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Читать книгу: «Lu die Kokotte», страница 7

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XIV

Luise lag die ganze Nacht über völlig apathisch; ließ willenlos alles mit sich geschehen; verweigerte auf jede Frage, die man an sie stellte, die Antwort; hatte kein Gefühl und keine Gedanken mehr.

Als man ihr den Besuch des Professors meldete, richtete sie sich zum ersten Male auf, sah ängstlich zur Tür und sagte: »Bitte!«

Der Professor trat ein, ohne zu grüßen; legte seinen Zylinder auf den Tisch; knöpfte den Pelz auf, streifte den Handschuh von der rechten Hand, trat vor ihr Bett.

»Bist du imstande, mich anzuhören?« fragte er kalt.

»Ja!« antwortete Luise.

Und er las ihr den Brief vor, den Mohrs Anwalt an ihn gerichtet hatte.

Luise schüttelte den Kopf.

»Das ist alles unwahr«, sagte sie in aller Ruhe.

»Ich bat ihn, mich freizugeben, aber er wollte nicht; er suchte mit Gewalt . . .«

Der Professor wehrte mit beiden Händen ab.

»Schweig’!« rief er mit eisiger Stimme.

»Er ist ein Schurke!« hauchte Luise.

»Und trotzdem hast du dich ihm an den Hals geworfen.«

»Das ist nicht wahr!« schrie Luise laut und richtete sich hoch auf.

»Dann hast du Aletto also belogen?«

Luise sah ihn groß an; woher wußte er das?

»Ja«, sagte sie.

»Und du verlangst, daß ich dir das glaube?«

»Nein«, erwiderte sie, »das verlange ich nicht . . . und es ist auch zwecklos, daß ich es dir erzähle.«

»Ich verzichte gern darauf; ob der oder der oder beide; das bleibt sich am Ende ganz gleich.«

»Findest du?« fragte sie traurig. »Ich kann das nicht finden.« Und sie träumte mit großen Augen vor sich hin.

»Ich habe mit dem Anstaltsarzte gesprochen. Dir fehlt nichts weiter; du leidest unter einer starken Nervenabspannung; übrigens durchaus natürlich bei deinem Lebenswandel! – Deiner sofortigen Abreise steht also nichts im Wege; im Gegenteil: Andere Luft und andere Umgebung können deiner Gesundheit nur förderlich sein, meint der Arzt. Du fährst noch heute Abend um 10 Uhr 25 – und zwar nach Paris. Ich habe dir Billet und Schlafwagen besorgt; auch eine Empfehlung an eine Pension in der Avenue Hoche gebe ich dir mit. Sie gehört der früheren Erzieherin von Walthers Kindern, einer Madame Berthe de Cyliane; einer ausgezeichneten, zuverlässigen Dame; du wirst dich ihrer erinnern. Hier sind die 3000 Mark; lege sie vernünftig an und suche dir als Erzieherin oder sonst auf anständige Weise dein Brot zu verdienen. – Im übrigen hoffe ich, daß du unsere Güte nun zum letzten Male in Anspruch genommen hast. Nach dem, wie du dich aufgeführt hast, haben wir alle nur den einen Wunsch, möglichst schnell zu vergessen, daß wir jemals mit dir in noch so loser verwandtschaftlicher Beziehung gestanden haben. – So!«

Und dann legte er die Billette, das Geld und das Empfehlungsschreiben auf den Tisch, der vor ihrem Bett stand.

Luise, die kaum ein Wort von dem, was der Professor redete, begriff, nahm automatisch die Billette vom Tisch.

»Nach Paris also!« wiederholte sie tonlos. »Hm – und wo bleibt die Mutter?«

»Das laß deine Sorge nicht sein. Sie hat wohl endlich eingesehen, wohin ihre Erziehungsmethode führt. Sie hat in unsere Forderung eingewilligt, die Dispositionen über dich fürs erste uns zu überlassen. Sobald sie dieser Abmachung zuwiderhandelt, entziehen wir ihr jede Unterstützung, und sie kann sehen, wo sie bleibt. Wenn dir also daran liegt, daß sie zu leben hat, so versuche keine Annäherung an sie, bevor wir die Zeit für gekommen erachten. Hier« – und er griff in die Tasche – »ist dein Gepäckschein. Du findest alles, was du brauchst, an der Bahn. – Du kannst Gott danken, daß du uns hast; ohne uns säßest du heute hinter Schloß und Riegel. – Du hast es nun noch einmal in der Hand, ein anständiger Mensch zu werden. Im übrigen erwarte ich von dir, daß du an den Kommerzienrat, der sich auch in dieser Affäre wieder als Gentleman benommen hat, ein paar Worte der Entschuldigung schreibst.«

»Was?« fragte Luise entsetzt. »Ich soll an diesen . . .« und sie zog unter dem Kissen die Kopie des Briefes hervor, den der Kommerzienrat an die Kgl. Staatsanwaltschaft gerichtet hatte, und reichte sie dem Professor, der noch immer stand.

»Lies! Aber erschrick nicht! – Diesen Brief schrieb der Gentleman Mohr.«

Luise erwartete, daß der Professor aus allen Himmeln fallen würde. Aber er las und verzog keine Miene; und als er zu Ende war, sagte er nur: »Ein neuer Beweis für seine große Rechtlichkeit!«

Luise war starr; brachte kein Wort heraus; zeigte ihn auch nicht das Kuvert mit der Aufschrift, das sie in der Hand hielt.

Er reichte ihr den Brief zurück, knöpfte den Pelz zu, nahm den Zylinder vom Tisch und sagte:

»Damit ist meine Mission erfüllt. Adieu!« Dann ging er.

Luise rührte sich nicht.

Die Wärterin kam und half ihr beim Aufstehen.

»So reden Sie doch endlich mal«, bat die Schwester; »solange Sie hier sind, haben Sie noch kein Wort gesprochen.«

Aber Luise schwieg.

»Wenn ich an Ihrer Stelle wäre und heute abend nach Paris führe, ich wäre in anderer Stimmung; verlassen Sie sich darauf! – Wer wird denn das Leben so schwer nehmen!«

Luise sah sie an und nickte:

»Sie haben recht, das sollte man nicht!« – Dann holte sie tief Atem und sagte: »Wer weiß, wenn erst alles da innen tot ist – vielleicht daß man’s dann leichter nimmt.«

»Aber gewiß!« bestätigte die Schwester freudig.

»Unser Vater hat uns nichts hinterlassen, als er starb, als einen Spruch – er stammt, glaube ich, von Goethe – aber er hat uns bisher durchs Leben geholfen und wird uns auch weiter helfen:

 
Willst du dir ein hübsch Leben zimmern,
Mußt dich ums Vergangne nicht bekümmern.
Das Wenigste muß dich verdrießen,
Mußt stets die Gegenwart genießen,
Besonders keinen Menschen hassen
Und die Zukunft Gott überlassen.«
 

»Wer das kann!« seufzte Luise. »Aber Sie haben recht, man muß es versuchen. Mein Vater dachte auch so; wie oft zitierte er die Plato-Nietzsche’schen Worte: ›Das Leben insgesamt ist des großen Ernstes nicht wert; trotzdem . . .‹ »

Sie wollte es leichter nehmen! Ganz gewiß! – Sie machte sich schnell fertig, und als sie am Zoologischen Garten in den Zug stieg, der sie nach Paris führte, da erschien es ihr fast, als wollte es ihr gelingen: »sich um Vergangenes nicht zu bekümmern und die Zukunft Gott zu überlassen«. —

XV

Berthe de Cyliane hatte in Paris nie eine Pension besessen; sie stammte von kleinbürgerlichen Eltern in Bordeaux, die Lubin hießen und ihre Tochter Therese nannten. Therese war als Vierzehnjährige mit dem Wanderzirkus Huret, der aus Toulon in ihre Heimatstadt gekommen war, mit Wissen und Willen der Eltern fortgezogen, die froh waren, daß sie eins ihrer acht Kinder irgendwie und irgendwo untergebracht hatten.

In Enghien hatte sie Henri Guerlain, der Direktor des Boulevard Montmartre, »entdeckt«. Hier trat sie nun als »The little countess« in dem schmutzigen Varieté auf dem Boulevard de Clichy allabendlich auf und sang vor den Dirnen und Apachen der Butte schmierige Lieder, deren Text sie selbst nicht verstand.

Als Guerlain mit dem monatlichen Wechsel seines Repertoires wie üblich auch seine Geliebte wechselte, behielt er gegen seine Gewohnheit Therese bei sich, obschon verschiedene Kleinstadtdirektoren hohe Preise für »The little countess« boten. Und Guerlain, der ihre Beliebtheit kannte, machte nun sogar einen regelrechten Vertrag mit ihr. Sie bekam 10 Francs für den Abend und freie Kostüme, mußte dafür aber außer als »The little countess« nun noch als internationale Soubrette auftreten, und bekam als solche den stolzen Namen »Berthe de Cyliane, etoile de Bruxelles«, wie große Bildnisplakate, die vor dem Theater aufgestellt waren, verrieten. Und niemand ahnte, daß »The little countess« und »Berthe de Cyliane » ein und dieselbe Künstlerin war. Und Berthe de Cyliane, die es nun nicht mehr gerne hörte, wenn man sie Therese Lubin nannte, brachte es in der Kunst, wie auf der Bühne so auch im Leben verschiedene Rollen zu spielen, bald zur Meisterschaft.

Eines Tages besuchten die Brüder Laqueur, die Söhne des Millionärs Alois Laqueur aus der Rue Croix des Petits Champs und seiner Gemahlin Charlotte, née Walther aus Berlin, auf einem Montmartre-Bummel das Theater Guerlains, und der ältere, Henri, verliebte sich in Therese, nahm sie von der Bühne, für die sie nicht die leiseste Begabung zeigte, fort und bildete sie für die Bühne des Lebens aus, auf der sie sehr schnell reussierte.

Als er sie eines Tages bei einem Treubruch ertappte, wurde sie auf sechs Monate strafversetzt; und zwar nach Berlin zu seinem Onkel, dem Hofbankier Walther der für seine Töchter damals gerade eine französische Erzieherin »aus gutem Hause« und »mit soliden Grundlagen« suchte, und seine Schwester Charlotte Laqueur um Vermittelung angegangen war. Henri hatte sich sofort bereit erklärt, Ausschau zu halten und stellte schon am nächsten Tag seiner Mutter Mademoiselle Berthe de Cyliane, »die Tochter eines hohen Offiziers aus Toulon«, vor, die eigentlich nur »au pair« zur Erlernung der deutschen Sprache Aufnahme in einer der ersten Berliner Familie suchte.

Mademoiselle Berthe de Cyliane machte auf Frau Charlotte Laqueur einen vorzüglichen Eindruck. »Man merkt ihr die Kinderstube an«, schrieb sie ihrem Bruder; »in jeder Beziehung eine vollendete Dame.« Und Geheimrat Walther dankte und bestätigte, als Berthe de Cyliane kaum acht Tage bei ihm war, diesen Eindruck und stellte im Verhalten seiner Töchter, die ihren früheren Gouvernanten fast täglich Anlaß zu Klagen gegeben hatten, eine sehr erfreuliche Veränderung zum Guten fest.

Als fünf Monate herum waren, schrieb Henri Laqueur, er habe ihr verziehen, sie solle zurückkehren, und legte 200 Francs für die Reise bei. Berthe de Cyliane erbat daraufhin eine Rücksprache mit Frau Geheimrat Walther und verkündete ihr, daß ihre Schwester, die ein vornehmes Familienpensionat in Paris unterhielte, plötzlich erkrankt sei. So wenig sie das sittenlose Paris liebe und so schwer ihr die Trennung von den Töchtern der Frau Geheimrat falle: ihre Eltern verlangten, daß sie ihrer kranken Schwester zur Seite stehe; es bliebe ihr daher keine Wahl; sie müsse fort.

»Entsetzlich!« rief Frau Geheimrat Walther ein über das andere Mal. »Ich habe mich, seitdem Sie im Hause sind, überhaupt nicht mehr um meine Kinder zu bekümmern brauchen. Keine Beschwerde! Weder von Ihnen noch von seiten der Kinder! Aber so geht es mir immer; habe ich schon mal Glück mit einer Gouvernante, schon muß sie fort.« Und sie mühte sich mit allen Mitteln, sie zum Bleiben zu bestimmen. Aber Berthe de Cyliane war ein Charakter und blieb fest.

»Ich bin es gewöhnt, Madame,« sagte sie, »jeden Wunsch meiner Eltern ohne Widerspruch zu erfüllen.«

Die Frau Geheimrat seufzte: »Sie sind ein Juwel! Bei uns kennt man das nicht! Aber versprechen Sie mir, daß Sie zurückkehren, sobald die Gesundheit Ihrer Schwester es zuläßt.«

»Nicht eine Stunde länger als nötig bleibe ich in Paris«, versprach Berthe de Cyliane und packte ihre Koffer.

Am Abend sprach der Geheimrat selbst mit ihr; seine Frau Charlotte, geborene Laqueur, schlief längst. Und am andern Morgen erzählte Berthe, daß sie ein Telegramm erhalten habe, nach dem es der kranken Schwester besser gehe. Sie verschob daher ihre Abreise; und erst als Henri Laqueur drahtete:

»Bist du morgen nicht hier, so bleib’, wo du bist; wer weiß, welcher Esel dich in Berlin zurückhält«, verschlimmerte sich der Zustand ihrer Schwester derart, daß sie noch mit dem Nachtzug nach Paris fuhr.

Die Familie Walther – Vater, Mutter und Töchter – weinten ihr heiße Tränen nach. Nach ihrem Fortgang wurde es schlimmer als es je gewesen war; kein Fräulein hielt es länger als acht Tage bei Walthers aus. Auf jedes Telegramm, das die völlig verzweifelte Mutter mit der Bitte, Berthe möge zurückkehren, nach Paris sandte, kam die gleiche Antwort:

Zustand leider unverändert. Ich harre aus in Erfüllung meiner Pflicht. Ihre dankbar ergebene

Berthe de Cyliane.

XVI

Als der Fall Luise Kersten in der Familie Walther erörtert wurde, da erklärte die Frau Geheimrat sofort kategorisch:

»Da gibt’s nur einen Ort, an dem sie sich bessert; man schickt sie nach Paris zu Berthe de Cyliane.«

Die Töchter grinsten und stießen sich unter dem Tische an; auch der Geheimrat hatte Bedenken; da er sie aber nicht äußern konnte, so drang seine Gattin mit ihrem Vorschlag durch; sie schrieb einen mütterlichen Brief an Berthe de Cyliane, in dem sie »der unvergessenen Erzieherin und Freundin ihrer Töchter« ihre leider völlig aus der Art geschlagene Nichte Luise Kersten ans Herz legte.

Dies Schreiben brachte die Zofe mit einem Stoß anderer Post Berthe de Cyliane, als sie sie wie üblich des Mittags weckte, ans Bett. Auch von Annemarie, Geheimrats ältester Tochter, war ein Brief dabei.

Berthe de Cylianes Lügenhaftigkeit war pathologisch; sie glaubte stets, was sie sprach. Und wenn sie bei Frau Walther die sittsame Gouvernante spielte, war es ihr für den Augenblick bitter ernst damit. Wer ihr Verstellung oder gar Heuchelei vorwarf, tat ihr unrecht. Sonst wäre sie bei der Lektüre dieses Briefes gewiß in helles Gelächter ausgebrochen. So aber sann sie ernstlich nach, ob es nicht möglich war, diese Nichte, an die sie sich von ihrem Berliner Aufenthalt her nur noch unklar erinnerte, tatsächlich als Pensionärin bei sich aufzunehmen.

Sie ließ sich Tinte und Feder bringen und schrieb:

»Sehr verehrte Frau Geheimrat!

Ich sehe mit großer Freude der Ankunft Ihres Fräulein Nichte entgegen. Was in meinen Kräften steht, um sie auf den Weg der Tugend zurückzuführen, das soll, darauf verlassen Sie sich, geschehen. Mit aufrichtigem Dank für das mich ehrende Vertrauen und der ergebenen Bitte, mich dem Herrn Geheimrat und den lieben Töchtern zu empfehlen, bin ich Ihnen, Frau Geheimrat, sehr ergeben.

Berthe de Cyliane.«

Dann sah sie die übrige Post durch. »Ah, von Annemarie!« Sie öffnete und las:

»Einzige Berthe! Wenn Du den Brief meiner Mutter, der zugleich mit diesem zur Post kommt, vor meinem liest, dann sehe ich, wie Du vor Schreck aus dem Bette fällst. Jedenfalls beglückwünsche ich Dich zu Deiner neuen Würde als Pensionsmutter, für die Du nach den bei uns gezeigten Proben entschieden Talent hast. Ich bin neugierig, wie Du Dich aus der Affäre ziehst.

Meine Cousine Luise Kersten, die der Familienbann getroffen hat, ist eine Pute! Weißt Du, so eine von denen, die »in Gefühl und Charakter machen« und damit natürlich auf Schritt und Tritt anrennen. Du verstehst mich: unmodern, tugendhaft, korrekt bis in die Fingerspitzen, opfert sich für andere auf und lebt in dem Kinderglauben, daß bei allem, was geschieht, am Ende doch immer die Absicht und nicht der Erfolg entscheidet; mit einem Worte: ein Dummchen, zu dem ich Dir mein aufrichtig empfundenes Beileid ausspreche.

Nun, ihre Ideale sind ihr teuer genug zu stehen gekommen! Wenn je, dann ist jetzt die Gelegenheit da, sie umzukrempeln. Du tust auf alle Fälle ein gutes Werk damit, wenn Du versuchst, der dummen Pute ein bißchen Lebensklugheit beizubringen.

Sie ist jedenfalls in allem das Gegenteil von dem, was Mama schreibt. Leider! Weder verderbt, noch raffiniert, noch leichtsinnig, noch oberflächlich; somit also das Langweiligste, was sich denken läßt. Ob es Dir daher gelingen wird, eine mondaine Frau aus ihr zu machen, bezweifle ich.

In allem also das Gegenteil von meiner Schwester und mir, die wir unserer Lehrerin Berthe alle Ehre machen und bei bester Gesundheit und denkbar bestem Renommee uns köstlich »ausleben« und nichts von all den schönen Dingen »auslassen«, die einer höheren Tochter unserer Zeit verboten sind. Herrgott, es ist doch zu schön, ein bißchen leichtsinnig zu sein!

Deine Anne Marie.«

»Ist es! Ist es!« bestätigte Berthe, stieg in ihr Bad und überlegte, was sie mit ihrer Pensionärin, die um 4 Uhr in Paris eintraf, beginnen solle. Aber das »Lever de Berthe«, von dem man sich in Pariser Lebekreisen Wunderdinge erzählte, und zu dem Henri oft mit seinen Freunden erschien, nahm sie bald so in Anspruch, daß sie erst wieder an Luise dachte, als sie in einem Auto saß und zum Lunch nach dem »Pavillon de Madrid« fuhr.

Henri Laqueur und sein Bruder Marcel erwarteten sie. Sie zeigte ihnen die Briefe und erbat ihren Rat.

»Sehr einfach!« sagte Henri. »Wir bringen sie in einer anständigen Pension unter, und du schreibst unserer Tante, daß bei dir alles überfüllt gewesen sei.«

»Nicht einmal eine Lüge!« stimmte Marcel bei. »Denn ich den überzeugt, es wäre überfüllt, wenn du eine Pension hättest.«

»Wie sieht sie aus?« fragte Henri.

»So, wie eure Cousine sie schildert – genau so! Weder verderbt noch raffiniert, noch leichtsinnig, noch oberflächlich. Solche Frauen haben doch alle denselben Ausdruck – dabei ist sie nicht einmal häßlich – soweit ich mich erinnere – im Gegenteil!«

»Das wäre eine Frau für dich!« rief Henri; und Marcel erwiderte:

»Dasselbe dachte ich schon, als Berthe die Briefe vorlas.«

»Himmlisch! Die Idee ist himmlisch!« schrie Berthe vor Vergnügen. »Was soll sie denn auch in einer Pension, da langweilt sie sich ja zu Tode.« Und sie erzählte, um Marcel zu reizen, Wunderdinge aus Luises Leben, von dem sie in Wahrheit doch gar nichts wußte. »Wir holen sie ab, alle drei, und gehen mit ihr in die Capucines, da gibt’s heute ein neues Stück.«

»Nur nicht überstürzen!« riet Marcel. »Wenn wir gleich mit der Tür ins Haus fallen, dann riskieren wir, daß sie mit dem nächsten Zuge wieder nach Berlin fährt. Du erwartest sie natürlich an der Bahn; aber allein! Ohne uns! Nimmst ihr einen Strauß mit – einen Pensionsstrauß – nicht etwa für 30 Francs Orchideen, wie’s deine Gewohnheit ist; empfängst sie herzlich und sagst ihr . . .«, er dachte nach – »ja, was sagst du ihr gleich am besten . . . Halt! Ich hab’s.«

»Nun?« fragte Berthe, die ganz aufgeregt war.

»Du bist verlobt!«

»Mit wem?« rief Berthe und strahlte über das ganze Gesicht.

»Natürlich mit Henri! Mit wem wohl sonst.«

»Erlaub mal!« widersprach der.

»Auf Verlobung steht ja Gott sei Dank noch keine Ehe,« beruhigte ihn Marcel. »So geht’s am besten; du bist seit zwei Monaten verlobt und hast natürlich auf Wunsch deines Herrn Bräutigams« – er machte eine kurze Verbeugung vor seinem Bruder – »die Pension aufgeben müssen.«

»Himmlisch!« rief Berthe. »Wie schade – werde ich zu ihr sagen – wären Sie zwei Monate früher gekommen, dann hätten Sie das Pensionat übernehmen können; es brachte mir 30.000 Francs Überschuß im Jahre!«

»Richtig!« bestätigte Henri. »Das ist ungefähr die Summe, die du mich jährlich kostest.«

»Also abgemacht!« wiederholte Marcel. »Du holst sie ab, bringst sie in ein gut bürgerliches Hotel – am besten ins Mirabeau, das liegt günstig, – und wir treffen uns um 7 zum Diner bei Marguéry; da fällt sie nicht auf; denn wer weiß, wie sie aussieht.« Dann stießen sie an und tranken auf das Wohl von Marcels neuer Freundin.

XVII

Luise hatte während der Fahrt kein Auge geschlossen. Sie war sich klar geworden: fehlte ihr jetzt die Kraft, um zu vergessen, dann gab es für sie auch keine Möglichkeit mehr, weiterzuleben. Und bevor sie sich dahin durchgerungen hatte, war es auch zwecklos, über die Zukunft nachzudenken.

Und was war bisher bei allem Denken herausgekommen? Am Ende entschied doch immer das Schicksal, und es war daher gleichgültig, ob man sich dagegen auflehnte oder sich treiben ließ. Und ehe sie wurde wie die liebe Familie, lieber ging sie zugrunde.

Die liebe Familie! Bei der Ehrbarkeit und Heuchelei so dicht beieinander wohnten, daß sie sich nicht nur in allem, was sie tat, sondern selbst in dem, was sie dachte, von gesellschaftlichen Rücksichten leiten ließ und so gar nicht merkte, daß selbst ihre Ehrbarkeit am Ende nichts anderes als Heuchelei war.

Um aber von diesem moralischen Popanz innerlich frei zu werden, über ihn zu lachen und ihn zu verspotten, dazu war die Erinnerung in ihr noch zu lebendig, obschon sie deutlich fühlte, daß darin eine Schwäche und Beengtheit lag.

»Ich brauche nun nur noch an mich zu denken«, sagte sie sich ein über das andere Mal. »Ich will alle Kraft zusammenreißen! Ich will vergessen! Ich will leben!«

Pünktlich um 4 Uhr lief der Zug in die Gare du Nord ein. Berthe erkannte Luise bereits am Wagenfenster und winkte ihr mit einem Strauß dunkelroter Nelken zu, half ihr beim Aussteigen, begrüßte sie ungezwungen und drückte ihr herzlich die Hand. Seit langem war Luise kein Mensch so freundlich begegnet.

»Wie lieb Sie sind!« sagte Luise ein über das andere Mal. »Hat man Ihnen denn nicht mitgeteilt, was für ein schlechter Mensch ich bin?«

»Natürlich hat man das!« erwiderte Berthe.

»Ja und trotzdem . . .« sagte Luise erstaunt.

»Weil Sie mit den Leuten nicht leben können, sind Sie für mich noch lange nicht minderwertig; im Gegenteil! – Sie haben nur einen Fehler: Sie nehmen den ganzen Krempel zu ernst.«

»Welchen Krempel?« fragte Luise.

»Nun, das bißchen Leben! Hätten Sie meine Jahre und Erfahrungen hinter sich – Sie dächten in erster Reihe nun endlich mal an sich und nähmen das Leben von der leichten Seite.«

Luise sah sie groß an. »Merkwürdig!« sagte sie. »Was Sie mir da raten, das predige ich mir seit Tagen ununterbrochen.«

»Ausgezeichnet!« rief Berthe. »Ich sehe schon, wir werden gut miteinander auskommen.«

»Ich will es hoffen«, antwortete Luise.

Sie waren durch die Bahnhofssperre links zur Douane gekommen. Luise hatte ihre Koffer geöffnet, und Berthe hatte auf den ersten Blick die für ihre verwöhnten Begriffe recht mangelhafte »Equipierung« Luises erkannt. Jedem Kleidungsstück, das der Zollbeamte mit seinen schmutzigen Fingern aus dem Koffer hob, so solide und modern es war, fehlte das Letzte: die persönliche Note.

Als die Formalitäten erledigt waren, nahm Berthe Luise unter den Arm und geleitete sie zu ihrem Wagen.

»Und nun, meine Teure, eine kleine Überraschung . . .«, und sie erzählte von ihrer Verlobung, von der Aufgabe ihres Pensionats und daß Luise daher zunächst mal in ein Hotel müsse; morgen würde man weiter sehen. —

Dann stiegen sie in den Wagen und fuhren zur Rue de la Paix. Berthe hatte, bevor sie zur Bahn fuhr, ein behagliches Zimmer für Luise gewählt; dies und jenes Stück auf einen andern Platz gerückt; einen kleinen Teetisch mit Rumpelmeierschem Gebäck gedeckt, hier und da ein paar frische Blumen verteilt, so daß der behagliche Raum kaum noch an ein Hotelzimmer erinnerte.

Berthe, die sonst nichts anrührte und alles von ihrer Zofe und ihrem Mädchen machen ließ, half und bückte sich, kramte unter Kleidern und Hüten und suchte für den Abend heraus, was ihr am passendsten schien. Luise überwand die Scham, sich vor Berthe zu entkleiden; sie stieg ins Bad, das mit dem Zimmer verbunden war, ließ sich frisieren und zog sich dann mit Berthes Hilfe für den Abend an.

Als sich Luise in dem Spiegel sah, kannte sie sich kaum wieder; die Frisur hatte sie völlig verändert; ihr Gesicht schien länger und schmaler; noch blasser sah sie aus als zuvor, aber sie lehnte alle Versuche Berthes, die ihr Porzellantöpfchen mit Guerlains »Rouge de Chine« und ihre Quaste mit Cotyschem Poudre l’Effleurt stets bei sich trug, ab und weigerte sich, mit künstlichen Mitteln irgendwelcher Art nachzuhelfen.

»Sie sind ein Schäfchen«, sagte Berthe. »Aber vielleicht haben Sie recht; Sie sehen ganz allerliebst aus, und wie ich Marcel kenne, werden Sie gerade so ganz sein Geschmack sein.«

»Marcel? – Wer ist Marcel?« fragte Luise erstaunt. Berthe, die seit Stunden an nichts anderes als an die Vereinigung Marcels mit Luise dachte, hatte sich vergaloppiert; jetzt ausweichen, hieß den Fehler nur vergrößern; also sagte sie möglichst unbefangen:

»Marcel ist mein Schwager; der Bruder meines Bräutigams. Er haßt alle deutschen Frauen; und zwar leidenschaftlich und ausnahmslos. – Als wir ihm von Ihrer Ankunft sprachen, da geriet er . . .« – sie stockte – »es ist vielleicht kränkend, wenn ich es Ihnen sage.«

»Aber bitte, bitte,« erwiderte Luise, »durchaus nicht; ich finde das im Gegenteil äußerst lustig, zumal doch seine eigene Mutter eine Deutsche ist.«

»War!« verbesserte Berthe. »Und sie hört es nicht gern, wenn man sie daran erinnert. Natürlich hat das bei Marcel nichts Persönliches.«

»Das glaube ich gern, denn er kennt mich ja gar nicht«, meinte Luise.

»Wollen Sie’s glauben, er wollte erst gar nicht mit uns zusammen sein, als er hörte, daß Sie kommen.«

Luise lachte laut auf. »Von der Seite habe ich also nichts zu befürchten«, sagte sie. »Das ist immerhin eine Beruhigung.«

Dann fuhren sie den großen Boulevard hinunter zu Marquéry. Henri und Marcel erwarteten sie. Luise kannte sie von Walthers her dem Namen nach; war völlig unbefangen und plauderte bald wie mit alten Bekannten.

»Wundern Sie sich gar nicht?« fragte Marcel nach einer Weile.

»Worüber?« fragte Luise und sah ihn an.

»Ich meine, Sie müßten sich wundern, daß wir vier so ganz für uns und ohne die mindeste Tante oder den leisesten Onkel fast wie selbständige und erwachsene Menschen beieinander sitzen. Würde man denn damit bei Ihnen in Deutschland nicht Anstoß erregen?«

»Richtig!« bestätigte Luise. »Sehen Sie, meine Begriffe haben sich derart verwirrt, daß ich nicht einmal mehr merke, in was für unmögliche Situationen ich mich begebe. Und was viel schlimmer ist . . .«

»Nun?« fragte Marcel.

»Ich fühle mich durchaus nicht geniert; ich kann mir nicht einmal etwas dabei denken.«

»Gott! Wie unverdorben Sie sind!« entschlüpfte es Marcel; und er erschrak.

Aber Luise lachte: »Unverdorben nennen Sie das? Mein Onkel, der Professor, würde es einen moralischen Defekt nennen und die Hände über dem Kopf zusammenschlagen.«

»Meines Erachtens kommt es doch immer nur auf das Bewußtsein an«, meinte Marcel. »So ist beispielsweise eine Frau, der ich zufällig in der Eisenbahn gegenüber sitze, und der es Freude macht, daß ich mich an ihren übereinandergeschlagenen Beinen und den Reizen ihrer durchbrochenen Bluse errege, tausendmal verdorbener als ein liebestolles Ding, das sich in seinem Unverstande dem Geliebten in die Arme wirft.«

»Gewiß, an sich schon«, bestätigte Luise. »Aber wer fragt heutzutage nach dem Bewußtsein oder gar nach der Gesinnung? Wer nun einmal in der Gesellschaft lebt . . .«

»Ja!« unterbrach sie Marschel. »Wenn Ihnen an dem Urteil der Gesellschaft liegt! Ich dachte, darüber wären Sie längst hinaus. Wie wir!«

»Wie Sie?« fragte Luise und war erstaunt.

»Gewiß! Glauben Sie, sonst säßen wir hier? Ja, kennen Sie denn die Geschichte meines Bruders nicht? Hat Berthe sie Ihnen denn nicht erzählt?«

»Ich hatte noch keine Gelegenheit,« erklärte Berthe,

»Fräulein Kersten weiß nur, daß wir verlobt sind.«

»Nun, dann will ich sie Ihnen mit ein paar Worten erzählen«, sagte Marcel. »Mein Bruder verliebte sich in Berthe, als eine entfernte Verwandte von uns in ihrem Pensionat war. Ich brauche Ihnen über Berthe als Menschen nichts zu sagen; Sie kennen sie von Berlin her. Mein Bruder warb um sie; Berthe willigte ein; somit war alles in Ordnung, wenn . . .«

»Nun?« fragte Luise.

»Ja, wenn meine Eltern nicht gewesen wären!«

»Und was taten die?«

»Als Henri es erzählte, kreischte meine Mutter: Eine Zimmervermieterin als Schwiegertochter – und fiel in Ohnmacht. Und der Vater klopfte Henri auf die Schulter und sagte in aller Ruhe:

»Mach keine Witze, Henri. So etwas macht man zu seiner Geliebten, aber man heiratet es nicht! Amüsier’ dich ein paar Monate mit ihr! Dann wird es Zeit, daß ich mich nach einer Frau für dich umsehe, die du heiraten kannst.‹

›Und was wird dann ans Berthe?‹ fragte mein Bruder.

›Deine Sorgen‹, erwiderte mein Vater. ›Dann wird sie ein anderer übernehmen.‹

›Ich war der Erste . . .‹ warf Henri ein und dachte, daß dies die Auffassung unsres Vaters ändern würde; der aber sagte in aller Ruhe: ›Einer muß den Anfang machen! Oder willst du etwa die soziale Frage lösen? Überlaß das andern. Kümmere dich ums Geschäft!‹«

»Immer dasselbe, überall dasselbe!« rief Luise. »Und was werden Sie nun tun?« fragte sie und wandte sich an Henri.

Der war verlegen und fand keine Antwort, denn er wußte noch immer nicht, worauf Marcel eigentlich hinaus wollte.

Aber Berthe, die selbst die Lügen andrer glaubte – auch dann noch, wenn sie, wie hier, die Wahrheit kannte – seufzte laut und klagte:

»Ach, wenn Sie wüßten, Liebste, Beste, was ich durchgemacht habe!«

»Sehen Sie sich die beiden an«, sagte Marcel. »Sie werden auch ohne den elterlichen Segen glücklich werden; und was wird am Ende den Eltern anders übrig bleiben, als sich damit abzufinden? Berthe ist dadurch, daß sie sich auf anständige Weise selbst ernährt hat, gesellschaftlich zwar auf Jahre hinaus arg kompromittiert.«

»Unglaublich!« rief Luise.

»Empörend!« bestätigte Berthe.

»Ist es bei Ihnen anders?« fragte Marcel.

»Aber nein, es ist genau so«, erwiderte sie.

»Nun also! Wie kann Sie das dann so in Erstaunen setzen?«

»Wenn alle Menschen so dächten wie Sie und Ihr Bruder, dann würde es anständiger auf der Welt zugehen!« sagte Luise; und Marcel sah, wie sie sich innerlich erwärmte.

»Wenn es auf das Denken ankäme!« erwiderte er. »Denken tun schon viele so wie wir; aber danach handeln, sehen Sie, sich über das Gerede der Leute hinwegsetzen, der gesellschaftlichen Heuchelei ein Schnippchen schlagen – so, wie’s mein Bruder tut, den Mut haben nicht viele.«

»Endlich einmal unter Menschen!« sagte Luise. »Wie froh ich bin!«

Diesen Gefühlsausbruch benutzte Berthe, die längst merkte, wie klug und wirksam Marcel operierte, um Luise die Hand über den Tisch zu reichen. Die griff freudig zu.

»Auf gute Freundschaft!« sagte Berthe.

»Von ganzem Herzen!« erwiderte Luise. Sie faßten alle vier an. Und da es sich herausstellte, daß sie in ihren Gefühlen immer deutlicher übereinstimmten, so faßte Luise mehr und mehr Vertrauen, und es schien ihr, als wenn sie endlich unter Menschen war, mit denen sie leben konnte.

Gegen Mitternacht trennten sie sich. Henri fuhr mit Berthe nach dem Place Pigalle; Berthe wollte tanzen. Marcel begleitete Luise ins Hotel.

Der schwere Burgunder lag allen in den Gliedern; Berthe trank ihn wie Wasser, und die Folge war: die Kinderstube in Bordeaux trieb Blüten, und sie vergaß alles, was sie sich an Manieren mühselig angeeignet hatte. Marcel kannte das und trieb daher zum Aufbruch; denn ihm war es bitter ernst mit der Eroberung Luises.

Kokotten reizten ihn längst nicht mehr. Freuden, bei denen die Frau kalt blieb, ekelten ihn. Die Frauen vom Theater waren launenhaft, ehrgeizig und berechnend; und da sie mit dem Verstande liebten, so waren auch sie kalt. Die Midinettes waren Studentinnen der Liebe, und er scheute die Mühen, von denen später doch andre profitierten. Die Frauen und jungen Mädchen schließlich, die bei seinen Eltern verkehrten, forderten Rücksichten und waren unbequem, unter Umständen gefährlich. Und dann: diese Art Frauen war immer dann unerreichbar, wenn man sich am zärtlichsten nach ihnen sehnte; war man mit seinen Gedanken aber mal woanders, dann konnte man sicher sein, daß sie einen überraschten und zur Last fielen.

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Дата выхода на Литрес:
30 ноября 2019
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Правообладатель:
Public Domain

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