johann Sebastian Bach – neben, übrigens, der Martha-Oper des Friedrich von Flotow. Beides ist Musik, die sich durchaus widerspricht. Ihr Widerspruch erscheint als der des Uwe Johnson selbst. Neben den Jazz tritt allerdings in der Babendererde die Musik des Johann Sebastian Bach. Diese Musik pflegt keinerlei unscharfe, romantische Gemeinschaftssehnsüchte. Sie lebt im Gegenteil von ihrem intellektuellen und dialektischen Zuschnitt. Die durchgeführte Kontrapunktik dieser Musik in den Formen von Fuge und Kanon; den Rückgriff auf den protestantischen Choral; die Synthese eines harmonisch bestimmten Konzertstils mit einer linear geführten Vielstimmigkeit: Der junge Johnson hat sie als derart angemessen empfunden, daß er sie in der Babendererde interpretiert hat:

Das war eine sehr sonderbare Musik, die war so inständig zuversichtlich. Es war für Ingrid als habe diese Musik etwas durchaus Gewisses vor, als gehe sie geduldig immer wieder herum um diesen bestimmten Vorsatz von Heiterkeit, unablässig wissend von der Sicherheit der Ankunft und aufgehoben in lauter Wohlmeinen. [...] Als die Musik wieder anging, war ihr plötzlich als sei es nun in ihr und ganz in ihr; sie nahm die Hände von ihrem Gesicht und richtete sich auf; nun war sie ganz unruhig. (Babendererde, S. 228)

In einer der überlieferten, aber bislang unveröffentlichten Frühversionen des Erstlings findet sich auch die Beschreibung eines Konzertbesuchs, verbunden mit Ingrid Babendererdes Analyse dieser Musik. Das Heitere und Wohlmeinende der Bachschen Musik gerät zur Chiffre des Aufbruchs. Bach hörend, wird Ingrid unruhig vor Sehnsucht nach Neuem und Anderem unter der Sonne dieses heißen Mais, die so viel Neues zur Reife bringt. Der Leipziger Student Johnson führte 1956/57 die umworbene Tochter des Dekans in ein Bach-Konzert. Zu einer Bach-Diskussion trafen sich schließlich auch – um das Jahr 1955 – die Leipziger Freunde Johnsons. Uwe Johnson hat es, dem Freund Manfred Bierwisch zu Ehren, in seinem besten »Export-Englisch« niedergeschrieben:

We may never have been on file as people (»an association«) who congregate from various quarters of Leipzig to sit up nights and discuss whether J. S. Bach, in his Musical Offering of 1747, may have hidden a message.

Mit Blick auf die »verborgene Botschaft« mag es den Freunden um die Frage gegangen sein, wieweit das Musikalische Opfer – Bach hatte es 1747 am Hof Friedrichs des Großen geschrieben und dem Monarchen gewidmet – als eine »preußische« Musik aufgefaßt werden konnte. Doch konnte man dieses Heitere tatsächlich mit dem »Preußischen« identifizieren? Oder lag darin nicht eher eine Emanzipation des protestantischen Individualismus aus den Banden des barocken Melos vor?

ZWEITES KAPITEL
STUDIUM IN ROSTOCK.
UWE JOHNSONS »GUTE MUTTER«
UND EINE ERSTE LIEBE

_____________

ROSTOCK 1952 BIS 1954: ERSTER STUDIENPLATZ.

DIE STADT UND DIE UNIVERSITÄT

Rostock stellte Uwe Johnsons ersten auswärtigen Wohnort dar. Bis dahin hatte der angehende Student stets mit seiner Familie zusammen gewohnt. Vom Herbstsemester 1952 an, das Studienjahr begann am 8. September 1952, wurde das anders. Nach einem Kurzaufenthalt in einem Rostocker Studentenheim im November 1952 zog Johnson zu Beginn des Jahres 1953 nach Rostock um. Bezog jenes Keller-Zimmer in der Friedrich-Engels-Straße 71 bei der Familie Hensan, wo er bis 1954 amtlich gemeldet bleiben wird.

Indes gehört die Stadt Rostock kaum in die Reihe der Städte, die prägnante Spuren im Werk Johnsons hinterlassen haben. Ein einziges Mal nur nennt er, der sich durch die Summe der Flüsse definieren konnte, in denen er schwamm, die Warnow – in den Jahrestagen, und da ohne jede Konnotation zu der Stadt. Die Rostocker Straßenbahnhaltestellen im Babendererde-Manuskript hat Johnson im Verlauf der Überarbeitung getilgt und dafür durchgängig die Silhouette Güstrows eingesetzt. Just als der angehende Student in die Hafenstadt kam, war die Ostseestadt zu einem eigenen Bezirk erweitert worden. Die damalige DDR-Verwaltungsbezirksreform hatte das vormalige nördliche Mecklenburg und Vorpommern zusammengefaßt. So geriet Johnson in die größte Stadt Mecklenburgs mit damals rund 200 000 Einwohnern und zugleich in die größte Hafenstadt der DDR mit der bedeutenden Neptun- und Warnow-Werft. Neben rund 200 mittelständischen Betrieben erhoben vor allem diese beiden Werften und das Dieselmotorenwerk mit zusammen knapp 20 000 Arbeitsplätzen Rostock zu einer Industriestadt. Rostocks Innenstadt, wie immer durch die Bombenangriffe des Jahres 1942 noch schwer beschädigt, zeigte sich mit Bauwerken der Backsteingotik (Marienkirche aus dem 13. Jahrhundert; Nikolaikirche aus dem 14. Jahrhundert; Petri- und Jakobikirche aus dem 15. Jahrhundert und das sehr schöne, wundervoll proportionierte Rathaus aus dem gleichen Säculum) ausgezeichnet. Die Stadt, späteres Hansemitglied, war im Jahr 1189 neben einer wendischen Burg gegründet worden. Das mag das seine zur Namensgebung »Wendisch Burg« beigetragen haben, in der Ingrid Babendererde, der Roman entstand ja zum größten Teil in dieser Stadt, wobei kein Zweifel daran bestehen kann, daß »Wendisch Burg« Güstrow »ist«.

Spätestens im Mai des Jahres 1952 muß Uwe Johnson beschlossen haben, in Rostock zu studieren. Der Entschluß war ein Kompromiß: Zwar ging der Student von zu Hause fort, aber doch nicht allzuweit. Noch einmal erwartete den Güstrower das Schicksal des »Fahrschülers«. In einem Brief an die Recknitzer Lehrerin Frau Luthe malte er das in moderater Überzeichnung aus:

Morgens um 5 Uhr stehe ich auf, stehe eine Stunde Bahnfahrt ab [...], schlafe (auf mecklenburgisch: »düse«) in der Vorlesung vor Müdigkeit und Nervosität [...], fahre um 21 Uhr nach Hause, bin um 22 Uhr da, arbeite bis 24 respektive bis 1 Uhr. Morgens um 5 stehe ich auf usw.

Die Existenz der Rostocker Universität ging auf einen Gründungsakt vom 13. Februar 1419 zurück, der seinerseits einen frühen Klassenkompromiß darstellte: Der adlige Landesherr stellte in der Regel den Rector magnificentissimus, während ein – aus akademischen oder bürgerlichen Kreisen stammender – amtierender Rektor die Amtsgeschäfte führte – eine Verfassung, die ihrer Zeit für deutsche Verhältnisse weit voraus war. Die Reeder und Großkaufleute der Stadt mit ihren Handelsverbindungen nach Skandinavien und bis in das Italien der Renaissance hatten dies federführend erreicht. Immerhin: Ulrich von Hutten hielt von 1509 bis 1512 Vorlesungen in der Hafenstadt, und nach ihm, 1598, Tycho de Brahe, der berühmte Lehrer des nachmals noch berühmteren Johannes Kepler. Dennoch hatte, nach damaligem DDR-Urteil, die Universität nicht allzuviel zum Befreiungskampf des deutschen Bürgertums beigetragen. Ihr Studentenleben habe sich zuallererst durch Nachtwächterskandale, Duelle und Reibereien mit dem Militär hervorgetan. So jedenfalls stand es im damaligen Studienkatalog geschrieben. Und nun eine Universität im Umbruch: Im Vorlesungsverzeichnis wurde der neue Studiosus mit entsprechend klassenkämpferischen Zeilen empfangen:

1946 begann das erste Semester unter den Bedingungen der sich festigenden antifaschistisch-demokratischen Ordnung. Auf dem Gebiete der Sprachwissenschaft wurde das Institut für Slawistik gegründet. Wenige Tage später erfolgte dann die Einrichtung der Vorstudienanstalt, wodurch nach jahrhundertelanger Unterdrückung den Arbeitern und Bauern Mecklenburgs die Tore der Universität weit geöffnet wurden.

Im Herbst des gleichen Jahres eröffnete die Pädagogische Fakultät mit 148 Studenten den Lehrbetrieb zur Heranbildung von wissenschaftlich qualifizierten Fachlehrern für die Grundschule. An der Demokratisierung der Studenten, an dem Aufbau aller erforderlichen sozialen und wirtschaftlichen Einrichtungen und der Schaffung von wissenschaftlichen Arbeitsgemeinschaften innerhalb der Fakultäten nahm der erstmalig im Oktober 1946 gewählte Studentenrat großen Anteil [...] Wichtige Etappen waren die am 4. Oktober 1949 erfolgte Eröffnung der Arbeiter- und Bauernfakultät, die aus der Vorstudienanstalt hervorging, sowie die Errichtung der Technischen Fakultät für Schiffbau am 26. Mai 1951, deren Studenten zum Teil Arbeiter in volkseigenen Werften gewesen waren. Am 1. September 1951 erfolgte die Eröffnung einer Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät [...] Die enge Verbundenheit der Universität mit den Werktätigen kommt in den Freundschaftsverträgen mit der Warnowwerft und den Maschinenausleihstationen Roggentin und Klein-Kussewitz zum Ausdruck sowie in der Tatsache, daß die Universitätsbibliothek in Ausleihe und Lesesaal auch an mehreren Abendstunden den Werktätigen zur Verfügung steht. Die Zahl der Studenten betrug am 1. April 1946 etwas mehr als 500. Am 1. September 1946 studierten bereits annähernd 1000 Studenten in Rostock, von ihnen waren 13% Arbeiter- und Bauernstudenten. Zwei Jahre später betrug die Zahl der Studenten fast 1500, unter ihnen waren bereits 25% Arbeiter- und Bauernstudenten. Im Studienjahr 1951/52 studierten an unserer Universität über 2000 Studenten, der Anteil der Arbeiter- und Bauernstudenten ist auf 42,5% gewachsen; 85% aller Studierenden erhielten ein Stipendium [...] Aber noch wichtiger war der Beschluß der II. Parteikonferenz der SED über den Aufbau des Sozialismus in der Deutschen Demokratischen Republik. In Erfüllung der darin gestellten Aufgaben werden unsere Universitäten und Hochschulen eine Intelligenz heranbilden, die durch neue wissenschaftliche Erkenntnisse in Forschung und Lehre am Aufbau des Sozialismus mitarbeitet.

Diese Zeilen standen über Johnsons Eintritt in die akademische Welt. Sie wiesen aber auch schon auf das Ende hin. Denn die darin erwähnten Maschinenausleihstationen würden sich später, nach 1956, unter jenen zahlreichen Institutionen befinden, die eine Bewerbung des Absolventen Johnson, »Kultureller Beirat« hätte er hier werden können, ablehnen würden.

Der angehende Student fand in Rostock eine Konkurrenz zwischen »bürgerlichen« und linientreuen, oder, wie die Studenten sie nannten, »bonzigen« Lehrkräften vor. Uwe Johnson würde sich vor allem an Hildegard Emmel und an die »bürgerliche« Fraktion halten, was keineswegs nur wissenschaftlich-politische Gründe hatte. Im Alltag jedenfalls koexistierten die beiden Lager noch. Ein Schreiben des FDJ-Mitglieds Johnson an das Rostocker Prodekanat aus dem Jahre 1952 ist ganz selbstverständlich mit dem FDJ-spezifischen Gruß »Freundschaft« unterzeichnet.

Ein bevorzugtes Mittel der Einbindung und ideologischen Schulung des einzelnen Studenten gab die »Seminargruppe« ab. Unter der Rubrik »Formen des akademischen Unterrichts« stand: »Diese Seminargruppe bildet eine feste organisatorische Einheit, die eine kontinuierliche Erziehungsarbeit ermöglicht.« (Namen von Spitzeln aus der Rostocker Seminargruppe finden sich unverändert in den Mutmassungen wieder.) Wie seine Kommilitonen mußte auch Uwe Johnson sich einem »gesellschaftswissenschaftlichen Grundstudium« mit recht ausgreifender Zielsetzung unterwerfen:

Das gesellschaftswissenschaftliche Grundstudium bildet die Grundlage des gesamten Studiums. Es hat die Aufgabe, den Studierenden die Einsicht in die Entwicklungsgesetze von Natur und Gesellschaft zu vermitteln, dadurch ihre Leistungen in den Spezialfächern zu erhöhen und sie zu befähigen, bewußt am nationalen Befreiungskampf des deutschen Volkes teilzunehmen.

Daneben hatte er obligatorische Kurse in russischer Sprache und Literatur zu belegen. Sie sollten ihn befähigen, die Ergebnisse der »fortgeschrittensten Wissenschaft«, der »Sowjetwissenschaft«, zu rezipieren. Johnsons Note in russischer Literatur vom 12. Juni 1953 bestand in einem »Sehr Gut«. Dem Sport, der ebenfalls obligatorisch war und der dem Motto: »Bereit zur Arbeit und zur Verteidigung des Friedens« unterstand, konnte Johnson entgehen, besaß er doch das Güstrower Schularztattest. Johnson selbst:

Gegen den Schüler ist in Einwand zu bringen, dass er sich von einem approbierten Arzt eine »vegetative Dystonie« bescheinigen liess, sobald die amtliche Rede war von freiwilliger Verpflichtung in eine der Waffengattungen der Kasernierten Volkspolizei, und dadurch obendrein eine Freistellung vom Unterricht im Sport sich erschlich. (Begleitumstände, S. 52)

Generell war den Studenten eine strenge Studiendisziplin auferlegt. Außerdem galt eine Art Benimm-Kodex:

ein höfliches und ehrerbietiges Benehmen gegenüber den Professoren und Dozenten, insbesondere das disziplinierte Verhalten in den Vorlesungen; der regelmäßige und pünktliche Besuch der Vorlesungen, Seminare, Übungen, Praktika und Spezialseminare [...]; ein sorgfältiges Selbststudium entsprechend den Studienplänen.

Zum Studium gehörte weiterhin ein Berufspraktikum. Johnson absolvierte es im Sommer 1954 zwischen dem 21. Juni und dem 24. Juli im Leipziger Reclam Verlag, wohnte während dieses Monats bei Erhart Franz in der Paul-Schneider-Straße 5 zur Untermiete. Das Stipendium wurde dem Praktikanten währenddessen von der Universität weitergezahlt. Die Fahrtkosten wurden ihm erstattet, und er erhielt zusätzlich eine Pauschale von 75 Mark. Die Wahl des Ortes Leipzig für das Praktikum mag bereits Johnsons Entschluß widergespiegelt haben, von 1954 an sein Studium in der Stadt an der Pleisse fortzusetzen.

LEBEN UND STUDIUM IN ROSTOCK

Zum Herbstsemester 1952 kam der Güstrower Abiturient nach Rostock. Am 12. Juni 1952 bekam er sein Studienbuch (Hochschulnummer 69/M52) ausgestellt. Am 19. August 1952 wurde Uwe Klaus Dietrich Johnson, von nun an allerdings würde er seinen Namen auch auf amtlichen Unterlagen konsequent auf Uwe Johnson verkürzen, für sein erstes Studienjahr immatrikuliert. Auf dem ersten Paßfoto seiner Universitätsjahre blickt, mit offenem Kragen und frisch geschnittenen, aber doch nicht ganz kurzen Haaren, hinter schwer-schwarzem Hornbrillengestell, ein selbstbewußter junger Intellektueller ruhig in das Objektiv. Im ersten Studienjahr, zwischen dem Herbst 1952 und dem Frühjahr 1953, bekam Johnson die obligatorischen drei Wochenstunden Grundlagen des Marxismus-Leninismus verabreicht. Sie werden im Studienbuch an extra prominenter Stelle aufgeführt. Hinzu kamen Systematische Pädagogik und Entwicklungspsychologie (hier hatte einer, der nicht Lehrer werden wollte, dennoch einen Lehrerstudiengang gewählt), ferner Mittelhochdeutsche Grammatik, Sprechkunde, die Geschichte der Deutschen Literatur von 1700 bis 1789, eine Einführung in die Sprachwissenschaft und, was dann auch für das nächste Studienjahr gelten würde, die Lektüre neuenglischer Texte sowie Russische Sprache und Literatur.

Im zweiten Studienjahr kamen dann Althochdeutsche Grammatik und Hauptprobleme der Deutschen Satzlehre hinzu, ebenso die Geschichte der Deutschen Literatur 1789 bis 1815 (bei Hildegard Emmel). Weiterhin hörte Johnson Meisterwerke der Weltliteratur des 16. und 17. Jahrhunderts und ein Spezialseminar zu Faust II. Daneben standen noch Anfängerübungen im Schwedischen – Johnson wußte um seine Herkunft – und die Lektüre neuenglischer Texte – was unverkennbar Johnsons damals schon vorhandene komparatistische Interessen belegt –, eine Geschichte der Französischen Literatur in der bürgerlichen Gesellschaft und eine Geschichte der Französischen Literatur im Absolutismus. Hinzu kamen noch Englische Debattierübungen und die Antike Philosophie Platons. Uwe Johnsons Studienergebnisse erwiesen sich, wie zu erwarten, als insgesamt hervorragend. Dies ungeachtet des Umfangs seines Stundenplans und, obwohl er nebenbei schrieb und, so das Zeugnis seiner Rostocker Studienfreundin, des »Waldgesichts«, weniger fürs Studium gearbeitet habe als beispielsweise sie. Das Zwischenprüfungsergebnis vom 18. Mai 1953 lautete: Gesamtnote »Sehr Gut«.

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9783863935047
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