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ZWEITES KAPITEL
DIE ELTERN UND DIE »DEUTSCHE HEIMSCHULE«

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GEBURTSORT CAMMIN UND DIE ANFÄNGE EINER PERSON.

DIE ELTERN, ABER KEIN LOB DES HERKOMMENS

Die Anfänge der Person Uwe Johnsons liegen mehr im dunkeln als die Anfänge seines Geschlechts. Das hat er selbst so gewollt. Distanzierung erscheint als Programm. Es gibt bei ihm kein Gottfried Kellersches Lob des Herkommens, auch keinen Fontanisch ausgeglichenen Rückblick auf die Kinderjahre. Undenkbar im Fall des Uwe Johnson ist die freundlich-ironische Beschreibung der astrologischen Konstellation zur Stunde der eigenen Geburt – wie immer Goethe es in Dichtung und Wahrheit gehalten und noch Günter Grass am Beginn der Blechtrommel darauf angespielt hat. »Die Konjunktur war glücklich« – diesen Satz hat der nicht schreiben können, der im Zeichen des radikalen Bruchs mit der Elterngeneration erwachsen werden und schreiben lernen würde.

Im Gegenteil: Seine Sache mußte die Distanzierung vom Vorausgegangenen sein. Vom »Dritten Reich« des »Führers« Adolf Hitler zumal, in das er hineingeboren wurde, das er in besonderer, intensiver Weise erlebte, da die Eltern ihn auf eine Eliteschule der Nazis gegeben hatten. Johnsons Blick auf die eigene Biographie war daher auch notwendigerweise bestimmt vom Registrieren der Brüche. Das ist bereits an den Lebensläufen ablesbar, erst recht an der Literatur, die er verfassen wird.

Es gibt Lebensläufe Uwe Johnsons, die beginnen überhaupt erst mit dem Jahr 1945. Zu diesem Zeitpunkt kam er aus Hitlers »Deutscher Heimschule« frei, die siegreiche Rote Armee stand vor den Schultoren. Uwe Johnson mußte seine Anstalt nicht mit der Panzerfaust in der Hand verteidigen, war dafür noch um ein weniges zu jung. Noch die Reflexionen der Begleitumstände, verfaßt 1979, fünf Jahre vor seinem Tod, setzen erst mit dem Jahr 1945 ein. Wiederum einen anderen Lebenslauf beginnt der bereits Erwachsene im März 1958 wie folgt:

Mein Name ist Uwe (Klaus Dietrich) Johnson. Ich wurde geboren am 20. Juli 1934 in Kammin.

Die Klammer, die die beiden zusätzlichen Vornamen einschließt, kann man sie verstehen als die ironische Distanzierung eines, der kein »Dietrich von Bern« zu sein wünschte, als die zeichenhafte Abgrenzung des Sohnes gegen eine elterliche Namensgebung, die er als Teil des Programms auch verstehen mußte, das ihn auf die »Heimschule« brachte? Anderes tritt eindeutiger in Erscheinung in zwei Lebensläufen, die im Leipziger Universitätsarchiv lagen. Im jüngeren der beiden parodiert der Sohn die Titelsucht seiner Mutter, der folgend er im ersten den Vater als »Oberkontrollassistent« und »Obertierzuchtwart« zu apostrophieren wohl angehalten war. – Mit brillantem Spott wird er später, im Abschlußband der Jahrestage, solch autobiographische Herkunftsbeschönigung noch einmal vorführen:

Soziale Herkunft, Beruf des Vaters: Landwirt. Im Fragebogen von 1949: Diplomwirt. 1950: Direktor der städtischen Gärten, Parks und Friedhofsbepflanzung von (sei unbesorgt. Ich verschweige den Namen der Stadt. Überdies hast du ihn ja regelmäßig ausgesprochen, wie er nun auf polnisch lautet. Besten Falls Anita hat ihn verstanden) eines größeren Gemeinwesens im heutigen Volkspolen. Bürgerlich. (Jahrestage, S. 1722)

Der »Obertierzuchtwart« Erich Johnson schwingt sich in der Literatur des Sohnes zum »Direktor der städtischen Gärten« auf.

In seinen Lebensläufen hat Uwe Johnson also schon früh Distanz zwischen sich und seine Herkunft gelegt. Er hat andererseits Erich Wünderich, als dieser an seiner Johnson-Monographie arbeitete, den Namen der oben ausgesparten Stadt durchaus wissen lassen. Das geschah am 20. September 1972, mit einer für den in persönlichen Angelegenheiten recht Verschlossenen beispiellosen Offenheit:

Geboren am 20. Juli 1934 in dem heutigen Kamien Pomorski (mit Akzentzeichen auf dem n), daher später als Pommer reklamiert. Tatsächlich war die Mutter eine Bauerntochter aus dem Dorf Darsewitz auf dem Westufer der Dievenow, sie ging zur Geburt des ersten Kindes aus Anklam zurück auf den Hof der Eltern, also in das Krankenhaus Kammin auf dem Ostufer, und ist da wohl zehn Tage geblieben. Der Vater jedoch war aus Kladow in Mecklenburg, Absolvent des landwirtschaftlichen Seminars Neukloster, Gutsverwalter und Inspektor auf meist mecklenburgischen Gütern, seit ungefähr 1930 Angestellter des Tierzuchtamtes Greifswald und Oberkontrollassistent der Molkerei Anklam; auch die Gegend, in der das zehnjährige Kind entscheidend auf eine Zukunft vorbereitet wurde, war mecklenburgisch: das Dorf Recknitz, die Stadt Güstrow.

Im Krankenhaus von Cammin (oder auch: Kammin; Johnson gebraucht beide Schreibweisen), an der Dievenow also, dem heutigen Kamień Pomorski an der Dziwna, kam Uwe Johnson am 20. Juli 1934 zur Welt. Die Kreisstadt, im Verwaltungsbezirk Stettin gelegen, beheimatete in den dreißiger Jahren rund 6000 Einwohner. Als »verlorene Heimat« sah Uwe Johnson Cammin auch später nicht, wenn er den Ort anläßlich von Besuchen bei seinen Großeltern auf Wollin wiedergesehen hat. Cammin besaß bereits alle Ingredienzen, um zu einem »Wendisch Burg«, dem Spielort des Erstlings Ingrid Babendererde, zu werden. Sein Dom, errichtet im Jahr 1176, stammt noch aus der Hansezeit der Stadt und gehört der Backsteingotik an. Einer, der die Gegend ebenso gut kannte wie Uwe Johnson selbst: der Chef der Gruppe 47, Hans Werner Richter, hat anschaulich, weil auf eigene lebensgeschichtliche Erfahrung gestützt, im Etablissement der Schmetterlinge geschrieben:

Die Stadt heißt Cammin. Es ist eine Kleinstadt, eine Landstadt, halb bäuerlich, halb proletarisch, sehr arm, aber sie besitzt einen Dom, den ich schon in meiner Kindheit als den Camminer Dom kannte. Cammin liegt an der Dievenow. Hier, zwischen den beiden Inseln Usedom und Wollin, läuft die Oder mit drei Mündungsarmen ins Meer, mit der Peene, der Swine und der Dievenow. Bevor die Oder mit ihren drei Armen ins Meer kommt, muß sie noch durch das große Haff und durch das Achterwasser, große, fast riesige Wasserbecken. Da auch die beiden Inseln von Seen durchzogen sind, muß man von einer Wasserlandschaft sprechen, einer Landschaft des Meeres. Die Dievenow ist der östlichste der drei Mündungsarme, und hier an der Dievenow, in der kleinen Stadt Cammin, wurde Uwe Johnson geboren. (Richter, Etablissement der Schmetterlinge, S. 173)

Richter spricht auch an, was für das Kind Uwe Johnson noch wichtiger gewesen sein wird als die Geburtsstadt Cammin: nämlich die Insel Wollin – von der Ostsee durch das Stettiner Haff, von Usedom durch die Swine und vom Festland durch die Dievenow getrennt. Auf Wollin verbrachte der Knabe glückliche und lebenslang unvergeßliche Ferien auf dem Hof der Großeltern mütterlicherseits. Was sich im Lied der Pommern eher einfach artikuliert: »Blaue Wälder krönen/Weisser Dünen Sand./Pommernland, mein Sehnen/Ist dir zugewandt« – für Uwe Johnson galt es seit frühen Kindertagen: Die Insel geriet ihm zu einem Ort der Sehnsucht, zu einem Refugium vollends vor den politischen Forderungen des Schulalltags. Zeitlebens gedachte er der Stunden an diesem Ort, in den Mutmassungen hat er ihnen ein erstes Denkmal gesetzt:

Oder war er es selbst, der glücklich gewesen war in dem weiten Land am Wasser auf dem grossen Hof, wo unzählig nebeneinander die Leiterwagen standen in der Sonne und die Luft der blühenden Linden gewichtig vor den kühlen Zimmern stand, über dem klaren Spiegel des frühen Flusses, in dem fügsamen Knistern des Schilfs an der schweren Biegung des Kahns?

Die Erinnerung, wie sie in den zitierten Zeilen aufblitzt, galt dem, was man Uwe Johnsons allererste Heimat nennen könnte und was vor ihm bereits den Malern Caspar David Friedrich (geboren in Greifswald) und Philipp Otto Runge (geboren in Wolgast) Heimat und Inspiration gewesen war. In beider Landschaftsbilder ist die Ostsee-Küsten-Landschaft eingegangen, findet dort ihren Ausdruck im Sehnsuchtsblick übers Wasser. Das Wasser, auf das der Betrachter dieser Bilder blickt – und diesen Tatbestand haben Caspar David Friedrichs und Philipp Otto Runges Gemälde mit Uwe Johnsons literarischem Werk gemein – ist immer die Ostsee. Dabei gilt, was wiederum Hans Werner Richter in seinem Buch über Pommern geschrieben hat: »Meer, Steilküste, Kreidefelsen, Seen, das Haff, das Achterwasser, Flüsse, Meeresarme und Häfen – und die Landschaft ist romantisch. Auch ein Realist kann sie nicht anders sehen.« Auch der Landschaftsepiker Johnson wurde in diesem Zusammenhang zu einem Romantiker aus Realismus.

Erste Heimat auf Wollin also, wie sie ein Leben lang in der Erinnerung eines Menschen als Vorschein unablässig gesuchten Lebens präsent sein kann. Doch wirkliche Heimat muß erträgliches Leben auch für den anderen, den Fremden zumal, bedeuten. Diese Wahrheit hat sich im Fall des Uwe Johnson bestätigt, eingebettet in die Verhältnisse der Familie Sträde, der Vorfahren mütterlicherseits. Bei den Eltern Uwe Johnsons wurde der damalige »Führer und Reichskanzler« Adolf Hitler durchaus geschätzt. »Noch als Briefmarke kam er ins Haus; was nützte die Faust, die ihm heimlich aufs Gesicht schlug.« Auf Wollin war das anders; besser; gerechter. Da nämlich »schwoll« Hitler zur Gefahr an, »wenn bei den Grosseltern die Kriegsgefangenen am Tisch essen durften, und er grinste, wenn sie vor dem Besuch des Ortsbauernführers in die Küche gebeten werden mussten«, so hat Johnson selbst in Begleitumstände sich dieser Ferientage entsonnen (S. 26). Im »fügsamen Knistern des Schilfs« auf Wollin blitzte dem Autor der Mutmassungen also die heilsame Erinnerung an die selbstverständliche Humanität gemeinsamen Essens mit den Fremden auf, wie sie bei den Großeltern praktiziert wurde. Auch politisch stellte dieses Wollin also eine Insel dar in Hitlers gleichgeschaltetem Reich. Auch deshalb liebte der Knabe sie so sehr. Inseln als Orte imaginierten Friedens und als Zuflucht vor Verfolgung würden in der späteren Biographie des Mecklenburgers eine große Rolle spielen, bis hin zur Umsiedlung auf die Themse-Insel Sheppey im Jahr 1974.

In Cammin dagegen war die Atmosphäre eine andere. Die Kreisstadt lag näher am politischen Geschehen jener Tage. Hans Werner Richter erinnert sich im Etablissement der Schmetterlinge weiter:

Einmal, lange vor Uwes Geburt, habe ich in dieser Stadt unter roten Fahnen demonstriert, drei Jahre vor Hitlers Machtantritt, doch es gab dort nur Deutschnationale und Nationalsozialisten, SA-Leute und Stahlhelmer, und so wurden wir durch die Stadt gejagt, mit Beschimpfungen, mit Gejohle und mit schrecklichen Wurfgeschossen, die aus allen Fenstern kamen. Seitdem haßte und fürchtete ich diese Stadt. Sie war für mich der Inbegriff der Reaktion und bornierten Rückständigkeit. (Richter, Etablissement der Schmetterlinge, S. 173)

Gesellschaftliche Unterschiede mögen hinzugekommen sein, die Hans Werner Richter in die Überlegung gefaßt hat, daß

Uwes Vater [...] Milchinspektor [war], und mein Vater war Fischer, ein kleiner, aber trotzdem gravierender Standesunterschied in der damaligen pommerschen Gesellschaft. Ein Milchinspektor gehörte dem kleinen Bürgertum an, ein Fischer aber nicht, der eine wurde bis zu einer bestimmten Grenze mehr von unten herauf angesehen, der andere von oben herab, ein Milchinspektor inspizierte die Milch eines ganzen Bezirks, er stand wahrscheinlich einer großen Molkerei vor, besaß also bedingte Macht und war ein geachteter Mann, ein Fischer aber fuhr Tag für Tag und oft jede halbe Nacht aufs Meer hinaus und mußte sehen, wie er seine Fische verhökern konnte. (ebd., S. 173 f.)

In der Tat: Uwe Johnsons Vater zählte zu den Honoratioren, darin das Idol seiner eigenen Frau. Sie hat, wie bereits erwähnt, ihre Hochachtung vor dem obersten kontrollierenden Molkereiassistenten des Landkreises noch in die Lebensläufe des Sohnes hineinredigiert.

Die soziale Stellung des Vaters mußte die Neigung der Eltern, an das »Dritte Reich« und seinen »Führer« zu glauben, bestärken. Der Sohn Uwe hat seine soziale Herkunft mit der ihm eigenen Sachlichkeit in Daten des Lebenslaufs (bislang unveröffentlicht) beschrieben:

Mein Name ist Uwe Klaus Dietrich Johnson. Ich wurde geboren am 20. Juli 1934 in Kamien (Kammin/Pom.). Mein Vater Erich Johnson, Diplomlandwirt, starb 1946. Er war beschäftigt als Kontrollassistent und Tierzuchtwart von der Molkerei Anklam und vom Tierzuchtamt Greifswald. Meine Mutter Erna Johnson geborene Sträde (49), bis zum Tode meines Vaters Hausfrau, arbeitete danach als Heimerzieherin und Näherin, schliesslich als Schaffnerin der Reichsbahn; sie verliess die Demokratische Republik persönlicher Umstände wegen im Herbst 1956. Ich habe eine achtzehnjährige Schwester, die Stenotypistin ist und mit meiner Mutter die Republik verlassen hat.

Der Vater Erich Ernst Wilhelm Johnson, 1900 geboren, war seit dem 6. November 1931 mit Erna Johanna Sträde, geboren den 15. März 1909, verheiratet. Beide kamen aus ländlichem Milieu. Beide nahmen, als ihre gemeinschaftliche Lebensaufgabe, den sozialen Aufstieg in Angriff. Uwe Johnson selbst hat dazu geschrieben, in seiner Vorstellung als neues Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung (veröffentlicht in deren Jahrbuch 1977), er habe

eine Bauerntochter aus Pommern zur Mutter [...], jedoch nicht aus jenem hinteren Landesteil, von dem es lateinisch heißt, er singe nicht, sondern aus dem Gebiet westlich der Oder, 1648 schwedisch und 1720 preußisch geworden, was einem 1934 Geborenen als Obrigkeit den Preußischen Ministerpräsidenten Hermann Göring einträgt. [...] Zum anderen, es gefällt Leuten, mich einen Mecklenburger zu nennen, als sei das ein verläßliches Kennzeichen. Dafür ist nachweisbar, daß mein Vater geboren wurde im Ritterschaftlichen Amte Crivitz und aufwuchs im Domanialamt Schwerin. [...] Dem bin ich verbunden nicht nur durch einen Vater, einen Absolventen des Landwirtschaftlichen Seminars Neukloster und Verwalter herrschaftlicher Güter, sondern auch durch eigene, ausgiebige Beschäftigung mit dem Boden dieses Landes, beim Kartoffelwracken, Rübenverziehen, Heuwenden, Einbringen von Raps und Roggen, des Umgangs mit Tieren auf diesem Boden nicht zu vergessen. (ebd., S. 159)

Anklam gab im Lebensplan der Eltern die entscheidende Station ab. Bereits 1934 erscheint die Familie unter der Anklamer Adresse »Am Markt 23« als gemeldet. Alles spricht also dafür: Lediglich die Mutter war zur Geburt des Kindes nach Cammin, in das ihrem elterlichen Hof am nächsten gelegene Krankenhaus, zurückgegangen. Johnson selbst hat später in dem Interview mit Wilhelm Johannes Schwarz (S. 88 f.) ausgeführt, daß er »die ersten Jahre (s)eines Lebens« an einem Ort in Mecklenburg verbracht habe. Da sprach er von Anklam.

Die Verbindung nach Cammin allerdings dauerte an. Sie war nun auch leichter aufrechtzuerhalten. Denn spätestens seit 1936 hatte das automobile Zeitalter im Haus der Johnsons eingesetzt. Das geschah in Form eines DKW-Kleinwagens, der ein Dienstwagen für Erich Johnson und ein willkommener Anlaß für seine Frau Erna war, sich der Führerscheinprüfung zu unterziehen. Auch darin setzte der Geist der Zeit sich durch. Keine zwei Jahre vor der Geburt des Uwe Klaus Dietrich war die erste der famosen Autobahnen des »Führers« eingeweiht worden, jene zwischen Köln und Bonn. Der Besitz eines Autos freilich war noch längst nicht an der Tagesordnung. Außergewöhnlich war erst recht, daß eine Frau den Führerschein erwarb. Die sozial erheblich ehrgeizige Erna Johnson absolvierte die praktische Prüfung ganz als Honoratiorenfrau. Sie erregte bei dieser Gelegenheit Aufsehen durch ihren ausladenden Sommerhut. Nach ihm muß sie sogar einmal gefaßt haben, als der mecklenburgische Sommerwind ihn entführen wollte. Das wiederum kostete die Aspirantin beinahe die Prüfung, ereignete der Vorgang sich doch am Volant. Doch Erna Johnson bestand. Nun fuhr sie oft und gern nach Wollin und Cammin und hatte den Knaben im Auto bei sich. Jetzt erblickt er, der später ein Reisender aus Leidenschaft sein wird (und dennoch nie den Führerschein machen wird), die schwarzen Wasser der Dievenow. Eine schillernd sich schlängelnde Schlange aus Wasser. Die Wegstrecke verlief mit Wasserblick auf beiden Seiten. Eine Straße, die sich dem Wasser anschmiegte, als ginge es unentwegt in die Ferien. Auf diese Weise, mit der Mutter zusammen im eigenen Wagen, die Mutter nun einmal ganz für sich allein, vermag einer zu lernen, das Reisen zu lieben für ein ganzes Leben.

Nach 1945 gehörte die frühe Gegenwelt Wollin zu Polen. Uwe Johnson besuchte da bereits eine der »Neuen Schulen« der späteren DDR. Und fand historisch gerecht, was sich in seiner nahen Verwandtschaft abspielte. Vergaß dennoch nie die Geborgenheit, die er auf Wollin erfahren hatte. Im Gegenteil: Daß Wollin in der Konsequenz des verlorenen Eroberungskrieges an Polen fallen sollte, ließ die Insel in den Mutmassungen vollends zum Ort jener Heimaterfahrung und Heimaterinnerung werden, für die sich, paradox genug, als unabdingbar erweist, daß sie real unerreichbar zu sein hat.

»Am Markt« in Anklam wohnten die Johnsons nur einige Jahre. Erkenntnisse über diese Zeit gehen einerseits auf Uwe Johnsons Leipziger Studienakte zurück, vor allem auf Berichte einer Nachbarin, die den Knaben Uwe in den zur Rede stehenden Kinderjahren erlebt hat. Im Sinne der Literatur als dem Gedächtnis der Menschheit erscheint als konsequent, daß diese Frau selbst Aufnahme in das Werk Uwe Johnsons gefunden hat. Im Abschlußband der Jahrestage, in dem Johnson zurückkehrt an die Stätten von Kindheit und Jugend, tritt der Schüler Lockenvitz auf. Dieser »freie deutsche Junge« erscheint als ein Alter ego wie eigentlich kein zweites in Uwe Johnsons Literatur. Es ist denn auch Lockenvitz, »der die Frau Knick aus der verlorenen Heimat kannte, eine vermögliche Bürgerstochter, keine Tochter von Arbeiter und Bauern«. (Jahrestage, S. 1814) Bei dieser Dame handelt es sich um die Ehefrau Anneliese des Englischlehrers von Uwe Johnson, Dr. Hansjürgen Klug. Dieser Pädagoge wurde von seinen Schülern in Güstrow »Clever« geheißen und von Johnson als »Hansgerhard Knick« nur unbedeutend verfremdet in die Jahrestage hineingenommen. Anneliese Klug, eine geborene Röhl vom Jahrgang 1923, kam in Anklam zur Welt, wuchs dort auch auf und machte 1942 ihr Abitur. Sie fungierte zeitweilig als eine Art Kindermädchen für den Knaben Johnson. Die 13- bis 14jährige Anneliese Röhl wohnte mit Johnsons im gleichen Haus. Das war »Am Markt 23«. Heute klafft dort eine große Lücke, Folge noch des Krieges. 1937 standen die Johnsons unter dieser Adresse im Anklamer Adreßbuch. Der zweijährige Uwe wurde von Anneliese viel in der Stadt herumgefahren, weil die Mutter meinte, die eher triste Umgebung des Mietshauses sei ihm wenig ersprießlich. Ein »reizendes« und stilles Kind ist der Junge gewesen, dessen spiralige rotblonde Locken die Mutter freilich schon früh stutzte, auf daß ihr Sprößling »männlicher« aussehe. Wenn irgendwer, so war dieses Kind ein »Lockenvitz«. Auch die frühesten Fotos zeigen ihn so, ganz vertieft in sein Spiel und ernst in Richtung des Photographen schauend. Auf dem Spielanzug aber, über dem Herzen des Kindes, erkennt der Betrachter das Zeichen des Frauenschaftsverbandes des »Dritten Reiches«. Der hier noch spielte, wird fortgegeben werden zur höheren Ehre eines »Führers«. Uwe Johnsons Mutter war überaus tätig in diesem Zusammenhang. Erich Johnson dagegen galt nicht als ein besonders überzeugter Nazi. Niemand würde später verstehen, daß die Rote Armee diesen ruhigen Mann ins von den Nazis übernommene KZ Neubrandenburg verbringen würde. Der Vater hatte sich politisch eigentlich nie exponiert. Seine politische Überzeugung war geradezu unbekannt. In die Partei trat er erst spät, im Krieg – genau am 1. März 1940 – und da unter erheblichem Druck, ein. Einen Reflex dieser Tatsache bietet die Vaterfigur des Dritten Buchs über Achim. Überhaupt tat Erich Johnson sich wenig hervor, und wenn, dann allenfalls in beruflicher Beziehung. »Verstanden hat sie ihren Mann, glaube ich, nicht« – so die Nachbarin Anneliese Klug über Erna Johnson. Die Mutter ihrerseits gehörte nie der Partei an. Doch die Mitgliedschaft stellt in unserem Zusammenhang gar nicht das Wesentliche dar. Man dürfte nämlich bei den Johnsons für das Neue Reich vor allem deshalb plädiert haben, weil man sich von ihm die Erfüllung der eigenen sozialen Aufstiegsträume versprach. Aber auch lesend strebte man nach Höherem. Es gab Bücher, die man 1945 auf der Flucht vor der Roten Armee von zu Hause mitnahm. Deren Spannweite reichte »von der gebundenen ›Gartenlaube‹ bis zu ›Die letzte Reckenburgerin‹ von Louise von François (1817–1893)«, so erinnern es die Begleitumstände (S. 34). Der Vater pflegte der Mutter solche Literatur aus Anlaß von Geburtstagen und anderen Festen zu schenken – auch wenn er es gar nicht gern sah, daß sie diese dann süchtig las. Die Familie des »Obertierzuchtwarts« Johnson gab sich also vom DKW bis zur Lektüre als Aufsteigerfamilie, und diesen Aufstieg hatte Hitlers Regime möglich gemacht. Das band die beiden Johnsons an ihren »Führer«, so wie es Millionen anderer »Volksgenossen« verpflichtete. Dabei kann kaum Zweifel daran bestehen, daß diese Bindung ausgeprägter auf seiten der Mutter auftrat. Dennoch, und das muß deutlich ins Bewußtsein gehoben werden, handelte es sich bei den Johnsons um eine ganz normale Familie des damaligen »Dritten Reiches«. Was man fürs »Winterhilfswerk« spendete, war durchaus im Rahmen des Üblichen, wie Nachbarn sich erinnern, und auch sonst gab es Auffallendes kaum zu vermelden.

Erna Johnson steht als eine untersetzte blonde Frau vor uns, mit äußerst bestimmtem, dominantem Blick. Gab sie eine jener »atemlosen Gebärerinnen« (Drittes Buch) ab, die ihren »Führer« verehrten – und die andererseits doch eher an sozialem Aufstieg als an wirklich politischem Engagement interessiert waren? Ihr Mann mochte ihr von der Ausbildung und vom Sozialprestige her überlegen gewesen sein. Sie versorgte ja ausschließlich den Haushalt. Andererseits war sie fast ein Jahrzehnt jünger als er und immerhin ein Kind von Leuten, die einen eigenen Bauernhof besaßen. Dieser Besitz mag Erna Johnson zu Selbstbewußtsein verholfen haben gegenüber ihrem Mann. Um so mehr wuchs das freundliche und stille Kind Uwe auf die Mutter bezogen auf, zudem der Vater viel unterwegs war in Ausübung seines Berufes, der ein Herumreisen in den Molkereien des Bezirks erforderte. »Von seiner Herkunft, seinen Eltern sprach er kaum – mein Eindruck war ein gestörtes Verhältnis zur Mutter, ohne Kommentar über die Hintergründe«, so die amerikanische Verlegerin und spätere mütterliche Freundin Uwe Johnsons, Helen Wolff (in: »Wo ich her bin ...«, hg. von R. Berbig und E. Wizisla, Berlin 1993, S. 158). Kein Zweifel: Energie, Mobilität, die Bildungsaspirationen des Kleinbürgertums mit den entsprechenden Erziehungsvorstellungen zeichneten Uwe Johnsons Mutter aus.

EIN AUGENFEHLER UND EINE LIEBE ZUR MUSIK.

EIN EIGENES HAUS UND DIE VERTREIBUNG DARAUS

Bereits als Kind war Uwe Johnson mit einem Augenfehler behaftet. Ein schulärztliches Attest vom 25. August 1952 bescheinigte ihm auf dem »lk. Auge« eine angeborene Weitsichtigkeit. Erna Johnson suchte das zu kurieren in der ihr eigenen Art. Mit Entschiedenheit und mittels einer schwarzen Augenklappe rückte sie ihrem Kind zu Leibe. Technisch handelte die Frau überlegt und sagte doch wiederholt im Beisein des Knaben: »du schielst as een Schafbock«. Im Leben geht, wie in der Literatur, keine Erfahrung verloren. Die Wiederkehr des Verdrängten kann, wie Psychologie und Dichtung lehren, Menschenschicksal prägen. In der eigenen Tochter Katharina wird Uwe Johnson später anamnetisch erschüttert sein Schicksal wiedererkennen, wenn er am 31. Januar 1969 an die Rostocker Ersatz-Mutter Alice Hensan schreibt:

[...] dass Katharina schiele. Schiele! [...] Aber ich sehe das Kind an, das mit seiner eleganten braunen Brille aussieht genau wie die 12jährige in meiner Schule, die kein Mensch mochte, und kann mich nicht trösten.

Nicht bocksartig schielend, sondern symmetrisch dreinschauend wünschte die Mutter sich ihren Sohn. Ein Hof-Erbe sollte der Knabe zunächst werden, dann ein Chirurg. Im Jahr 1947 hat die verwitwete Erna Johnson einem Mann, der sie heiraten wollte – und den sie davon abzuschrecken wünschte –, erzählt, ihr Sohn solle Medizin studieren. Die sozialen Phantasien, die sich in diesen Berufswünschen aussprachen, sind von ehrgeiziger Dynamik. Darüber hinaus sollte Uwe Johnson Geigenunterricht erhalten, ein Vorhaben, das in die Tat umgesetzt wurde. Die Aufstiegsorientiertheit des Elternhauses spricht schließlich aus jenen Passagen der Begleitumstände, wo diese die proletarische Lösung einer »Schmiedelehre« in Recknitz beschreiben:

Leider wird diese Lehrzeit abgebrochen durch einen Wunsch des Vaters, der durch seinen Tod in ein Vermächtnis verwandelt ist: »Der Junge soll es einmal besser haben.« Darunter hat man zu jener Zeit unberatenerweise verstanden: den Übergang auf eine weiterbildende Schule, das Abitur und, womöglich, ein Studium. Hätte es damals eine Wahl gegeben, ich riete mir von heute her zur Schmiedelehre. (Begleitumstände, S. 33)

Das freilich wurde 1979 rückblickend von einem geschrieben, der im Begriff war, sich nach jahrelanger Depression und Schreibhemmung das Schreiben mühsam wieder beizubringen. Der Wunsch nach der Schmiedelehre liest sich vor diesem Hintergrund so sarkastisch wie illusorisch und provokativ.

Die soziale Karriere der Familie setzte sich fort und gipfelte endlich im Bezug eines Hauses mit Garten, jenem Archetyp des alldeutschen Lebenstraums. Immerhin zogen die Johnsons, soziale Aufsteiger sind in aller Regel mobil, in ihren elf Anklamer Jahren, zwischen 1934 und 1945, dreimal um. Der letzte Umzug ging im Jahr 1938 nach »Mine Hüsung 12«, knapp zwanzig Minuten Fußweg von der alten Adresse entfernt und damals noch vor der eigentlichen Stadt. Ein neuerschlossenes Wohngebiet, auf dem einladende Walmdachhäuschen errichtet wurden. »Am Markt 23« hatten die Johnsons nur den abgeteilten Part einer Fünf-Zimmer-Wohnung ihr eigen nennen können. Jetzt zog die Familie in ein geräumigeres Domizil, das durch Wohnkredite des neuen nationalen – sich ja auch sozialistisch nennenden – Regimes ermöglicht worden war. Das »Häuschen mit Garten« besaß einen – kleineren – Ziergarten vorn und einen – größeren – Nutzgarten hinten. Die Siedlung ging von der Pasewalker Landstraße ab und verlief U-förmig. Johnsons wohnten, von der erwähnten Pasewalker Landstraße her betrachtet, im rechten Flügel des Areals mit einem guten Stück freier Aussicht an der rückwärtigen Front. Eine weitere Stadtrandsiedlung entstand in ungefähr 200 Metern Entfernung, bestimmt für kinderreiche und sozialschwache Familien. Von denen war man aber durch eine Wiese getrennt, durch sumpfigen Grund, den ein Kind im Sommer barfuß als Spielplatz nutzen konnte.

Uwe Johnson selbst hat eine ebenso mimetisch genau erinnerte wie frei konzipierte Skizze dieses frühen Wohnorts gegeben. Auch in ihr wird der Ensemble-Charakter der neuen Siedlung betont, der ursprünglich sehr viel strenger als heute ins Auge getreten sein wird. Daneben stellt der Erinnernde heraus, was dieser Umzug für das soziale Selbstgefühl der Familie und deren emotionalen Zusammenhalt bewirkte. Es entsteht das Bild von Menschen, die in der Gleichförmigkeit ein Zusammengehörigkeitsgefühl entwickeln, die auch neue Zuneigung füreinander finden, verbunden durch den Stolz auf das endlich Erreichte. Diese nur a posteriori widersprüchliche Signatur prägt Johnsons literarische Skizze des Anklamer Milieus im Dritten Buch über Achim, wo der Autor seiner Figur Achim eine Jugendbiographie erfindet, in der Züge des Alltagslebens der Johnsons um 1939/40 zu erkennen sind:

Das Amt gab ihm südöstlich vor der Stadt ein Einfamilienhaus zur Miete. Das waren damals etwa zehn gleichförmige Häuser um einen ungepflasterten Dorfplatz, in dessen Mitte ein Findling aufgerichtet war zum Gedenken an die Toten des ersten deutschen Weltkrieges aber noch nicht für die des zweiten. Die Häuser hatten alle den nämlichen verglasten Treppenaufgang zur Seite, graubraune Satteldächer, die gleichen Fensterordnungen und Schuppen in den großen Hintergärten. [...] Dem Vater wich der graue Schimmer aus dem Gesicht, er war nicht mehr rauhbärtig wie früher die meiste Zeit der Woche, er trug weiße zugeknöpfte Hemden mit Krawatten, er kam gebadet nach Hause wie festtäglich. [...] Vor den feiertäglichen Besuchen der neuen Kollegen saß die Mutter fahrig überrötet am neuen Frisiertisch und tat sich Puder und Crème und Farbe ins Gesicht; Achim pflegte daneben lehnend ihr zuzusehen, bis sie seinen Blick im Spiegel festhielt und fragte ob es genug sei, und er verlegen nickte. Sie war viel zärtlicher zu ihm, inzwischen glaubte er sich wieder groß genug dafür. (Drittes Buch, S. 89)

Ein Zufall ist es wohl nicht, daß in Uwe Johnsons Literatur Szenen erfüllten Familienlebens, wie sie dem neu bezogenen Haus zugehörten, in tableauartig breiter Schilderung zu neuem Leben erwachen:

Der Vater hat nicht viel gesagt. Sein Gesicht war unlesbar verschwiegen, er verständigte sich mit einzelnen wie hervorgepreßten Worten, nur der Mund war bewegt; [...] Die Mutter ging den an mit Beredsamkeit. [...] Im Umgang mit den Nachbarn war sie lockerer, die Worte gingen ihr unbedacht vom Mund, sie lachte gern: wie überrascht. Mit herzlichen Reden und betulich hielt sie den staatlichen Frauenverband in der Siedlung zusammen, stellte jede Tüte gesammelter Lebensmittel befriedigt nachzählend auf die ausgezogene Servierlade der Kredenz im Wohnzimmer, tat die grösste am Ende selbst hinzu: dabei kam es ihr an auf den Zusammenhalt des deutschen Volkes gegen seine Feinde. [...] Bei den stundenlangen Reden des erregten Hitler [...] sass sie ergeben bisweilen mit Kopfschütteln am Strümpfestopfen, während der Vater krumm den Kopf auf die Tischecke stützte, die man nicht einsehen konnte. [...] Die Mutter bekam nichts Sichtbares zu Weihnachten, aber zum Geburtstag Romane, die sie während des übrigen Jahres nicht zeigen durfte, denn der Vater hielt nichts vom unterhaltenden Lesen. (Drittes Buch, S. 75 ff.)

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