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Trondheim, im Juli 1994

I.
ÜBER DIE BALTISCHE SEE
AN DIE NEBEL UND DIE MÜRITZ
ERSTES KAPITEL
SCHWEDISCHE VORVÄTER.
AUS DEM SCHWEDISCHEN LJUDER
NACH ANKLAM IN POMMERN.
EIN VORSPIEL IM 19. JAHRHUNDERT

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LEBENSDÄMMERUNG.

WASSER ALS ANFANG UND ENDE

»Die Biographie in ihrer gediegeneren Form, die sich auf das abgeschlossene Leben der Treuen und Tapferen beschränkt, darf wohl als der schönste Lohn für menschliche Tugend gelten, der ganz uneigennützig gegeben und empfangen wird: denn weder kann der Biograph auf den Dank seines Helden hoffen, noch vermag dieser selbst aus der ihm erwiesenen Auszeichnung Nutzen zu ziehen.« Diese Sätze stehen am Anfang des Israel Potter von Herman Melville. Uwe Johnson übersetzte sie im Jahr 1959 ins Deutsche. Der Text des Melvilleschen Seefahrerromans fährt fort: »Israel Potter verdient diese Ehrung durchaus.« Was dem Seefahrer Potter zustand, gebührt Uwe Johnson.

Dessen Leben und Schreiben vollziehen sich in gewisser Weise unter der immerwährenden Dominanz von Flüssen und Meeren. In Mecklenburg aufgewachsen, stammte Uwe Johnson gleichwohl aus Pommern. Die Bezeichnung »Pommern« aber meint, der ursprünglichen wendischen Wortbedeutung nach: »die, die am Meer wohnen«. Das wiederum tat Uwe Johnson sein Leben lang – selbst in seinen Berliner Tagen.

Anfang und Ende seines Lebens besitzen als unmittelbare Nähe ein sehr weites und sehr dunkles Wasser. Uwe Klaus Dietrich Johnson wurde am 20. Juli 1934 im Pommerschen Cammin an den Ufern der sich zum Bodden erweiternden Dievenow geboren. Er starb in der Nacht vom 23. zum 24. Februar 1984 im englischen Sheerness-on-Sea an den Ufern der Themse, die sich dort bereits in die Weiten der Nordsee öffnet.

Der außerordentliche Stellenwert des Wassers hilft zudem in diesem Fall, Biographie und literarisches Werk zusammen zu sehen. Johnson wird sich 1977, in einem Text mit der nicht von ihm gewählten, dennoch programmatischen Überschrift Ich über mich selbst definieren durch die Summe der Flüsse und Seen, die er bis dahin in seine Erfahrung gebracht hatte. Das Schwimmen als einen Akt der Selbstidentifikation hat der Autor Johnson mit der dominierenden Figur, mit der hauptsächlichen »Person« seiner Erzählwelt, Gesine Cresspahl, gemeinsam. In Jahrestage erinnert sie sich, schwimmend mit ihrer Tochter Marie, an all die Gewässer, die ihr Leben bestimmt haben.

20. April, 1968 Sonnabend

Das Wasser ist schwarz. Über dem See ist der Himmel niedrig zugezogen, morgendliche Kiefernfinsternis schließt ihn ein, aus dem Schlammgrund steigt Verdunkelung auf. [...] Die Stille macht den See düster. Die Fische, die Vögel zu Wasser und zu Lande mögen nicht wohnen in der ausgebaggerten Senke, in den kümmernden Bäumen, der chemisch behandelten Landschaft, hergerichtet für zahlende Menschen. [...] – Dein wievielter See ist dies, Gesine? sagt das Kind, sagt Marie, sagt der fremde Fisch, der aus langer Tauchfahrt hervorstößt. – How many lakes did you make in your life now ... In der Ostsee zum erstenmal schwamm das Kind das ich war, vor dem Fischland und in der Lübecker Bucht, an den Seegrenzen Mecklenburgs, ehemals Provinz des Deutschen Reiches, jetzt Küstenbereich des sozialistischen Staates deutscher Nation. Schwamm mit Kindern, die tot sind, mit Soldaten der geschlagenen Marine, die das große mächtige Ostseemeer die überschwemmte Wiese unter den Ozeanen nannten. Aber in den Geographiebüchern dieses Landes heißt sie Baltic Sea. (Jahrestage, S. 1017)

Ob nun Ostsee oder Baltische See: Ihr Wasser stellt sich in Johnsons Werk stets als ein symbolisches Substrat der Kommunikation, aber auch als ein Medium der Liebe dar. Die ersten drei Bände der Jahrestage beginnen jeweils mit Wasser-Schilderungen. Den letzten Band – er setzt statt mit einer Wasser-Beschwörung mit einer Kriegs-Szene ein – schließt der Autor dann mit der anverwandelnden Perspektive auf die Ostsee ab. Das rund fünfzehn ereignisreiche Jahre dauernde Jahrestage-Unternehmen endet 1983 mit den inzwischen nachgerade berühmt gewordenen Sätzen:

Beim Gehen an der See gerieten wir ins Wasser. Rasselnde Kiesel um die Knöchel. Wir hielten einander an den Händen: ein Kind; ein Mann unterwegs an den Ort wo die Toten sind; und sie, das Kind das ich war. (Jahrestage, S. 1891)

Gesines Gang ins Ostsee-Wasser (auf Bornholm und gegenüber der schwedischen Küste) gerät zu erfüllter Erinnerung und Todes-Ahnung in einem. Der Autor sendet seine »Person« gleichsam zu den eigenen Ursprüngen zurück, in Richtung Großvaterland, nach Schweden.

ANFÄNGE IN CAMMIN.

SCHWEDISCHE ZUSTÄNDE UND SCHWEDISCHE URAHNEN

Uwe Johnsons erste Bewußtseinseindrücke datieren aus dem Jahr 1934 und haben ihren Ort an den Rändern der Ostsee, wo diese sich um eine Reihe vorgelagerter Inseln im Oderhaff schlängelt: in Cammin an der Dievenow, heute Kamień Pomorski. Runde fünfzig Jahre später wird der Mecklenburger im Angesicht der Themsemündung sterben.

Die Orte des Aufwachsens aus dem Gedächtnis verlieren, das hiesse ja die Dievenow vergessen, die für das Kind zu breite Schlange Wassers mit ihren niedrigen schwarzen Booten, den glucksenden Fischkästen, dem wildwüchsigen Bruch und den federnden Wiesen an ihren Ufern. Sie bleibt, wie die Peene, die bei Karnin weissen Sand auswäscht, fein wie für Sanduhren, wie die Nebel, die an der güstrower Bahnhofsbrükke den Blättersträhnen der Trauerweiden zu trinken gibt. Unverzichtbar und jeweils aufs Neue zu leben ist der Tag, der aufwachte an der bützower Schleuse, seinen Mittag hielt inmitten der Ebenen vor Schwaan und den Abend beging auf den wiegenden Querwellen des alten Hafens von Rostock. Alle Flüsse sind aufgehoben in ihrer Zeit, und alle nach ihnen, vom badischen Rhein bis zum Hudson der Walfänger, wozu sind sie denn da? zu erinnern an die Flüsse von ehemals. Die spätere Vertrautheit mit anderen Flüssen war also nur dazu da, an die Wasser der Vergangenheit zu erinnern.

Der am 29. November 1979 die letztzitierten Sätze an Rolf Italiaander schrieb, fand zu einem stilistischen Glanz, der selbst bei diesem Autor nicht tagtäglich anzutreffen war. Er beschwor die Erinnerung an einen pommerschen Fluß als die Rückerinnerung an eigene Lebensanfänge. Schwarzes, vexatorisch sich spiegelndes Wasser der Morgenfrühe, über dem bereits der Geist jenes Erzählwerks schwebte, das Johnson schaffen und das sich durch eine stupende Dichte der Vernetzung auszeichnen würde. Die Dievenow wird der Knabe später wieder erblicken, wenn er mit seiner Mutter zusammen im DKW die Großeltern besuchen fuhr, in Momenten außerordentlichen Glücks. Der Widerschein eines ganz frühen Glücks mag zur Intensität der Erinnerung beigetragen haben, die das Werk Johnsons zusammenhält und mannigfaltig in sich verwebt.

Zunächst ist ein ausgedehnter »Besuch beim vernünftigen verantwortbaren praktischen Leben« (Mutmassungen, S. 242) angebracht. Die Fakten schauen folgendermaßen aus: In der New Yorker Phase, in der er sein Lebens-Buch Jahrestage konzipierte, in das auch seine und seiner Frau Elisabeth mecklenburgische Familienerinnerungen eingehen würden, kümmerte der Güstrower sich eingehend um die eigene Vorgeschichte. Seine Bemühungen führten dazu, daß er am 15. Juni 1967 einen handschriftlichen Brief von Hanne-Lore Johnson, einer noch in Mecklenburg lebenden Tante, auf seiner Maschine abtippte. Für derart wichtig erachtete er den. Dieser Brief. unter dem 19. Mai 1967 abgeschrieben, enthielt das Wesentliche, was Uwe Johnson zu seinen Lebzeiten über sein Geschlecht in Erfahrung gebracht hat. Was also am 20. Juli 1934 in Cammin am Wasser der Dievenow mit Uwe Johnsons Geburt begann, erscheint seinerseits durch Besonderheiten der Johnsonschen Geschlechtergeschichte vorbereitet. In dieser nahmen nämlich die Überquerung der Baltischen See und das anschließende Leben in einer seenreichen Fremde die Rolle eines entscheidenden Einschnitts an. Wer das Individuum in seinen Phantasieproduktionen verstehen will, muß sich der Geschichte von dessen Familie und deren Lebenswelt eingehend versichern. Das Geschlecht der Johnsons kam jedenfalls aus Schweden. Hieß da auch noch gar nicht Johnson, sondern Mård. Uwe Johnson selbst verstand sich bewußt als Nachfahr dieser schwedischen Ahnen. Sprach seinen Namen mit skandinavisch gelängtem »o« aus und korrigierte deshalb einmal den Göttinger Germanisten Albrecht Schöne, dieser hatte Johnsons Namen mit englisch kurzen Vokalen artikuliert. Mehrfach hat sich vor allem der junge Autor als der Abkömmling eines schwedischen Soldatengeschlechts gleichsam selbst identifiziert. Nur in einer einzigen brieflichen Bemerkung anläßlich des Todes seiner Mutter sah er sich in der Abfolge des mütterlichen Geschlechts, und da drehte es sich um sein bereits spärlich werdendes Haar, also um eine Mangelerscheinung. Vor allem seine schwedische Abkunft erschien dem Mecklenburger wichtig. Die psychische Gegenwart des Großvaters als des Repräsentanten der väterlichen Abkunftslinie überstrahlte alle anderen Ahnen in Uwe Johnsons Bewußtsein.

Wie geriet ein auswandernder Schwede im vergangenen Jahrhundert ausgerechnet nach Mecklenburg? Hanne-Lore Johnsons Brief und das Archiv des mittelschwedischen Städtchens Vadstena geben näheren Aufschluß. Weiterhin: Wie haben wir uns Mecklenburg damals vorzustellen? Wie mußte es einem ins Bewußtsein treten, der es wandernd, ein-wandernd in seine Erfahrung brachte? Johnsons Versuch, einen Vater zu finden aus dem Jahr 1975 bietet erste Antworten. Seine Anfangspassagen vergegenwärtigen, was der »Urahn« August Nikolaus Mård im Mecklenburg seiner Zeit erblickt haben wird. Dem entspricht, daß Uwe Johnson für den Versuch, einen Vater zu finden auch auf die Lebenserinnerungen seines alten, verehrten Güstrower Englischlehrers Wilhelm Müller zurückgriff, die dieser auf des Schülers dringenden Wunsch in langen Briefen niedergeschrieben hatte und die zurückreichen in das Mecklenburg der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Uwe Johnson erblickt also im Versuch, einen Vater zu finden das Land Mecklenburg gleichsam mit den Augen seines Großvaters, wenn er die Situation beschreibt, in der Gesines Vater Heinrich Cresspahl aufwächst:

Es war ein Land, daraus liefen die Arbeiter fort, an die Hunderttausend in fünfzig Jahren, ein Sechstel des Staatsvolkes, da hatte der Mecklenburgische Patriotische Verein schon 1856 vergeblich John Brinckmans »Fastelabendsprärig« als Flugblatt verteilen lassen. [...] Mecklenburger vom Gesinde durften nicht ohne Erlaubnis der Dienstherrschaft aus dem Haus, vom Hof. (Versuch, einen Vater zu finden, S. 9)

Um das Jahr 1865 verließ Johnsons Urahn August Nikolaus Mård, von Zukunftslosigkeit und Arbeitslosigkeit vertrieben, das schwedische Småland. Er wollte das Geld für eine geplante Australien-Passage in Mecklenburg verdienen, wo, sein Enkel wird es beschreiben, die Arbeitskräfte fehlten. Vom nahegelegenen Hamburg aus gingen die Auswanderertransporte in die Neue Welt.

Die schwedische Familie Mård stellte seit Generationen eine Soldatenfamilie dar, was Johnson seinerseits wußte, der am 5. August 1959 an Walter Boehlich geschrieben hat: »Und mein Grossvater war noch schwedischer Staatsbürger und Soldat.« Nach der Mitteilung des schwedischen »Arkivet för Ordbok över Sveriges Medeltida Personnamn« in Uppsala läßt sich keinerlei landschaftliche Etymologie mit dem Namen »Mård« (deutsch »Marder«) konnotieren. Der Name habe jedoch eine Verbindung mit dem gleichnamigen kleinen Raubtier, auf deutsch eben »Marder«, und sei wahrscheinlich als ein Soldatenname anzusehen. Der Name mag daraus entstanden sein, daß Schwedens Bürger und Bauern die einquartierten Soldaten als unerwünschte Kostgänger empfunden haben. Als eine Bedrohung des eigenen Lebensunterhalts insgesamt und ganz konkret für ihre Hühnerställe. In Hanne-Lore Johnsons Brief heißt es:

August Nikolaus Mård ist unser Urahn hier in Deutschland. Er ist als Waise bei fremden Leuten aufgewachsen. Nun setzte in Mecklenburg die Auswanderung nach Amerika vor 100 Jahren ein. Es waren hier keine Arbeitskräfte und in Schweden eine grosse Arbeitslosigkeit.

Diese Sätze beschreiben eine historische Realität, die für Schwedens Geschichte erhebliche Prägekraft besaß. In der Periode von 1815 bis 1900 wuchs Schwedens Bevölkerung von 2,1 auf 5,1 Millionen an – wiewohl 825000 Schweden zwischen 1840 und 1900 aus dem Land emigrierten, wesentlich in die USA. Die Mårds, die im 18. Jahrhundert ihr Auskommen noch als Soldaten genossen hatten, gerieten im Zuge zunehmender Modernisierung zu landlosen Landarbeitern. Wurden zu Angehörigen eines ländlichen Proletariats (schwedisch »statare«), dessen Entstehung seinerseits die schwedische Landwirtschaft seit dem Ausgang des 18. Jahrhunderts geprägt und zur Mitte des 19. Jahrhunderts hatte autark werden lassen.

Seit Generationen waren die Mårds im småländischen Ljuder in Mittelschweden zu Hause, einem Zentrum der Auswanderung im 19. Jahrhundert. August Nikolaus’ Vater mit fast gleichem Namen: August Nils Mård, also Johnsons Urgroßvater, verehelichte sich am 24. März 1840 mit Christina Abrahamsdotter (geboren am 2. Mai 1811) im gleichen Kirchspiel Ljuder. Er war am 18. Dezember 1794 geboren und hatte in erster Ehe eine Maria Petersdotter zur Frau gehabt, mit der er vier Kinder hatte. Die zweite Eheschließung erfolgte, weil Christina schwanger war. Eine lange Verlobung war in dieser Zeit und bei der sozialen Zugehörigkeit des Soldaten Mård nicht ungewöhnlich. Man zögerte mit der Hochzeit, war diese doch teuer. Wir wissen nicht genau, wann das Kind, das Johnsons Großvater werden sollte, geboren wurde. Es wird aber wohl noch im Jahr 1840 gewesen sein. Auf den Knaben folgten die Schwester Eva, am 4. Juli 1841 geboren, später der Bruder Alfrid (am 16. März 1847) und als letzte die jüngste Schwester Caroline, die am 10. Juni 1850 zur Welt kam. Nur wenig später, am 18. September 1850, starb der Vater der Kinder, Johnsons Urgroßvater August Nils Mård, acht Jahre später, am 10. Februar 1858, die Mutter Christina. August Nils war noch Soldat gewesen, was für seinen ältesten Sohn aus zweiter Ehe nicht mehr bezeugt ist. Bereits vor dem Tod seiner Mutter kam dieser zu fremden Leuten, da die Mutter ihre Kinder nicht mehr allein versorgen konnte. Auch die Schwester Eva kam, neunjährig erst, als Dienstmädchen auf den Hof Sødregård bei Alvestad. Der Bruder Alfrid zog am 13. Oktober 1861 nach Vissefjærda. Caroline schließlich war 1862 urkundlich bei einem Sven Johannson, dem Besitzer einer Hufe in Bøkvara im Kirchspiel Algutsboda, in Diensten. Alle diese Höfe und Orte liegen im Radius von wenigen Kilometern um den Ort Ljuder und gehören zum Kirchsprengel gleichen Namens.

Der Sprengel Ljuder maß ungefähr 20 Kilometer in der Länge und fünf Kilometer in der Breite, wurde von zwei Flüssen durchflossen und aufgelockert durch vier kleine Seen. Am 1. Januar 1846 zählte Ljuder 1925 Einwohner, verteilt auf 254 kleinere Höfe und eine Handvoll Herrengüter. Die Bevölkerungszahl hatte sich seit 1750 nahezu verdreifacht. Verfünffacht hatte sich im gleichen Zeitraum die Zahl der Landlosen. Schließlich waren die Kornpreise so gering, daß die Bauern das Korn häufig zu Branntwein veredelten, was zum ohnehin bestehenden Alkoholproblem das seine beitrug.

Um das Jahr 1865 wanderte Johnsons Großvater August Nikolaus Mård aus. Er wird seinen Weg auf Schusters Rappen zurückgelegt haben, aus Kostengründen zuallererst. Über Vissefjærda, wo seit 1861 der Bruder Alfrid wohnte, Holmsjø und Rødeby bis nach Karlskrona, der Hafenstadt. Dann mit einem der Lastboote, Kauffahrer oder Fischer, die gewohnheitsmäßig zwischen den beiden Ufern der Baltischen See verkehrten, nach Deutschland. Mecklenburg gleicht Småland darin, daß es eine Seenplatte voll überraschend aufblitzender Wasseransichten darstellt: eine sanft hügelige Landschaft mit tiefschattigen Mischwäldern und in der Sonne leuchtenden Getreidefeldern. Darüber die Dächer von Häusern, die immer häufiger zu Walmdächern werden, je näher man der Ostseeküste kommt. Die Fremde, in die August Nikolaus ging, mag ihm auf diese Weise etwas weniger fremd erschienen sein. Auch war er jung genug, auf besseres Leben zu hoffen. Weiterhin mögen ihn die Träume von der Neuen Welt, von Australien und von den Vereinigten Staaten Amerikas als von Ländern ohne unterdrückende feudale Obrigkeiten beflügelt haben.

Daß jeder Abschied einen kleinen Tod auch bedeutet – wo wäre das deutlicher ausgeprägt als in der Literatur des Uwe Johnson?

Zurückgekommen ist August Nikolaus Mård, nach allem, was wir wissen, nie. Was er ferner mitbrachte und seinem Enkel vererbte, war seine wikingerhafte Erscheinung. Der Mann mag damals noch schlank gewesen sein, mit einer Neigung allerdings schon zum Korpulenten. Blond und groß, dabei von gedrungener, »stuckiger« Gestalt, wie die Mecklenburger ihn beschreiben würden. Ein langsamer, schweigsamer und besonnener Mensch, mit skandinavischer Geduld und Zurückhaltung als Lebensmaxime.

August Nikolaus Mård wurde seßhaft in jenem Mecklenburg, in dem der Namenspatron von Uwe Johnsons späterer Schule, John Brinckman (ein schwedischer Name!), 1855 als Fastelabendsprärig die folgenden, gegen die seinerzeit grassierende Auswanderung gerichteten Zeilen hatte verteilen lassen:

Jehann, bliw hir, – bliw hir, Jehann!/Wat wisst du in Amerika! [...]/Du seggst, dat du hir racken möhst [...] Wat du ok in dei Sälen liggst,/Di awmarachst un an di spannst, –/ Wer weit, wennir du Hüsung kriggst,/Wer weit, wennir du frigen kannst.

Bei der Fastelabendsprärig handelt es sich um ein unverdünntes, avanciertes Platt, der Mundart des Klützer Winkels zugehörig. Johnsons Großvater vermochte sie schwerlich zu lesen. Vermutlich hat er bis an sein Ende schwedisch gesprochen. Dennoch hat er sich, in Mecklenburg angelangt, nach der Aufforderung des John Brinckman gerichtet, blieb, fand Arbeit und ein Auskommen, das ihn am Ende sogar in den Stand setzte zu heiraten. Wirkliche Freiheit, sollte er sie denn gesucht haben, kann der Schwede jenseits der Ostsee freilich nicht gefunden haben. Denn diese neue Heimat gab ein vormodernes Land ab. Hier gingen alle Uhren langsamer. Selbst der Weltuntergang würde, der ostelbische Junker Otto von Bismarck nahm dies für gewiß, in Mecklenburg erst mit 300 Jahren Verspätung eintreffen. Auf dem Hintergrund der mecklenburgischen Zustände betrachtet, erwiesen sich die sozialen Umstände in Småland als fast schon modern. In der Bauernordnung von 1616, noch vor dem Dreißigjährigen Krieg also, in Stettin für ganz Pommern erlassen und zu August Nikolaus Mårds Zeiten nach wie vor in Geltung, heißt es:

Die Bauern sind in unserem Herzogtum keine Erbzins- oder Pachtleute, sondern Leibeigene. Sie müssen daher allerhand angemessene Frondienste ohne Beschränkung und Gewißheit leisten. Auch sind sie und ihre Söhne nicht mächtig, ohne Vorwissen der Obrigkeit und der Erlassung der Leibeigenschaft von den Höfen und Hufen sich wegzubegeben. Demgemäß gehören die Hufen, Äcker, Wiesen usw. einzig und allein der Herrschaft und Obrigkeit jedes Ortes, und die Bauern haben keinerlei Nutzungsrecht auf sie, selbst wenn sie oder ihre Vorfahren die Hufe über 50, 60, auch wohl 100 Jahre bewohnt haben. Wenn eine Herrschaft einen Bauern von einem Hofe auf den anderen versetzen will, kann er sich dessen nicht weigern, sondern ist zu folgen schuldig. Wenn aber die Bauern ihrer Höfe ganz entsetzet und Vorwerke darauf angerichtet werden, muß der Bauer ohne Widerrede weichen und den Hof nebst Äckern, Wiesen und allen Zubehörungen der Herrschaft überlassen.

Uwe Johnson selbst hat, wiederum im Versuch, einen Vater zu finden, formuliert:

Mecklenburg bleibt das einzige Land im Deutschen Reich ohne allgemeine Wahlen, der letzte ständische Staat, Ritterschaft, Domanium [sic!], Landschaft, ernst angetan mit Mittelalter, die komische Figur Europas. (Versuch, einen Vater zu finden, S. 28)

Was August Nikolaus gesehen haben mag, sein Enkel hat es aufgeschrieben:

Anblicke von Katen, die abseits von Park und Herrenhaus in lahmem Fachwerk hingen, den schiefen Fenstern, über den Brettertüren die Gitter, die das brennende Stroh auffangen sollten [...] An der Wand die hölzernen Löffel, auch ein rot und blau gemaltes Gesimse für Bibel, Gesangbuch und den Grossherzoglich Mecklenburg-Schwerinschen [...] Kalender. (Versuch, einen Vater zu finden, S. 8)

In einer solchen Kate wird August Nikolaus Mård ansässig geworden sein. Arbeitete wohl als Fremdarbeiter auf einem Gut, mußte »die Mütze ziehen [...] vor der gutsherrlichen Familie, vor Inspektor und Volontär und Gutsförster und Statthalter und Gouvernante.« (ebd.)

Selbst seinen Namen mußte der Schwede schließlich aufgeben. »Mård« war den Mecklenburgern zu schwierig. Der »Sohn eines John« hatte ein Schwede für sie zu sein. 1897 wurde der Name »Johnson« offiziell, amtlich eingetragen in die Register des Deutschen Kaiserreichs. Das geschah im Zusammenhang mit der Einberufung der Söhne dieses nun »Johnson« Geheißenen in die kaiserliche Armee, ein Faktum, dem sozialgeschichtlich Symbolik eignet. Denn, man erinnert sich, der Kaiser brauchte Soldaten in dieser Zeit. Des Kaiserreichs imperiale Pläne – sie führten im Vorfeld zur definitiven Eingemeindung von Uwe Johnsons schwedischem Großvater. Hanne-Lore Johnson hat das überliefert:

Es kam die Zeit, dass auch die Jungs Soldaten werden sollten. Sie gingen zur Musterung und da wurde der Name Mård aufgerufen. Sie selber wussten nicht, dass sie Mård hiessen. Und weil der Name Johnson nicht fiel, gingen sie nach hause. Da kam der Amtshauptmann zu A. N. Mård: »Wollen Sie nicht die deutsche Staatsbuergerschaft annehmen?« Nun hatte A. N. Mård sein Auskommen, sparsam war er auch und hatte sich etwas erspart. »Ja«, sagte er, »das kann ich machen.« Die Antwort des Amtshauptmanns: »So, nun muessen Ihre Söhne Soldat werden.« Seit der Zeit sind wir deutsche Staatsbürger.

Erst gegen Ende des Jahrhunderts kann Uwe Johnsons Großvater sich verheiratet haben, wahrscheinlich mit einer erheblich jüngeren Frau. Er ist bereits 59, als im Jahr 1900 Uwe Johnsons Vater Erich geboren wird. Der Großvater jenes Schriftstellers, der die Provinz Mecklenburg durch vier Jahrzehnte hindurch und noch aus weiter Ferne so tiefenscharf wie kein anderer beschreiben sollte, hatte, bildlich gesprochen, endgültig Boden unter den Füßen und gründete eine Familie mit, wie Hanne-Lore später schreiben wird, »5 Jungs«. Sein Todesdatum kennen wir nicht; auch nicht den Platz seines Grabes. Rum-Kogel kann nicht der einzige Wohnort des Schweden in Mecklenburg geblieben sein. Da der Sohn Erich in Kladow zur Welt gekommen ist, spricht vieles dafür, daß dies auch der letzte Lebensort des ausgewanderten Schweden war.

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