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Handhabung der Fülle

Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs wurde das Wachstum der Sammlung zwischenzeitlich etwas gebremst. Die Gründe waren der verkleinerte Institutionsetat und die steigenden Preise für Altertümer. Erwerbungen waren nicht mehr im gleichen Mass möglich wie vor dem Krieg.194 Auch die Schenkungen wurden weniger.195 Doch das gebremste Wachstum beeinflusste die Auseinandersetzungen um die «Überfüllung des Museums»196 nicht. Erstaunlich nahtlos gingen die Debatten von 1910, 1915 und 1919 ineinander über. Auch die durch die Kriegsjahre veränderten Schwerpunkte auf der politischen Agenda hatten keine direkten Auswirkungen auf die Diskussionen, ausser man will die fehlende Beschlussfassung zur Mengenproblematik als Indiz für eine andere Prioritätensetzung verstehen.

Innerhalb des Museums, in der alltäglichen Sammlungspraxis, kam es hingegen zu Neuerungen: Die Museumsmitarbeiter versuchten Ordnung in die Menge zu bringen, die Direktion und die Museumskommission liehen Objekte an andere Institutionen aus, und die konstatierte Fülle wurde als Potenzial gesehen, um die Qualität der Sammlung zu optimieren. Die vorhandenen Sammlungsstücke wurden neu bewertet, zur Handelsware erklärt und verkauft. Aus dem gewonnenen Geld erwarb man neue Objekte.

Wie ich zeigen werde, gingen manche Änderungen in die Richtung der Forderungen, die in den Debatten zur Mengenproblematik geäussert worden waren. Doch sie wurden längere Zeit kaum über die Institution hinaus sichtbar gemacht und wahrgenommen. Dementsprechend waren sie auch nicht Gegenstand der geschilderten Debatten. Wie ich noch darlegen werde, kam es um 1928 zu einer Wende. Auf die erneut lancierte Debatte folgten erstmals direkt erkennbare Handlungen: Die Museumsbehörden entschieden, gewisse Sammlungsbestände dauerhaft wegzugeben und andere nicht mehr weiter auszubauen. Zudem zeichnete sich ab, dass eine baldige Veränderung in der Raumsituation stattfinden könnte, sodass die politischen Behörden glaubten, auf weitere Debatten über die Menge verzichten zu können.

Orten und ordnen

Auf den Vorschlag der Finanzdelegation von 1910, das Landesmuseum solle Sammlungsstücke abgeben, um den Platzmangel zu beheben, antworteten die Museumsbehörden damals wie folgt: Erst wenn der Erweiterungsbau vorhanden sei, könne entschieden werden, welche Stücke entbehrlich seien, weil in den vorhandenen Räumen keine «vollständige[…] Übersicht»197 über die Sammlung möglich sei.198 Aus den Kommissionsprotokollen und den Jahresberichten geht aber hervor, dass die Museumsangestellten einen wesentlichen Teil ihrer Arbeit genau dieser angeblich unmöglichen Tätigkeit widmeten: Sie versuchten, eine Übersicht über die Bestände zu gewinnen. Hauptsächlich ging es darum, festzustellen, was in welchen Räumen vorhanden war, und ein System zu entwickeln, um die Objekte lokalisieren zu können.

Hans Lehmann wollte den gesamten Sammlungsbestand systematisch erfassen. Nach seinem Amtsantritt 1903 wurde «sofort», wie es hiess, «an die Anlage eines Standortkataloges geschritten, d.h. an ein Inventar der sämtlichen, in den Museumsräumen und Depots aufbewahrten Gegenstände».199 Weiter war ein Assistent beauftragt, die neu erworbenen Objekte in Eingangsbüchern zu erfassen, indem er sie beschrieb und vermerkte, wo sie ausgestellt oder magaziniert wurden.200

In der Zeit von Lehmanns Vorgänger, Heinrich Angst, stand die buchhalterische Dokumentation zuhanden der Finanzkontrolle im Vordergrund: Es wurden Inventare der Objekte angelegt, die Auskunft erteilten über die laufenden Ausgaben, die Ankaufspreise der Altertümer und die Schätzungswerte der eingegangenen Depositen und Geschenke. Der «Buchhalter-Kassier» betreute diese Verzeichnisse.201 Die Finanzkontrolle des Finanzdepartements wie auch die Museumskommission überprüften von Zeit zu Zeit stichprobenartig, ob die erworbenen Objekte noch auffindbar waren. Sie schickten dafür einen Assistenten des Museums los, um bestimmte Objekte herauszusuchen und vorzuweisen.202 Nach der Einschätzung von Lehmann war nur ein seit längerer Zeit der Museumsverwaltung angehörender Beamter, der aus dem Gedächtnis wusste, wo sich was befand, in der Lage, die Gegenstände zu finden.203 Dass andere Suchhilfen fehlten, kann einerseits mit dem gehegten Ideal einer an den Ausstellungsraum gekoppelten überblickbaren Objektordnung erklärt werden. Andererseits wird daran auch die grosse Bedeutung der Objekte als Kapitalanlage erkennbar, wo das saubere Festhalten des monetären Werts zentral war. Die immense Grösse der Menge verlangte nun aber nach einem anderen Erfassungssystem, auch wollten die Museumsbehörden mehr als den Geldwert der Objekte festgehalten wissen.

Während seiner Amtszeit liess Hans Lehmann das System zur Erfassung der Sammlungsbestände mehrfach überarbeiten. In Zusammenarbeit mit dem eidgenössischen Finanzdepartement wurde versucht, ein Ordnungssystem zu finden, das die Angaben bündelte: diejenigen, die die Finanzkontrolle forderte (z.B. der aktuelle Versicherungswert), und diejenigen, die das Museumspersonal neu als wichtig ansah (z.B. eine Objektbeschreibung). Es wurde zu diesem Zweck ein Inventarbuch mit fortlaufender Nummerierung über alle Objekteingänge sowie nach Sach- und Materialgruppen angelegte Spezialkataloge und Inventare geführt, wobei die Standortangaben – in welchem Raum sich ein Objekt befand – nicht mehr fehlen durften. Parallel dazu wurden separate Standortkataloge angelegt.204

Das visuelle Moment blieb für die Orientierung in der Objektmenge weiterhin zentral: Immer wieder wurden die angelegten Bücher mit der Ordnung der Objekte im Museumsraum abgeglichen. Es wurde jeweils eine «Revision»205 durchgeführt, wie der Vorgang genannt wurde. Wenn auch Verzeichnisse die Merkleistung der Museumsmitarbeiter weniger strapazierten, mussten diese doch immer noch wissen, wie die Objekte aussahen, die sie innerhalb eines Raums suchten. «Übersicht gewinnen» muss wörtlich verstanden werden. Das Museumspersonal schaute sich die Dinge an, sichtete Stück für Stück die einzelnen Sammlungsbestände und suchte gezielt nach Objekten, deren Nummer, nicht aber deren Standort bekannt war – oder umgekehrt. Die Standortkataloge wurden aktualisiert, die vorhandenen Inventare überarbeitet.206 Anlass waren nicht selten räumliche Veränderungen: etwa wenn infolge der Kündigung eines Depots Gegenstände verlagert werden mussten.207

Ab den 1920er-Jahren wurde bei den Revisionen in den Depoträumen versucht, Objektgruppen ähnlich wie in den Ausstellungsräumen anzuordnen, «um auch in den Magazinen deren Übersicht und Studium zu erleichtern».208 Man wollte die ausserhalb der Ausstellungsräume befindlichen Sammlungsstücke «allfälligen Interessenten besser zugänglich […] machen».209 Damit waren die ersten Schritte in Richtung einer Studiensammlung vollzogen.

Temporäre Ausleihen

Während sich die Museumsbehörden in den Debatten über die Mengenbildung gegen die Abgabe von Objekten wehrten, war ihre alltägliche Praxis längst eine andere. Sie liehen nämlich immer wieder einzelne Sammlungsstücke wie auch ganze Bestände an andere Institutionen aus. So überliessen die Museumsbehörden verschiedenen musealen und museumsähnlichen Institutionen Sammlungsstücke als «Depositen». Das hiess, dass ein Stück leihweise für eine längere Zeit einer anderen Institution zur Ausstellung überlassen wurde, jedoch verbunden mit der Möglichkeit, es jederzeit zurückfordern zu können.210 Wie Hans Lehmann 1923 gegenüber dem Bundesrat ausführte, versuchte man dies «ohne grosses Aufsehen zu machen».211 In den Jahresberichten wurden diese Objektbewegungen zwar erwähnt, doch wurden die Berichte laut Lehmann von den Vertretern der Politik wenig beachtet.212 Dass die damalige Ausleihpraxis seitens der Museumsbehörden keine spezielle Erwähnung fand, lässt sich mit der Furcht vor grösseren Besitzverlusten erklären: Wenn sie Objekte für temporär entbehrlich bestimmten, unterwanderten sie ihr Argument, dass die Bedeutsamkeit der Sammlung in ihrer versammelten Grösse liege. Bei jeder Ausleihe betonten sie deshalb, dass man «ausnahmsweise und ohne Präjudiz»213 entschieden habe.214

Die Initiative für Ausleihen ging selten vom Landesmuseum aus. Es waren vielmehr verschiedene Institutionen, die Bittschriften an dieses sendeten und anfragten, ob sie leihweise Objekte für ihre Ausstellungen haben könnten. Oft wurden ihre Anfragen abgelehnt.215 Manchmal wurden bloss einige wenige Gegenstände weggegeben: Die Museumskommission stimmte beispielsweise zu, ein paar Zinngeräte zur Ausschmückung des Büffets im Wirtschaftslokal «Rütlihaus» auszuleihen. Die Rütlikommission der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft hatte dafür ein Gesuch gestellt.216 Manchmal konnten es aber auch mehrere hundert Stücke sein: So wurden an verschiedene Schlösser zahlreiche Halbharnische abgegeben, ohne die vorhandenen Bestände «nennenswert zu vermindern», 217 wie es hiess.218

Auch wenn die Museumsbehörden die Ausleihen als solitäre Aktionen ausgaben, lässt sich doch eine Tendenz in der Objektauswahl feststellen. Mehrheitlich waren es Gegenstände aus den Depots, die anderen Institutionen für ihre Dauerausstellungen ausgeliehen wurden, so zum Beispiel magazinierte Möbel und Waffen aus den ehemaligen Beständen des kantonalen Zeughauses von Zürich.219 Die Behörden des Landesmuseums wollten aber unbedingt die Kontrolle über die ausgeliehenen Sammlungsstücke behalten: Es wurde dafür ein Verzeichnis der Depositen angelegt, die Objekte wurden vor ihrer Abgabe fotografiert, um allfällige Beschädigungen feststellen zu können, und bei den Leihnehmern wurden später vor Ort auch Inventarisationen und Revisionen durchgeführt.220 Was zu vermeiden versucht wurde, waren Ausleihen für temporäre Ausstellungen. Hier war die Furcht vor Beschädigungen an den Objekten durch unsachgemässe Handhabe noch viel grösser als bei den Dauerausstellungen.221 Auch von einer planvollen Wahl der Zielorte versprach man sich eine bessere Kontrolle über die Sammlungsstücke: Sie wurden nicht an Private, sondern nur an öffentlich zugängliche Sammlungen ausgeliehen, wie etwa an die historischen Museen von Basel und St.Gallen sowie an die Schlösser Kyburg und Hegi.222 In diesem Zusammenhang erscheint es als Glücksfall, dass 1912 dem Landesmuseum die Schlossanlage Wildegg im Kanton Aargau geschenkt wurde. Julie von Effinger, die letzte Vertreterin der dort wohnhaften Familie von Effinger, hatte diese Schenkung veranlasst.223 Damit gelangte das Landesmuseum nicht nur in den Besitz seines bisher «umfangreichste[n] Sammlungsobjekt[s]».224 Es erhielt auch zusätzlichen «Stauraum», wenn auch nicht in Zürich. Objekte, die nicht den höchsten Stellenwert in der Sammlung hatten, die man aber doch nicht weggeben wollte, konnten nun in den 35 Wohnräumen des Schlosses ausgestellt werden (Abb. 14). Das waren vor allem Möbel und wiederum Waffen aus den Depositenbeständen des früheren Zeughauses des Kantons Zürich. Das im Schloss noch vorhandene Mobiliar, welches vorwiegend aus dem 19. Jahrhundert stammte, wurde verkauft, weil es nicht den Sammelpräferenzen der Museumsbehörden entsprach. Aus dem Erlös finanzierte man die Restaurierung des Gebäudes, die zum Ziel hatte, das Schloss in den Zustand der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts zurückzuversetzen.225 1915 wurde das Schloss Wildegg als Museum eröffnet (vgl. Abb. 14).226


Abb. 14: Schloss Wildegg Aargau, Erstes Obergeschoss, Salon, 1913, SNM Dig. 28840.

Die Ausstellungstätigkeit im Schloss Wildegg war indessen gleich wie die Leihgaben an andere Institutionen in ihrem Umfang nicht gross genug, um damit die Forderungen nach dezentralisierter Ausstellung erfüllen zu können. Beides zeugt aber davon, dass museumsintern manche Dinge für den Hauptsitz in Zürich weniger unentbehrlich waren, als von den Museumsbehörden gegen aussen kommuniziert wurde, und deshalb in einem gewissen Mass durchaus Objektbewegungen stattfanden.

Verkäufe

Bestimmte Objekte waren sogar definitiv entbehrlich: Bereits in den 1890er-Jahren erklärten die Behörden des Schweizerischen Landesmuseums manche Stücke aus ihrer Sammlung als überflüssig für das Museum und verkauften sie.227 Gesetzlich verankert wurde der Verkauf in der Erweiterung des Bundesbeschlusses von 1902.228 Die «Freiheit des Handels», 229 so wurde damals argumentiert, sei notwendig, weil der zur Verfügung stehende Kredit nicht ausreiche für Ankäufe.230 Das finanzielle Argument sollte auch später immer wieder vorgebracht werden, unabhängig davon, ob der Museumsetat tatsächlich geschmälert worden war.231 Das erste Ziel der Museumsbehörden war, durch den Verkauf mehr Mittel für Objektkäufe zu erwirtschaften. In den 1910er- und 1920er-Jahren wurde der Verkauf von Sammlungsstücken wiederholt zu einem zentralen ökonomischen und sammlungspolitischen Steuerungsmittel des Landesmuseums. Das belegen die Gewinnzahlen: Wurden in den 1900er-Jahren jährlich bloss einige hundert bis tausend Franken durch den Verkauf von Sammlungsstücken erwirtschaftet, 232 so schnellten die Gewinne in den beiden Folgejahrzehnten immer wieder massiv in die Höhe, beispielsweise 1912 auf 14 059.70 Franken233 oder 1921 auf 27 189 Franken.234 Das waren beträchtliche Summen gemessen am jährlich gesprochenen Altertümerkredit von 50 000 Franken. Diese Verkäufe waren nur denkbar, weil die Verantwortlichen der Auffassung waren, dass innerhalb der Museumssammlung Überfluss bestand, und eine bestimmte Vorstellung davon hatten, was in eine staatliche Sammlung gehört. Ich will auf diese Kaufgeschäfte nun näher eingehen und zeigen, dass sich diese Praktiken nicht in den bisherigen Analyserahmen der Forschung zu Funktion und Bedeutung kulturhistorischer Museen einordnen lassen.

Die getätigten Kaufgeschäfte waren von zweierlei Art: Zum einen wurden Sammlungsstücke verkauft, die bereits als Handelsgut in die Sammlung gekommen waren. Zum anderen gab es den Verkauf von Objekten, die eigentlich in die Sammlung des Landesmuseums aufgenommen worden waren, um als Sammlungsgut aufbewahrt zu werden. Ihr Verkauf gestaltete sich schwieriger, denn sie mussten zuerst vom Sammlungsgut in Handelsgut umgewertet werden, um überhaupt verkauft werden zu können. Ein Beispiel für die erste Geschäftsart ist der Verkauf von den 1916 in Sitten erworbenen 380 langen Spiessen, 853 Armbrustbolzen und 490 Pfeileisen. Sie wurden in das Landesmuseum aufgenommen in der Absicht, den grösseren Teil davon wieder zu verkaufen. Für die eigene Sammlung wurden 190 Spiesse (entsprechend der Bewaffnung einer Kompanie) sowie eine Serie Armbrustbolzen behalten. 30 Spiesse wurden dem Museum im Schloss Valeria in Sitten geschenkt, die restlichen Gegenstände verkaufte man an Museen und Private im In- und Ausland. In der Schweiz ansässige, öffentliche Museen wurden preislich begünstigt.235

Dass Objekte bloss als Handelsgut in das Landesmuseum aufgenommen und nicht dauerhaft eingelagert wurden, widerspricht den gängigen Auffassungen über die Bedeutung von musealen Sammlungen und ihren Wertesystemen und Bewertungsprozessen. Ich möchte dies anhand der in der deutschsprachigen Museumsgeschichte vermutlich am häufigsten zitierten Studie von Krzysztof Pomian über die gesellschaftliche Bedeutung der Museen und ihrer Sammlungstätigkeit erläutern.

Pomian beschreibt folgenden Prozess, den Objekte grundsätzlich durchlaufen können: Dinge verlieren ihre Nützlichkeit, gehen vergessen und werden damit zu Abfall. Für gewisse Dinge ist dies aber nicht die letzte Station ihrer Karriere in der Welt der Artefakte. Sie können neue Bedeutung erlangen.236 Bestimmte Milieus (nach Pomian intellektuelle und künstlerische) würden sie beispielsweise aufgrund ihrer Seltenheit zu schätzen beginnen, was sie wiederum für andere (Reiche und Mächtige) interessant und erwerbenswert mache.237 Einmal errungen, werden diese Gegenstände vor zerstörenden Einflüssen geschützt aufbewahrt, 238 an einem abgeschlossenen, eigens zu diesem Zweck eingerichteten Ort, eben etwa in einem Museum. Hier werden sie «aus dem Kreislauf ökonomischer Aktivitäten herausgehalten»;239 ja, ihr Wert und ihre Bedeutung speisen sich gerade daraus, dass sie sich ausserhalb des ökonomischen Kreislaufs befinden, so Pomian.240 Pomian nennt diese Artefakte «Semiophoren» und unterscheidet sie von den «Dingen»: Dinge dienen als Produktionsmittel oder Konsumartikel. Sie sind dem Menschen nützlich, aber ohne «Bedeutung».241 Im Gegensatz zu den Semiophoren haben sie keine semiotische Seite und verfügen nur über eine physische Präsenz.242 Nach Pomian entziehen die Museen (im Gegensatz zu den Privatsammlern) die Semiophoren für immer der ökonomischen Zirkulation.243 Objekte kommen demzufolge in das Museum hinein, ohne es je wieder zu verlassen. Das Museum stellt in seiner «Dialektik von Nützlichkeit und Bedeutung»244 für die mit Bedeutung versehenen Objekte die Endstation dar, eine komplett von ökonomischen Prozessen abgekoppelte Welt, deren Gegenstände nicht mit volkswirtschaftlichen Parametern wie Gebrauchswert oder Tauschwert erfasst werden können. Die Beispiele der verkauften Waffen zeigen nun aber, dass dieses dialektische Modell den musealen Bedeutungsformationen nicht gerecht wird. Die Termini «Ding» und «Semiophor» greifen nicht. Die Waffen waren stets Handelsgut, und doch waren sie auf eine spezifische Art bedeutsam als zwischenzeitlich im Museum eingelagertes Sammlungsgut. Für die Sammlungsziele des Landesmuseums hatten die Waffenbestände aber keinen dauerhaften Sammelwert, sondern primär einen Tauschwert. Der Erlös ermöglichte es, die Sammlung, wie es hiess, «mit wertvollen Stücken zu vervollständigen».245 Ferner konnte der aktuelle Marktwert von Objekten davon mitbestimmt sein, dass sie sich einmal in einem staatlichen Museum befunden hatten.246 Folglich gibt es zwar Bedeutungsveränderungen zwischen dem Museum und dem «nicht-musealen Ort», nicht aber in der Verknüpfung, die Pomian macht. Mit Justin Stagl könnte man von «Aussenbedeutung» und «Binnenbedeutung» sprechen: Die Erstere bezeichnet die Bedeutung der Dinge vor dem Gesammeltwerden, während die Letztere die neue Stellung der Objekte durch die Eingliederung in eine Sammlung meint.247

Die Verkäufe zeigen, dass das Landesmuseum keine ökonomiefreie Zone war, wie Pomian es pauschal für die Museumswelt behauptet. Die materiellen Ressourcen, die dem Landesmuseum zur Verfügung standen, spielten eine entscheidende Rolle für die Zusammensetzung der Sammlungen.248 Pomians Modell eines marktfernen Museums ist mehr Ausdruck eines herrschenden Ideals seiner eigenen Zeit, als dass es die Museumsrealität des gesamten 20. Jahrhunderts beschreiben würde. Die Sammlungsstücke verfügten über vielfache Bedeutungen, und eine Komponente der Bedeutung war die gewerblich-wirtschaftliche. Es kann sogar von einem Marktdenken gesprochen werden: Wenngleich nicht erwartet wurde, dass das Landesmuseum wirtschaftlich produktiv ist, 249 so war die Direktion doch sehr darauf bedacht, dass das Landesmuseum bei all seinen Transaktionen «Gewinne» erzielte. Eine «Gratisabgabe»250 von Objekten wollte man unter keinen Umständen. Die Sammlung in ihren verschiedenen Bestandteilen wurde als staatliche Kapitalanlage angesehen. Das hatte der erste Museumsdirektor 1893 pointiert formuliert, als er den aktuellen Versicherungswert (537 157 Franken) der bisher erworbenen Altertümer angab und dazu meinte:

«Die Zeit wird lehren, dass diese Kapitalanlage in idealer, wissenschaftlicher und gewerblicher Hinsicht reichliche Zinsen tragen wird.»251

Ich komme nun auf die zweite Art von Kaufgeschäften zu sprechen. Es handelt sich um den Verkauf von Dingen, die zuerst als bleibender Wert für die Sammlung des Landesmuseums galten, dann aber umgewertet und zu Handelsgut erklärt wurden. Ein Beispiel dafür ist das ursprünglich zum Sammlungsbestand gehörende Zürcher Porzellan. So wurde 1912 die erste grosse «Doubletten-Auktion»252 mit Stücken aus den Sammlungen des Landesmuseums durchgeführt. Mehr als die Hälfte der versteigerten Gegenstände, 184 Stücke, waren Porzellanobjekte.253 Später folgten weitere Verkäufe und Tausche der «überflüssigen Depots von Zürcher Porzellan», 254 wie die Qualifizierung lautete. Das Zürcher Porzellan gehörte zum Herzstück von Heinrich Angsts privaten Sammlungsbemühungen. An der ersten Landesausstellung 1883, in der Abteilung «Alte Kunst», die Angst mitorganisieren half, konnte er auch Porzellan und Keramik aus seiner Sammlung präsentieren. Diese Ausstellung war nicht nur ein genereller Testlauf für die Publizität von Altertümern, sie wurde auch zum Motor ihrer Wertsteigerung. Als Angst Ende der 1870er-Jahre zu sammeln begonnen hatte, galt das Zürcher Porzellan noch nicht als sammelnswert; nun war es zum Sammlungsgut avanciert. Als Angst dann Museumsdirektor wurde, wertete er seine Porzellansammlung gleich selbst auf, indem er sie zum unabdingbaren Grundstock der Sammlung des Landesmuseums erklärte.255

Wie die Wertsteigerung des Zürcher Porzellans Ende des 19. Jahrhunderts scheint auch dessen Wertverlust mit der Person von Angst eng verbunden gewesen zu sein: Als sich Angst vom Museumsbetrieb distanzierte, befand sein Nachfolger Hans Lehmann, Teile von Angsts Lieblingsbeständen seien entbehrlich. Bei der ersten Auktion war es noch Angst, der als Mitglied der Landesmuseumskommission die Stücke für den Verkauf auswählte.256 Die Preise bestimmte die Firma, die die Auktion organisierte – viel zu tief, wie Angst fand.257 Ein Jahr vor seinem Tod, 1921, wurden Teile der Porzellanbestände aus dem Ausstellungsraum des Landesmuseums entfernt: Man ging daran, «sehr zahlreiches, mehrfach vorhandenes Material auszuscheiden und dadurch eine Überladung der Glasschränke zu steuern».258 Der Moment der Neubeurteilung und Neuordnung wurde «zur Komplettierung der Sammlungen durch neu erworbene wertvolle Stücke»259 genutzt.260 Auch hier zeigt sich, dass das Museum wirtschaftlich agierte: Was aussortiert wurde, war nicht wertlos, sondern von neuem, monetärem Wert. Das Zuviel wurde damit zu einer Kapitalanlage. Der Verkauf war kein Mittel zur Verkleinerung der Menge, sondern zur Verbesserung ihrer Zusammensetzung.

Das Urteil über die für «entbehrlich»261 erklärten Dinge lautete oft: Es handle sich um «gleichartige[s] Material», 262 «Doubletten», 263 folglich um mehrfach vorhandene, gleiche Dinge. Von diesen Dingen wurde dementsprechend auch im Plural gesprochen («Doubletten», nicht «Doublette»). Überzählig war das, was nicht einzigartig, sondern gleichartig war. Es hatte keinen Sammlungswert, aber einen Handelswert. Mit diesem Urteil widersprachen die Museumsbehörden aber gleich in zweifacher Hinsicht ihrem andernorts formulierten Wertesystem: Zum einen gab es nach ihrem Wertesystem eigentlich gar keine Objekte «mehrfach». Zum anderen wurden die bisher gesammelten Dinge als massgebend für die aktuelle Praxis angesehen und entsprechend geachtet.

Zum ersten Widerspruch: Das Landesmuseum sammelte Objekte aus der vorindustriellen Zeit. Das hiess, man ging davon aus, dass «auf dem ganzen Gebiete des Kunstgewerbes früherer Zeiten genau gleiche Objekte nicht erstellt wurden, soweit es sich nicht um Erzeugnisse des Metallgusses oder um mit Hülfe von Modeln und dergleichen hergestellte Gegenstände handelt».264 Trotzdem sprach man von «Gleichartige[m]»: Beim Kauf und Verkauf gelte das Prinzip, «Gleichartiges nur in besseren Exemplaren zu erwerben mit der Absicht, das Minderwertige abzustossen, um so die Sammlungen in ihrer Qualität zu heben, ohne sie überflüssigerweise auszudehnen».265 Die Qualität der Sammlung sollte also dadurch verbessert werden, dass Dinge ersetzt wurden – mit dem Zusatz, dass die Sammlung so nicht vergrössert werde, half man gleich noch, die allgemeinen Bedenken zu verringern. Schwierig ist die gewählte Begrifflichkeit: Wie kann ein Objekt «gleichartig» und doch auch «besser» sein als ein anderes Stück? Eine eigentliche Erklärung dafür findet sich nicht, aber viele widersprüchliche Antworten. Lehmann meinte, man wolle nicht auf die Frage eintreten, «was überhaupt in einer Altertumssammlung als Doublette bezeichnet werden könne, sondern nur bemerken, dass Doubletten in einer Sammlung jedenfalls nur ganz ausnahmsweise wertvolle Objekte sind».266 Indem jedoch vom Wertvollen respektive Wertlosen gesprochen wurde, machte man implizit deutlich, dass es letztlich um eine Bewertungsfrage ging.267 Und da die Museumsbehörden die entsprechende Deutungshoheit besassen, war die Sache damit vom Tisch.

Zum zweiten Widerspruch: Die Verkäufe wurden so dargestellt, als ob die weggegebenen Dinge nie einen Sammelwert besessen hätten. Sie galten aber früher einmal als wertvoll für die Sammlung, wie das Beispiel der Porzellansammlung illustriert. Doch die Museumsbehörden erläuterten die vorgenommene Umwertung nur selten. In den Inventarbüchern wäre eigentlich eine solche Information strukturell vorgesehen gewesen. Sie verfügten über die Spalten, wo die beiden Objektbewegungen, «Eingang» und «Ausgang» festgehalten werden konnten. In der Spalte «Ausgang» hätte eine Begründung für die Weggabe angegeben werden können. Sehr selten nur finden sich hier Einträge wie «Doublettenauktion», 268 «als unverwendbar, wertlos beseitigt», 269 «nicht schweizerisch»270 oder «mottenzerfressen».271 Diese wenigen Begründungen für die Weggabe rekurrieren insgesamt auf den bekannten Wertekanon: einzigartig, materiell intakt, aus der Schweiz.

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