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VIERTES KAPITEL
LEIPZIG
ODER DIE SCHULE DER MODERNITÄT

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ERNST BLOCH UND HANS MAYER

In Einer meiner Lehrer, Uwe Johnsons Erinnerungen an Hans Mayer, steht als Charakteristik Leipzigs zu lesen, es handele sich um die »wahre Hauptstadt der Deutschen Demokratischen Republik«. Nicht erst die Ereignisse vom November 1989 haben dieser Einschätzung recht gegeben. Bereits damals, Mitte der fünfziger Jahre, sprachen für Johnsons Urteil die Vitalität geistigen Lebens und die Avanciertheit der Diskussion um Kunst und Literatur, wie sie kaum sonst irgendwo in der DDR zu erleben waren. Leipzig stellte ein vives urbanes Zentrum in der damaligen »Demokratischen Republik« dar. Mußte dies um so mehr in den Augen eines sein, der soeben aus der »drögen« Provinz gekommen war. In Güstrow hatte der angehende Intellektuelle und Schriftsteller noch 1952 über die Anti-Formalismus-Tiraden des Wilhelm Girnus handeln müssen. Nur drei Jahre später, in Leipzig, wird er über Franz Kafka schreiben, einen Schriftsteller, der zu diesem Zeitpunkt offiziell noch gar nicht existierte in der Republik. Statt über Deutsche Nationalliteratur konnte er nun Vorlesungen über »Weltliteratur« als die Geschichte der Nationalliteraturen hören. In ihren noch nicht kompromittierten Anfängen Ende der vierziger Jahre hatte sich die »Demokratische Republik« eine Reihe undogmatischer Köpfe ins Land geholt – Autoren wie Bertolt Brecht und Arnold Zweig, Musiker wie Hanns Eisler und Paul Dessau, Wissenschaftler wie Ernst Bloch, Hans Mayer und Werner Krauss. Die drei letztgenannten lehrten an der Universität Leipzig. Republikweit kolportierten Bloch- und Mayer-Anekdoten den sarkastischen Widerspruchsgeist dieser Männer gegen die sozialistische Obrigkeit. Gerhard Zwerenz hat als ein Augenzeuge der damaligen Ereignisse über Ernst Bloch geschrieben:

Auf einer Reise nach Warschau bekommt Bloch den in typischer Stalinarchitektur errichteten Bau des Kulturhauses zu sehen. Das Gebäude haben die Sowjets errichtet und den Polen geschenkt, wird stolz verkündet.

Bloch dazu: Auch das kann meine Liebe zur Sowjetunion nicht erschüttern!

Die Reisegesellschaft fährt innen im Lift hoch und steht auf dem Dach. Dies ist der schönste Blick, den man in ganz Warschau haben kann! erklärt Bloch.

Die Polen sind verwundert, in ihrem Patriotismus getroffen und von dem großen deutschen Philosophen leicht enttäuscht. Wie kann ein moderner Mensch so was sagen, an diesem Ort! Wo Warschau so viele unübertreffliche Ausblicke zu bieten hat.

Darauf Bloch: Es ist wirklich der schönste Blick, denn von hier aus kann man nirgendwo den Warschauer Kulturpalast sehen! (Zwerenz, Der Widerspruch, S. 78)

Uwe Johnson seinerseits hat dieser Bloch-Geschichte die folgende Mayer-Geschichte zur Seite gestellt:

Oder dramatische Nachrichten wie diese: Mayer ist von der Strassenbahn gesprungen. Was? Ja. Die Strassenbahn wartet vor dem Rotlicht, Mayer sieht sich bequem vor den Schaufenstern der Franz Mehring-Buchhandlung und springt auf sie zu. Hinter ihm her ein Polizist, der ihn anschreit: Sie sind von der Strassenbahn abgesprungen!

Mayer, Realist: Ja.

Polizist: Das kostet Sie Strafe.

Mayer, über die Schulter: Wieviel.

Polizist, hoffnungsvoll: Wissen Sie nicht, was es bedeutet, von der Strassenbahn abzuspringen?

In der Franz Mehring-Buchhandlung erscheint Prof. Dr. Hans Mayer, Direktor des Instituts für Geschichte der Nationalliteraturen und all das, er hat einen Schlips um und all das, er hat in seinem Gefolge einen Menschen in Uniform, der nicht ablässt, ihm von hinten zuzusprechen. Das stört. Herr Prof. Dr. Mayer verhandelt mit den Verkäuferinnen, es geht ihm um ein bestimmtes Werk, sieben Bände, er spricht von Rabatt. Der Mensch in Uniform zerhackt die Verhandlungen aus dem Hinterhalt mit der unermüdlichen Frage: Wissen Sie nicht, was es bedeutet, von der Strassenbahn abzuspringen? Hans Mayer, von den verwirrten Angestellten um Erklärungen befragt, weiss sie nicht. – Der Mensch will Geld von mir. Ich hab’s ihm sofort angeboten. Das ist ihm nicht genug, er will mich überzeugen. Verstehe den Menschen nicht. (Einer meiner Lehrer, S. 17 f.)

Leipzig als Studienort hat Johnsons geistigen Werdegang wesentlich geprägt, nicht zuletzt durch seine Begegnung mit den großen Persönlichkeiten des dortigen universitären Lebens. Die Leipziger Universität war seit 1952 nach dem Namen des Begründers des »Wissenschaftlichen Sozialismus« benannt und empfing den Studenten in ihrem Vorlesungsverzeichnis mit entsprechenden Proklamationen:

Die Aufgaben der

KARL-MARX-UNIVERSITÄT

Im einzelnen stellt sich die Karl-Marx-Universität Leipzig folgende

Aufgaben:

1. Durchführung des Lehr- und Studienbetriebs auf Grund der Studienpläne und unter Anwendung der Erkenntnisse der Sowjetwissenschaft zwecks Ausbildung hochwertiger Fachkräfte.

2. Erziehung aller Angehörigen der Universität zum demokratischen Staatsbewußtsein, zur Freundschaft mit allen friedliebenden Völkern und zum echten Patriotismus.

3. Förderung der wissenschaftlichen Forschung auf allen Gebieten zur Erfüllung der Volkswirtschaftspläne unter besonderer Berücksichtigung der Erkenntnisse der Sowjetwissenschaft [...]

7. Festigung des Bündnisses der Arbeiterklasse und der werktätigen Bauern mit der Intelligenz durch die Vermittlung der neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse an die Werktätigen und durch die Auswertung der Erfahrungen der Aktivistenbewegung.

8. Förderung des Arbeiter- und Bauernstudiums, um die besten schöpferischen Kräfte unseres werktätigen Volkes der Universität zuzuführen.

Die Beschreibung der »Formen des akademischen Unterrichts«, einschließlich der Erwähnung der hochwichtigen Seminargruppe samt »Seminarsekretär«, war im Wortlaut identisch mit dem, was bereits im Rostocker Vorlesungsverzeichnis zu finden gewesen war. Auch das Universitätsleben in der »Demokratischen Republik« unterstand zentraler Steuerung. Was jedoch für den akademischen Alltag nicht unbedingt von Bedeutung gewesen sein muß. »Die Universität«, so Hans Mayer in seinen Lebenserinnerungen, »ist stets, und war es auch in Leipzig, ein autarkes Gebilde.« (Ein Deutscher auf Widerruf, Band 11, S. 51) Die Universitätsstadt Leipzig war von jeher auch Buch- und Messestadt. Das nicht zuletzt sicherte ihre Lebendigkeit auch unter den Verhältnissen des deutschen Sozialismus. Bereits im 18. Jahrhundert erschien Leipzig als ein Ort außergewöhnlich lebendigen literarischen Lebens. Unter anderen hat hier der junge Goethe studiert. 1825 wurde hier der »Börsenverein des deutschen Buchhandels« gegründet. Später kam die »Deutsche Bücherei« dazu, deren weitläufige, jugendstilschöne Lesesäle Uwe Johnson ein zweites Zuhause wurden.

Für den Leipziger Studenten Johnson und seinen Freundeskreis galt uneingeschränkt, was wiederum Hans Mayer festgehalten hat: »In den Fünfziger Jahren wurde alles gelesen, was sich in unserer Institutsbibliothek an Neuem einfand. Besonders wenn der Ludergeruch bürgerlicher Dekadenz zu spüren war. Da ich mich auskannte bei den Leitern der großen westdeutschen Verlage, bekamen wir schöne Bücherpakete als Geschenk. Die Institutsbibliothek und die Deutsche Bücherei: da haben sich Uwe Johnson und seine Freunde planmäßig versorgt.« (ebd., S. 113) Zusammen mit der Universitätsbibliothek und dem Mayerschen »Giftschein«, der Zugang auch zur »dekadenten« und »zersetzenden« Literatur eröffnete, ermöglichte die Bibliotheksstadt Leipzig eine beinahe umfassende Reflexion moderner Kunst und Literatur. Für Johnson gilt: ohne das Studium in Leipzig keine Mutmassungen, jedenfalls was deren Erzähltechnik betrifft. Daß sich die Stadt mit ihrem das kulturelle Milieu noch immer dominierenden »Bürgertum« eher konservativ gab, erwies sich als Vorteil in den Zeiten des Sozialismus. Denn dieses »Bürgertum« trug auch – soweit materiell und technisch möglich – Verantwortung für die repräsentativen Gebäude, die Leipzigs Topographie bestimmten. Von ihnen ist vor allem Leipzigs Hauptbahnhof in Uwe Johnsons Werk eingegangen. Der Mecklenburger hat, mit der Eisenbahn in die sächsische Metropole gekommen, das gigantische Gebäude zuerst als Reisender erlebt und es, ein erfahrener Eisenbahnbenutzer, in seiner Ausnahmestellung unter den europäischen Bahnhöfen auf Anhieb begriffen. Der Bahnhof wurde mit seiner 267 Meter langen Front in den Jahren 1909 bis 1915 errichtet. Er entsprach der bedeutenden Stellung Leipzigs als Verkehrsknotenpunkt. Uwe Johnson hat ihn sieben Jahre später im Dritten Buch über Achim (S. 49 ff.) zum Eingangstor und zu jenem Mittelpunkt der gesamten Stadt gemacht, der kybernetisch das urbane Leben rückkoppelt. Zudem wurde die Bahnhofsansicht vom Autor selbst noch als eines der wenigen Photos bestimmt, die die Begleitumstände enthalten.

Der Bahnhof saß so breit auf dem unbebauten Platz (in dessen Mitte früher eine dichte Kette von Hotels die Ankömmlinge begrüßt hatte), daß er seinen amtlichen Namen zur Seite drückte, damals wie heute trafen sich die Straßenbahnen fast sämtlicher Richtungen auf dem Bahnhof-Vorplatz und nicht auf dem der Republik oder dem des geschlagenen Generals, der vor dreißig Jahren dem deutschen Staat vorgestanden hatte. Auch faßten getrennte Fahrbahnen an seinen Kanten den städtischen Ziel- und Quellverkehr und schleusten ihn nach allen Seiten. So war der Bahnhof Treffpunkt für die Bewohner entgegengesetzter Stadtteile, er lag inmitten, und überhaupt günstiger für den Aufenthalt, da die Straßen der Innenstadt nur die Hälfte des Tages Mahlzeiten oder Waren oder Unterhaltung anboten. [...] Das mächtige graue Gebäude zog östlich und westlich mit hohen Hallen auf den Platz und betrat die Straße, vor der zurückgesetzt verbindenden Front begaben sich die Anfahrten der Mietautos und Lieferwagen. Wie die Ziegelmauer außen verkleidet war mit heldenhaft zerklüftetem Sandgemisch (das heißt rustiziert), so waren innen die hohen Deckengewölbe aus klassischen Kassetten gebildet und von stämmigen Säulenpfosten unterstellt und zeigten nicht den Stahl, der sie eigentlich hielt. Nur ein kleiner Teil der unbenutzbaren Höhe war besetzt mit Verkaufsräumen für Blumen Lebensmittel Fahrkarten Reiseandenken Tabakwaren, in ihrer Größe auch hielt sich die lange Höhle des unteren Durchgangs zur Schwesterhalle; war einer die flachen Stufen zu den Zügen hinaufgestiegen, sah er winzig im Raum geduckt die Holzbuden der Fahrkartenausgabe von oben und ihre staubigen Dächer [...] In diesen Gewölben aber oben und unten kreiselte und strömte tags unendlich und nachts noch dicker Gewimmel von Menschen, von denen wenige abfuhren oder ankamen oder Gäste begrüßten. Bis spät in die Nacht war hier Zeit hinzubringen in den Gaststätten beim Friseur in den Geschäften mit Verabredungen und Spazierengehen inmitten von Gesichtern und Gesten, die unablässig in andere übergingen und andere wurden, selbst das Erwartete kam überraschend und regte auf und bedeutete ferne Städte und die Nacht jenseits der Häuserversammlung und die kräftige Schnelligkeit der Maschinen und plötzlich kenntlich gemachtes (fremdes verwandtes eigenes) Gesicht; zusammengefaßte Bewegung des Lebens und mehr als zu sehen war. (Drittes Buch, S. 45 f.)

Mit derart massiver Eindrücklichkeit, als konzentrierte er das Leben der gesamten Metropole in sich, muß Leipzigs Hauptbahnhof den zureisenden Provinzler Johnson 1954 empfangen haben.

Der bewegte sich denn auch der Erinnerung des Schriftsteller-Freundes Fritz Rudolf Fries zufolge durch die Leipziger Innenstadt als einer, der »sich alles ansieht wie ein zweiter Gulliver, verwundert, aber ein wenig geht ihn das alles nur auf seine Weise an«. (Weimarer Beiträge, 28. Jg., Heft 3, S. 52) Wie sich Johnson selbst diese ziellosen Stadtspaziergange eingeprägt haben, beschreibt eine Passage aus dem Dritten Buch:

Im übrigen fotografierte er wahllos nur was ihm gefiel; ihm gefielen die beiden Häuser aus dem sechzehnten Jahrhundert, die verwittert und fremd allein standen inmitten der öden Leere, zu der ihre Nachbarschaft geglättet lag; auch versuchte er sich an dem Unterschied zwischen hölzernen Wurstbuden auf dem Markt und dem Rathausturm, der in der langen Front aus Galerien und Arkaden den Goldenen Schnitt vergangener Baukunst markierte im Verein mit dem Verzeichnis Kurfürstlicher Privilegien, das als echte altertümliche Schriftzeile das Gebäude umklammerte; aus dem Turm dröhnte grob verstärkt anmutiges Glockenspiel als Schmeichelei für die folgende Stimme, die den Besucher aufforderte die Ausstellung sozialistischen Wiederaufbaus zu besichtigen, denn sie gehe ihn an; er besichtigte sie. (Drittes Buch, S. 21)

In den Jahrestagen schließlich findet sich Johnsons zornige Erinnerung an die Sprengung der Leipziger Universitätskirche auf Anordnung des Experten für sozialistische Kultur, Walter Ulbricht, verarbeitet:

In dem einen Deutschland haben die Kommunisten die leipziger Universitätskirche gesprengt, am Donnerstag, da war es bei uns vier Uhr morgens. Der Studentin Cresspahl war das Gebäude aufgefallen, weil es keine Ziegelsteine zeigte und gemacht war, zwischen anderen Häusern zu stehen, dem Augusteum und dem Bürgerhaus mit dem Café Felsche, das ganz weggebombt war. 1518 eröffnet, 1545 geweiht von Martin Luther, seit 1945 gemeinsam benutzt von Katholiken und Protestanten: lernte das auswärtige Kind auch von dieser Stelle Sachsens, sie wollte ja nicht gleich wieder weg. Nur zu einem Konzert war stud. phil. Cresspahl (erstes Semester) im Innern der Kirche gewesen, in einer Halle, der weder Schiffe noch Galerien zugeteilt waren, in einem bürgerlichen, fast wohnlichen Raum von zurückgesetzter Frömmigkeit, sehr hell, obwohl die im Dach wuselnden Fledermausfenster das Licht gar nicht nach unten abgaben. Nun war es nicht genug gewesen, den Dachreiter abzunehmen, oder bloß von der Spitze die Erdkugel mit dem Kreuz darauf, das Wendische Kreuz, es ging ohne Verhaftung einiger Studenten nicht ab, und nicht ohne Androhung von Verhaftung gegen die Leute hinter den Polizeikordons, falls sie »Empfindungen gegen die Behörden hochpeitschten«. (Jahrestage, S. 1262)

STUDENT BEI HANS MAYER

In Leipzig, nirgends anders, konstituierte sich der »Modernist« Johnson. Hier traf »Ossian«, wie er im neu erworbenen Freundeskreis in der Pleißestadt schon sehr bald heißen würde, auf eine Gruppe kongenial Gleichgesinnter. Hier traf er auch, im Zusammenhang eben dieses Freundes- und Diskussionskreises, Elisabeth Schmidt.

Die Freunde studierten zum Teil bei den gleichen Professoren, deren dominierender gewiß der Professor für Weltliteratur, Hans Mayer, war. Die Signatur seines literaturwissenschaftlichen Denkens, seine hermeneutischen Interessen haben Uwe Johnson wesentlich geprägt. Daneben war Hans Mayer für Uwe Johnson nicht nur eine wissenschaftliche Autorität. Hans Mayer stammt aus großbürgerlichem jüdischem Elternhaus. Insofern verkörperte er die spezifische jüdisch-deutsche Geistigkeit, aus der neben anderen auch Leistungen wie jene von Freud und Marx, Benjamin und Adorno hervorgegangen sind. Wesentlich, auch in der Ausstrahlung auf seinen Schüler, war, daß Hans Mayer, wiewohl als der Marxist, zu dem er sich schon früh entwickelte, stets an der »bürgerlichen« Kunst festgehalten hat, als der Kunst, die ihm am weitesten entwickelt und am facettenreichsten differenziert erschien. Nicht zuletzt seine Herkunft aus der kulturellen Welt des 19. Jahrhunderts machte ihn immun gegen die These, die die Verfeinerung der Kultur mit ihrer »Dekadenz« gleichsetzte. Uwe Johnsons nicht ohne weiteres zu erwartendes Interesse am Fin de siècle mag durchaus ursächlich darin begründet sein. Thomas Mann hat den Thomas Mann-Forscher Hans Mayer geschätzt. Uwe Johnsons Schriftstellerlaufbahn wiederum vollzog sich im Zeichen früh erworbener Thomas-Mann-Bewunderung, die zum Teil durch Ausgaben genährt wurde, die wiederum Hans Mayer veranstaltet hatte. Auch das führte Lehrer und Schüler an Leipzigs Universität in den Jahren 1954 bis 1956 zusammen.

Selbstverständlich war Johnson über Mayers Schicksal während der Naziherrschaft orientiert. Der jüdische Bürgersohn Mayer, 1930 nach dem Studium der Rechtswissenschaft zum Dr. jur. promoviert, schloß sich, ebenso wie sein Freund, der jüdische Großbürgersohn Stephan Hermlin, während der Weimarer Republik der Linken an. Beide gehen, nachdem der »Anstreicher« an die Macht gekommen ist, ins Exil, nach Frankreich zuerst, dann in die Schweiz. Spätestens seitdem konnte Hans Mayer, der da schon an seinem großen Buch über Georg Büchner arbeitete, als ein Oppositioneller betrachtet werden. Als plebejischer Widerständler, der sich zum Konstrukteur hocharbeitet und in den Verdacht der Sabotage gerät, hat ihn später sein Schüler im Dritten Buch porträtiert. Bereits im Oktober 1948 war Mayer dem Ruf der Universität Leipzig als Professor für die Geschichte der Nationalliteraturen gefolgt:

Nein, sie haben mich nicht gereut, meine fünfzehn Leipziger Jahre vom Oktober 1948 bis zum August 1963. Sie konnten dem gewidmet sein, was ich wahrhaft wollte: dem Lehren und dem Schreiben. Damals beschaffte ich mir das Material aller späteren wissenschaftlichen und literarischen Arbeit: den Stoff an Erfahrung wie den Wissensstoff. In Leipzig wurde ich endlich zu mir selbst erweckt. (Mayer, Ein Deutscher auf Widerruf Band II, S. 9)

Bei Johnson war diese Einsicht früh schon verwoben mit der Ahnung, daß es nicht gut enden würde. Tatsächlich mochten beide, der Lehrer Mayer wie der Student Johnson, eine vergleichbare lebensgeschichtliche Erfahrung haben. Beide kamen nach Leipzig in der Hoffnung, einen akzeptablen, weil am ehesten noch weltoffenen und pluralistisch geprägten Ort des marxistischen Lehrens, Studierens und Forschens vorzufinden. Beide verließen Leipzig – und die DDR – nur wenige Jahre später enttäuscht und desillusioniert. Im Fall Hans Mayers durch Schikanen zermürbt. Im Fall Uwe Johnsons durch Berufsverbot unter die Armutsgrenze gedrückt. Und dennoch gingen beide widerwillig, womit die Parallele freilich auch endet; Mayers spätere, fast wehmütige Rückerinnerung an die Anfänge der DDR hat Johnson nie geteilt.

Im Herbstsemester 1954 gab es drei »Möglichkeiten« für einen Germanistik-Studenten:

Die eine hiess Frings und war der letzte König, die andere hiess Korff. Noch eine hiess Hans Mayer. Man kann nicht immer auf seine Freunde hören, insbesondere wenn sie sagen: Das einzig Solide ist die Linguistik, komm mit zu Frings. (Einer meiner Lehrer, S. 13)

Bei Frings belegte Johnson die Klassiker des Mittelalters (später wird er, zusammen mit Manfred Bierwisch, das Nibelungenlied neu übersetzen) sowie Literarisch-sprachliche Übungen an althochdeutschen Texten. Frings’ historisches und linguistisches Wissen muß beeindruckend gewesen sein. Ebenso sein sarkastischer Witz, wenn er studentische Begehren, die er aufgrund der ihm aufoktroyierten politischen Beschränkungen nicht erfüllen konnte, abschlug mit den Worten: »Dann muß ich eben mit Herrn Ulbricht darüber reden.« Im Leipzig der fünfziger Jahre freilich wirkte Frings als – wie immer imponierende – Erscheinung aus einem vergangenen Zeitalter.

Hermann August Korff war weiteren Kreisen bekannt durch seine voluminöse Studie über den Geist der Goethezeit Bei ihm studierte Johnsons Freundin, das bürgerliche »Waldgesicht«. Korff kann als Mayers damaliger geistesgeschichtlich-konservativer Gegenspieler gelten. Johnson hörte bei ihm im Herbst 1954 Deutsche Literatur im Zeitalter des Sturm und Drang (1770–1789), wahrscheinlich auch dessen periodisch wiederkehrende Goethe-Vorlesung.

Anziehender als die Linguistik bei Frings oder die Korffsche Versenkung in den »Geist« vorzüglich der Goethe-Zeit war dem Studienortwechsler aus Rostock die Literaturwissenschaft mit Gegenwartsbezug.

Die Möglichkeit Mayer betritt raschfüssig den Hörsaal 40, hat es noch auf dem Podium sehr eilig, endlich hinter dem Pult angelangt, beginnt fixes Sprechen. Sehr gespannte Stimme, könnte leicht reissen, phonetisch explosiv. Schöne Jahrhundertdurchblicke. (Einer meiner Lehrer, S. 13)

Hans Mayer trat aber nicht nur als ein Kenner in der Morgue der Literaturgeschichte auf, sondern auch als einer, der sehr aufmerksam Notiz nahm von der literarischen Gegenwart und der es durchaus liebte, in deren Verlauf gestaltend einzugreifen. Gleich im Herbstsemester 1954 würde der neue Student Johnson seinen Lehrer von dieser Seite kennenlernen: in der zweiwöchigen Lehrveranstaltung Probleme der deutschen Gegenwartsliteratur. Zudem unterrichtete Hans Mayer nach streng komparatistischem Prinzip. Bei ihm bekam man die Romantik im europäischen Kontext statt in der »marxistischen« Reduktion auf ihr »reaktionäres Wesen« vorgestellt, wie es die Spezialität des »Blonden Gifts« gewesen war. Das erste Referat, das der Student bei seinem neuen Lehrer hielt und das zur Entdeckung des Uwe Johnson durch den Professor Hans Mayer führte, war in diesem Sinne eines über den englischen Dramatiker Otway. Hans Mayer wußte die Grenzen zu überschreiten, sprach wie selbstverständlich im Rahmen einer Vorlesung über Deutsche Literatur im Kaiserreich auch zu Franz Kafka, über den dann der Student Johnson eine biographische Arbeit schrieb.

Zur wissenschaftlichen Aura Hans Mayers kam die politische Fama. Uwe Johnson notierte in seinem Erinnerungstext einige Facetten: daß man es bei Mayer mit einem Gast aus der Bundesrepublik zu tun habe; andererseits habe der Mann stets Streit mit der Partei, sein Einfluß überlebe diesen aber auch mit Zuverlässigkeit; das Ziel dieses Kölners sei, in Leipzig »den Marxismus auf Weltniveau« zu bringen. Dazu kam das Charisma des international Gereisten und das der persönlichen Bekanntschaft mit den Größen der Literatur.

Professor Mayer, prall in meist dunkelblauen Anzügen, Schlips wie gewünscht, Taschentuch in der Brusttasche, eine bürgerliche Erscheinung. Er sagt, vor sich hinblickend, beobachtet von allen vierhundert Plätzen des hoch aufsteigenden Hörsaals, er beginnt gemütlich: Neulich in Budapest [...] Er schliesst Vorlesungen mit dem Hinweis, dass die nächsten ausfallen, nämlich er muss nach Paris, einen Vortrag halten. (Einer meiner Lehrer, S. 13)

Unbenommen aller Bewunderung scheint Johnsons Verhältnis zu seinem Lehrer in bestimmten Bereichen auch ambivalent gewesen zu sein, zumal in dem der Politik. Vielleicht mußte es dies sein bei dem Ort ihrer Bekanntschaft und angesichts der Zeit, in die diese Bekanntschaft fiel: die DDR am Ende der kurzen Tauwetterperiode, vor dem Hintergrund versuchter Entstalinisierung und dem Aufstand in Ungarn. Professor Mayers Position mußte schon objektiv eine doppeldeutige sein: Einerseits war er von Frankfurt am Main nach Leipzig gekommen, hatte sich also »für den Sozialismus entschieden«. Andererseits stand er mit seiner beharrlichen Forderung nach literarischer Opulenz und einer Zulassung der »spätbürgerlich dekadenten« Literatur der Joyce, Döblin und Faulkner unbeugsam quer zur offiziell gewünschten Ästhetik:

Nieder mit der Stalinschule des sozialistischen Realismus! ruft Professor Mayer aus. Der Hörsaal, manchmal bis auf die Treppen besetzt, kann ihm nur das Wort »unerträglich« nachweisen. Eine Figur in einem sowjetischen Roman hat ihn gelangweilt. Das ist alles.

Die Literatur ist nicht teilbar! ruft er aus. Nach dem Wortlaut ist aber nur zu belegen: An einer Äusserung J. R. Bechers, des Kulturministers der DDR, über Gottfried Benn, sonst genannt Prototyp volksfeindlicher Dekadenz, weist Professor Mayer sehr ausführlich den Schmerz nach, den der Kulturminister der DDR über den Tod seines Feindes in West-Berlin empfunden hat. (Einer meiner Lehrer, S. 14 f.)

Uwe Johnson hatte, in seinem Rostocker Protestauftritt, radikal und coram publico gegen die Parteilinie opponiert. Das war eindeutiger geschehen, als es der Professor jemals durchführen konnte. Der Gelehrte mochte dafür seine Gründe haben. Eine fast sentimentale Zuneigung verband Hans Mayer mit dem ehemaligen SPD-Mann Wilhelm Pieck, jetzt Präsident der DDR. Uwe Johnson hat das sehr genau, mit einer gewissen Ratlosigkeit, registriert:

Professor Mayer berichtet seinen Zuhörern abermals von einer Reise, die Reise war diesmal bloss nach Ost-Berlin gegangen, er sagt mutwillig, mit leerem, wachem Blick gegens Auditorium: »Unser verehrter Alterspräsident –.« Wir waren nicht gegen Pieck. Zwar glaubten wir kaum, dass Übergriffe der Behörden unterblieben wären, »wenn das Pieck wüsste«; nach unserer Meinung erfuhr Pieck nichts mehr. Aber Herr Professor Mayer hatte sich soeben mit einem Symbol des Staates mehr als nötig identifiziert. Im Gegenteil, er hatte sich soeben von diesem Staat und Übergriffen der Behörden distanziert, indem er seine Achtung auf eine Privatperson beschränkte. Also was nun. (Einer meiner Lehrer, S. 14)

DAS THOMAS OTWAY-REFERAT

»Also was nun?« Diese Frage bestimmte den vielschichtig verwickelten Komplex der Klausuren, die Uwe Johnson im Laufe von zwei Jahren bei Hans Mayer in Leipzig geschrieben hat, beginnend im Frühjahr 1955 mit der Übung Hauptwerke der Weltliteratur im XVI. und XVII. – so steht es im Studienbuch Johnsons – respektive Meisterwerke der europäischen Literatur im 17. Jahrhundert, wie Hans Mayer den Titel erinnert:

Trotzdem hatte meine Arbeit im Bereich der Vergleichenden Literaturgeschichte ein unerwartetes Ergebnis. Ein Seminar über Texte der europäischen Literaturen im 17. Jahrhundert wurde angekündigt. Dazu gehörte der Engländer Thomas Otway, ein Dramatiker, dessen Schauspiel Venice Preserved zu Beginn unseres Jahrhunderts durch Hugo von Hofmannsthal übersetzt und bearbeitet worden war: Das gerettete Venedig. Bei Verteilung der Referate zu Beginn des Semesters war auch das Thema Otway vergeben worden. Der Student, der im Seminar seinen Text vortrug, ein langer Blonder mit merkwürdigen Augen, war eine Überraschung. Nach ein paar Minuten hörten wir alle aufmerksam zu. Er las sehr gut vor, ausgezeichneter englischer Akzent beim Vortrag der Zitate aus Otway, reines Norddeutsch, ganz und gar kein Sachse also; er hatte gründlich gearbeitet. Alles paßte zueinander: eine klare Schreibweise, kluge, bisweilen boshafte Bewertungen des Otway, wie vor allem auch des Hofmannsthal. Auf irgendwelchen geistesgeschichtlichen Idealismus hatte sich dieser stud. phil. nicht eingelassen. (Mayer, Ein Deutscher auf Widerruf, Band II, S. 111 f.)

Johnson hielt das Referat über Thomas Otway, das Hans Mayer mit »Sehr Gut« benotete, 1959. Das Ereignis findet, in ironischer Umkehrung der realen Details, Eingang in seinen erstveröffentlichten Roman, mit dem Anglistik-Dozenten Dr. Blach in der Rolle des Professors Mayer und einem langweiligen, aber ebenfalls blonden Dicken in der Rolle des Studenten. Die Passage skizziert zudem das Spannungsverhältnis zwischen idealistischer Geistesgeschichte und marxistischer Sozialgeschichte der Literatur, wie es für Leipzig als Studienort damals charakteristisch war, verkörpert durch Antipoden wie Mayer und Korff. Weiterhin scheint darin das Ambiente von Johnsons akademischer Welt in der sächsischen Metropole auf, seine zeitweiligen linguistischen Interessen etwa und seine Teilnahme an englischer Sprach- und Literaturgeschichte:

Und da Dr. Blach in der unerschöpflich bereitwilligen Aufmerksamkeit seines Blicks verharrte, fügte der Redner betroffen hinzu: Das sei es. Trat neben das Pult, kippte sein Papier in die Armbeuge, begab sich vom Podest auf die Ebene des Fussbodens und knickte krumm über dem leeren schützenden Stuhl in der Mitte zwischen den Tischen. Aber Dr. Blach hatte längst gesagt »Ach so« wie überrascht mit seiner klaren gewandten achtsamen Aussprache, eilig setzte er hinzu: »Ja. Ich danke Ihnen. Bitte. Setzen Sie sich doch, bitte«, denn es war nicht nur Höflichkeit in Herrn Blachs Benehmen, während die Stuhlbeine auf den Fliesen kratzten und scharrten und die Jungen und Mädchen sich rückwärts wandten und dem Seminarleiter mitteilten ihre Meinung über Anlage und Aussage des angehörten Referats; reglos hielt er seinen kühlen zweiflerischen Kopf an der erkalteten orgeldurchtönten Wand und gewärtigte in seiner Vorstellung dass diese Arbeit angefertigt war in den überfüllten Sälen der Bibliothek rücksichtslosen Gesprächen kleinmütigen Spaziergängen und scheinbar kristallklaren Nachtstunden in einem möblierten Zimmer zwischen Bett und Waschtisch mit Mühe und Anspannung; er einigte sich auch freundlich blickweise mit dem Referenten, in dessen allmählich beruhigtem Gesicht über den Wangenknochen die Röte blasser wurde von einem Atemzug zum anderen. (Mutmassungen, S. 104 f.)

Der Student Johnson hing einer undogmatisch marxistischen, ideologiekritischen Methode an, man würde sie heute wohl sozialgeschichtlich nennen. Das Referat zeugte von frappierenden Kenntnissen in der Geschichte des englischen Materialismus. Die leise Ironie des Textes gilt Hofmannsthals bürgerlicher Freundschafts-Emphase, wie sie dessen Übersetzung des Otway-Textes charakterisiert. Das Referat erweist sich zudem als evidenter Fortschritt gegenüber allen Arbeiten Johnsons aus seiner Rostocker Zeit. Zum ersten Mal gelang ihm hier auch die konsequente Auflösung des Wissenschaftsjargons in die farbige Besonderheit seines Erzähltons. Die neue Sprache erscheint durch die außergewöhnliche Wortstellung, die parataktischen Satzfügungen und die objektivierende, umschreibende Benennung allzu bekannter Sachverhalte konturiert. »Ossian« hatte sich das philologische Wissen durchaus auch mit Blick auf die Babendererde, an der er weiterhin schrieb, angeeignet. Die sozialgeschichtlichen Konturen des Elisabethanischen Zeitalters, wie sie der Student mit Blick auf Otway nachzeichnete, kehren als Inhalt der Englischstunde in der Babendererde wieder. Dort streiten sich Klaus und Jürgen über die »mental reservations« der englischen Puritaner und deren jungfräulicher Königin Elizabeth. Bemerkenswert scheint weiterhin Uwe Johnsons Interesse an dem »Puritaner« John Milton, dem ein ganzes Kapitel gewidmet wird. Johnson hat Milton als den Dichter seiner Nation porträtiert, fasziniert vom renaissancehaften Nebeneinander von Dichtung und politischer Aktion, wie es Miltons schriftstellerische Existenz auszeichnete. Der Text, nun schon in Johnsonscher Manier auf nur zwei Drittel der jeweiligen Seite mit freiem Rand für Korrekturen und regieähnliche Stichworte geschrieben, umfaßte 36 handschriftliche Seiten. Erst 1988 wurde er im Leipziger Universitätsarchiv, zusammen mit einigen Lebensläufen und den anderen Klausuren, wiederentdeckt.

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