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Ein Ermessensnichtgebrauch oder -ausfall liegt vor, wenn die Behörde überhaupt kein Ermessen ausgeübt hat. Darin liegt ein Ermessensfehler, weil die normative Übertragung eines Ermessensspielraums die Behörde nicht nur berechtigt, sondern auch verpflichtet, Ermessen auszuüben. Deshalb kann auch ein gebundener Verwaltungsakt nicht in einen Ermessensverwaltungsakt umgedeutet werden.[161] Ob und in welchem Umfang die Behörde von ihrem Ermessen Gebrauch gemacht hat, richtet sich in erster Linie nach den Gründen des angefochtenen Bescheides. Es sind aber auch alle sonstigen erkennbaren Umstände, die zu der Entscheidung geführt haben, zu würdigen, auch wenn sie in dem Verwaltungsakt nicht ausdrücklich angesprochen sind.[162] Die Gründe für einen Ermessensnichtgebrauch können vielfältig sein. Die Behörde kann nicht erkannt haben, dass eine Ermessensentscheidung zu treffen ist oder sie hat fehlerhaft das Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen der Ermessensnorm verneint. Darüber hinaus kann die Behörde irrtümlich von einer Bindung ausgegangen sein, weil sie etwa fehlerhaft annimmt, dass nach der einschlägigen Ermessensrichtlinie stets eine bestimmte Entscheidung zu treffen ist, obwohl im Einzelfall ein atypischer Fall vorliegt, der eine Abweichung gebietet.[163]

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Eine Ermessensunterschreitung liegt vor, wenn die Behörde ihren Ermessensspielraum enger ausgeübt hat, als er in Wirklichkeit ist, weil sie eine in Wirklichkeit nicht bestehende Beschränkung ihres Ermessensspielraums annimmt. Der Unterschied zu einer Ermessensüberschreitung liegt darin, dass die Behörde im Falle der Ermessensüberschreitung eine Rechtsfolge wählt, die sie nicht wählen darf, während sie bei der Ermessensunterschreitung glaubt, eine Rechtsfolge nicht anordnen zu dürfen, die sie wählen könnte. Die Gründe für eine Ermessensunterschreitung können vielfältig sein. Die Behörde kann den durch die Ermessensnorm vorgegeben Ermessensrahmen, etwa bei einer Sollvorschrift, fehlerhaft zu eng auslegen. Denkbar ist auch, dass eine Ermessensrichtlinie den normativen Ermessensspielraum fehlerhaft zu eng fasst und die Behörde diese fehlerhafte Ermessensrichtlinie ihrer Entscheidung zugrunde legt. Darüber hinaus kann die Behörde eine (rechtmäßige) Ermessensrichtlinie fehlerhaft auslegen und zu einem Auslegungsergebnis kommen, das den normativen Ermessensspielraum zu eng fasst.[164]

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Der Ermessensentscheidung liegen sachfremde Erwägungen zugrunde, wenn Aspekte in die Ermessenentscheidung eingeflossen sind, die außerhalb des Ermessensrahmens liegen. Ob ein solcher Ermessensfehler, der auch als Ermessenswillkür bezeichnet wird, vorliegt, richtet sich nach dem Sinn und Zweck der Ermessensnorm. Der sich daraus ergebende Ermessensrahmen bestimmt, welche tatsächlichen und rechtlichen Erwägungen in die Ermessensentscheidung einfließen dürfen. Danach liegen beispielsweise sachfremde Erwägungen vor, wenn tatsächlich keine Abwägung der für die Ermessensausübung relevanten Aspekte stattgefunden hat. So darf die Behörde die Erteilung einer Sondernutzungserlaubnis (z.B. § 18 Abs. 1 S. 2 StrWG NRW, Art. 18 Abs. 1 BayStrWG, § 18 SächsStrG) nur aus Gründen versagen, die einen straßenrechtlichen Bezug haben. Ganz offenkundig liegen sachfremde Erwägungen vor, wenn für die Ermessensentscheidung etwa persönliche Laune oder Vorurteile des Behördenmitarbeiters maßgeblich waren. Werden Gesichtspunkte in die Ermessensentscheidung einbezogen, die nach dem Sinn und Zweck der Ermessensnorm nicht zu berücksichtigen sind, wird teilweise auch von einem (fehlerhaften) Heranziehungsüberhang gesprochen.

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Ein Heranziehungsdefizit ist demgegenüber gegeben, wenn die Behörde nicht sämtliche nach Lage des Falles für die Ermessensausübung wesentlichen Aspekte in ihre Entscheidung einbezogen hat. Innerhalb des sich aus dem Sinn und Zweck der Ermessensnorm ergebenden Ermessensrahmens besteht für die Behörde grundsätzlich Ermessensfreiheit bei der Auswahl der in ihre Ermessensentscheidung einzustellenden Gesichtspunkte, diese Freiheit ist aber nicht grenzenlos. Die Behörde muss zwingend alle wesentlichen Belange in ihre Ermessensentscheidung einstellen. Wesentlich sind alle Belange, die sich ohne weiteres als entscheidungserheblich aufdrängen.[165] Der Verpflichtung, alle wesentlichen Belange zu beachten, kann die Behörde nur nachkommen, wenn ihr diese Belange auch bekannt sind. Daraus ergeben sich notwendig Ermittlungspflichten der Behörde (§ 24 VwVfG), die einen Ermessensfehler begründen, wenn die Behörde nicht alle wesentlichen Aspekte ermittelt und in ihre Ermessensentscheidung eingestellt hat. Die Ermittlungspflicht findet allerdings ihre Grenze dort, wo der Adressat des belastenden Verwaltungsaktes zur Mitwirkung verpflichtet ist. Er muss die ihm bekannten Tatsachen und Beweismittel angeben (§ 26 Abs. 2 VwVfG). Kommt er seiner Mitwirkungspflicht nicht nach, obwohl ihm dies möglich und zumutbar ist, ist die Behörde nicht verpflichtet, von sich aus alle denkbaren Tatsachen und Beweismittel von Amts wegen zu ermitteln.[166]

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Ermessensdisproportionalität ist gegeben, wenn die Behörde sämtliche entscheidungsrelevanten Aspekte berücksichtigt hat, die Aspekte aber nicht mit dem ihnen jeweils gebührende Gewicht in die Ermessensentscheidung eingestellt hat.[167] Welches Gewicht den einzelnen Belangen zu geben ist, ergibt sich in erster Linie aus dem Sinn und Zweck der Ermessensnorm. Eine Fehlgewichtung liegt aber auch dann vor, wenn sich aus anderen gesetzlichen oder verfassungsrechtlichen Regelungen ergibt, dass ein bestimmter Belang besonderes Gewicht im Rahmen der Ermessensentscheidung hat. In diesem Zusammenhang können sich aus Grundrechten oder auch aus den Grundsätzen der Verhältnismäßigkeit und des Vertrauensschutzes Maßstäbe für die Gewichtung einzelner Belange ergeben. Denkbar sind aber auch Folgenbeseitigungslasten, weil die Verwaltung durch ein rechtswidriges (Vor-)Verhalten zu dem bestehenden Zustand beigetragen hat.[168]

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(d) Ein Ermessensfehler hat im gerichtlichen Anfechtungsverfahren grundsätzlich zur Folge, dass der belastende Verwaltungsakt gemäß § 113 Abs. 1 S. 1 VwGO aufgehoben wird. Eine Korrektur der fehlerhaften Ermessensentscheidung im verwaltungsgerichtlichen Verfahren kommt nur in den Grenzen des § 114 S. 2 VwGO in Betracht. Danach kann die Verwaltungsbehörde ihre Ermessenserwägungen hinsichtlich des Verwaltungsaktes auch noch im gerichtlichen Verfahren ergänzen. Die Formulierung „ergänzen“ macht deutlich, dass ein vollständiges Nachholen der Ermessenserwägungen nicht möglich ist. § 114 S. 2 VwGO ist damit nicht anwendbar, wenn ein Ermessensnichtgebrauch vorliegt. Darüber hinaus kommt ein Nachschieben von Ermessenserwägungen gemäß § 114 S. 2 VwGO nicht in Betracht, wenn wesentliche Teile der Ermessenserwägungen ausgetauscht oder erst nachträglich nachgeschoben werden.[169] Das ist etwa dann der Fall, wenn eine spezialpräventiv begründete Ausweisung eines Ausländers nachträglich ausschließlich auf generalpräventive Gründe gestützt wird. In derartigen Fällen liegt eine neue Ermessensentscheidung vor.

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§ 114 S. 2 VwGO regelt nur die prozessuale Zulässigkeit, Ermessenserwägungen zu ergänzen. Materiellrechtlich setzt das Nachschieben von Ermessenserwägungen voraus, dass keine Wesensänderung des Verwaltungsaktes erfolgt und der Adressat des Verwaltungsaktes nicht in seiner Rechtsverteidigung beeinträchtigt wird.[170]

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(3) Zentrale Bedeutung für die Klausurbearbeitung hat außerdem der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Er hat bei fast allen öffentlich-rechtlichen Klausuren Relevanz und ist sowohl bei gebundenen Verwaltungsakten als auch bei Ermessensverwaltungsakten zu prüfen. Denn der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wurzelt im Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) und jede hoheitliche Maßnahme muss mit höherrangigem Recht, also auch mit der Verfassung in Einklang stehen. Die Prüfung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes erfolgt in den Klausurbearbeitungen häufig fehlerhaft, weil die Klausurbearbeiter keine hinreichende Vorstellung von dem Inhalt und der Bedeutung des Grundsatzes haben.

Fall:

Das Verwaltungsgericht ist der Auffassung, die Ermessensentscheidung des Beklagten, dem Kläger, der erhebliche Schulden hat, gemäß § 35 Abs. 1 S. 2 VwGO die Ausübung aller Gewerbe zu untersagen, verstoße gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Zur Begründung führt das Verwaltungsgericht in seinen Entscheidungsgründen aus, angesichts der Bemühungen des Klägers, seine Schulden zu bezahlen, sei die Untersagung jeglicher Gewerbeausübung weder notwendig noch erforderlich. Die Untersagung würde ihn vielmehr daran hindern, seine Schulden weiter abzubauen. Ist die Begründung des Verwaltungsgerichts zutreffend?

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Vergleichbare Begründungen sind häufiger in Klausurbearbeitungen anzutreffen. Sie sind fehlerhaft und lassen erkennen, dass der Klausurbearbeiter den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit missversteht.

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Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist nicht mit der Notwendigkeit oder Erforderlichkeit einer hoheitlichen Maßnahme gleichzusetzen und darf auch nicht mit der umgangssprachlichen Bedeutung der Formulierungen „notwendig“ und „erforderlich“ gleichgesetzt werden. Der hoheitlichen Maßnahme muss ein legitimer Zweck zugrunde liegen und sie muss geeignet, erforderlich und angemessen sein.

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Die Verwaltung einschließlich der untergesetzlichen Rechtsetzung (Verordnungs-, Satzungsgeber) sind wie die Rechtsprechung auf die Zwecke der Verfassung und der jeweiligen Gesetze festgelegt. Der parlamentarische Gesetzgeber darf kraft seiner Souveränität die Zwecke seines Handelns innerhalb des durch das Verfassungsrecht gezogenen Rahmens selbst bestimmen (sog. Zwecksetzungskompetenz des Gesetzgebers). Dabei ist der Gesetzgeber nicht auf von der Verfassung selbst formulierte Zwecke beschränkt, vielmehr kommen auch in der Verfassung nicht ausdrücklich ausgesprochene Zielsetzungen in Betracht. Ausgeschlossen sind nur solche Zielsetzungen, die von vornherein mit der Verfassung in Widerspruch stehen.[171] Danach dient die Gewerbeuntersagung im Beispielsfall jedenfalls deshalb einem legitimen Zweck, weil sie einen für die Allgemeinheit nicht hinnehmbare weitere Verschuldung des Klägers verhindern soll.

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Geeignet ist die hoheitliche Maßnahme, wenn durch sie das angestrebte Ziel zumindest gefördert werden kann. Im Beispielsfall ist die Gewerbeuntersagung geeignet, das Ziel, den Kläger an der Ausübung jeglicher gewerblichen Tätigkeit zu hindern, zu erreichen.

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Erforderlich ist die Maßnahme, wenn es kein milderes Mittel gibt, das ebenso geeignet ist, das angestrebte Ziel zu erreichen. Die Erforderlichkeit darf deshalb nicht, wie im Beispielsfall, mit der Notwendigkeit der hoheitlichen Maßnahme verwechselt werden. Ist die hoheitliche Maßnahme, aus welchen Gründen auch immer, im umgangssprachlichen Sinne „notwendig“, ist damit noch nicht geklärt, ob sie (auch) erforderlich ist. Letzteres ist nur dann der Fall, wenn es kein anderes ebenso geeignetes aber milderes Mittel gibt. Im Beispielsfall ist ein milderes Mittel nicht erkennbar.

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Angemessen ist die Maßnahme, wenn die Bedeutung des zur Geltung zu bringenden Rechtsgutes nicht außer Verhältnis zu dem Rechtsgut steht, das zurücktreten muss. Die Angemessenheit erfordert damit eine Rechtsgüterabwägung zwischen dem öffentlichen Interesse am Erlass der hoheitlichen Maßnahme und dem rechtlich geschützten privaten Interesse daran, dass die Maßnahme nicht ergeht. Im Beispielsfall ist demnach abzuwägen, ob es angesichts des Bemühens des Klägers, seine Schulden zu tilgen, gerechtfertigt ist, von einer Gewerbeuntersagung abzusehen. Das lässt sich anhand der tatsächlichen Angaben im Beispielsfall nicht abschließend beurteilen. Das Bemühen um Schuldentilgung spricht zwar für den Kläger; es hat aber allenfalls geringes Gewicht, wenn kein nachhaltiges Bemühen erkennbar ist oder der Kläger über einen langen Zeitraum seinen Zahlungsverpflichtungen nicht nachgekommen ist. Das Verwaltungsgericht wird deshalb näher aufklären müssen, wie ernsthaft das Bemühen des Klägers ist. Liegt ein nachhaltiges und dauerhaftes Bemühen um Schuldentilgung vor, liegt es auch im öffentlichen Interesse, dem Kläger durch Gestattung der weiteren Gewerbeausübung Gelegenheit zu geben, seine Schulden abzutragen. Dabei kommt es in Einklang mit der Auffassung, dass maßgeblicher Zeitpunkt für die Rechtmäßigkeit der Gewerbeuntersagung der Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung ist (vgl. Rn. 346), nicht darauf an, welche Bemühungen der Kläger nach Erlass des Bescheids unternommen hat, weil nachträglich eingetretene Tatsachen wie eine spätere Schuldentilgung für die Rechtmäßigkeit der Gewerbeuntersagung irrelevant sind.

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ee) Im klassischen Klausurfall sind die dargestellten Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen eines belastenden Verwaltungsaktes in den Entscheidungsgründen eines verwaltungsgerichtlichen Urteils voll durchzuprüfen. Es handelt sich um Klausuren, denen eine Anfechtungsklage zugrunde liegt, die sich gegen einen aus einem (oder mehrere) Grundverwaltungsakt(e) und einer Zwangsmittelandrohung bestehenden Bescheid richtet und die erfolglos ist, weil der angefochtene Bescheid insgesamt rechtmäßig ist.

Fall:

Der Kläger hat Anfechtungsklage gegen eine ordnungsrechtliche Ordnungsverfügung erhoben, durch die ihm ein bestimmtes Verhalten auferlegt und ein Zwangsgeld angedroht worden ist. Das Verwaltungsgericht ist der Auffassung, dass die Ordnungsverfügung rechtmäßig ist. Wie wird das Verwaltungsgericht die Entscheidungsgründe seines Urteils aufbauen?

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In derartigen Klausurfällen empfiehlt es sich, in der Begründetheitsprüfung den Grundverwaltungsakt und die Androhung eines Zwangsmittels gesondert zu prüfen. Denn sie beruhen jeweils auf unterschiedlichen Rechtsgrundlagen, sodass sich auch die Prüfung der formellen und materiellen Rechtmäßigkeit nach unterschiedlichen Vorschriften richtet. Das Verwaltungsgericht wird deshalb seine Begründetheitsprüfung wie folgt aufbauen:

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1. Grundverwaltungsakt a) Rechtsgrundlage b) Formelle Rechtmäßigkeit c) Materielle Rechtmäßigkeit aa) Tatbestandsvoraussetzungen bb) Ggf. Ermessen
2. Zwangsgeldandrohung a) Rechtsgrundlage b) Formelle Rechtmäßigkeit c) Materielle Rechtmäßigkeit aa) Tatbestandsvoraussetzungen bb) Ggf. Ermessen

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Sämtliche Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen aus dem Aufbauschema sind zu erörtern, wenn die Anfechtungsklage erfolglos bleibt. Hat die Anfechtungsklage Erfolg, weil die Ordnungsverfügung rechtswidrig ist, müssen sich die Ausführungen in den Entscheidungsgründen des Urteils auf die Aspekte konzentrieren, die die Rechtswidrigkeit der Ordnungsverfügung begründen. Das folgt aus § 108 Abs. 1 S. 2 VwGO (vgl. dazu im Einzelnen Rn. 224 ff.). Soweit der Verwaltungsakt formell rechtswidrig ist, kommt es auf die materielle Rechtmäßigkeit nicht an. Ausnahmsweise ist auch in derartigen Fällen auch die materielle Rechtmäßigkeit zu erörtern, wenn der dem Klausurtext beigefügte Bearbeitervermerk des Prüfungsamtes den Hinweis enthält, dass auf alle (rechtlichen und/oder tatsächlichen) Probleme, ggf. hilfsweise, einzugehen ist bzw. diese darzustellen sind. Die Darlegung sogenannter Hilfsargumente und -erwägungen kann in der Klausur beispielsweise durch Formulierungen wie „unabhängig davon…“, „ungeachtet dessen…“, „zudem…“ etc. kenntlich gemacht werden.

Formulierungsbeispiel:

Die Ordnungsverfügung vom 20.1.2020 ist rechtswidrig. Die Voraussetzungen des §… liegen nicht vor. Auf Tatbestandsseite ist bereits keine Gefahr für die hier allein in Betracht kommende öffentliche Sicherheit gegeben. … Unabhängig davon, dass bereits die Tatbestandsvoraussetzungen der Norm nicht vorliegen, ist die Ordnungsverfügung vom 20.1.2020 auch im Übrigen nicht rechtmäßig. Die Behörde hat das ihr zustehende Ermessen fehlerhaft ausgeübt.

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ff) Eine häufige Fehlerquelle in den Klausurbearbeitungen liegt darin, dass die Klausurbearbeiter auch die Rechtmäßigkeit der Anordnung der sofortigen Vollziehung gemäß § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 VwGO erörtern. Die Anordnung ist prinzipiell nicht Streitgegenstand des Klageverfahrens. Ob der Verwaltungsakt in zulässiger Weise sofort vollzogen werden darf, ist ausschließlich im Verfahren nach § 80 Abs. 5 S. 1 VwGO zu prüfen. Eine Ausnahme gilt nur dann, wenn der Kläger mit seiner Anfechtungsklage ausdrücklich auch die Aufhebung der Anordnung der sofortigen Vollziehung beantragt. In diesem auch in den Klausuren seltenen Fall ist die Anfechtungsklage unstatthaft, soweit sie sich gegen die Anordnung der sofortigen Vollziehung richtet. Denn die Anordnung gemäß § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 VwGO ist kein Verwaltungsakt (vgl. Rn. 615 f.).

b) Die Prüfung der Rechtsverletzung

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Neben der Rechtswidrigkeit des belastenden Verwaltungsaktes setzt die Begründetheit der Anfechtungsklage gemäß § 113 Abs. 1 S. 1 VwGO voraus, dass der Kläger „dadurch in seinen Rechten verletzt ist“. Es muss damit ein Rechtswidrigkeitszusammenhang in der Weise bestehen, dass die objektive Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes eine Verletzung subjektiver Rechte des Klägers zur Folge hat. Ist das nicht der Fall, so ist die Klage auch dann abzuweisen, wenn der angefochtene Verwaltungsakt rechtswidrig ist.

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Bei der Anfechtung des Verwaltungsaktes durch den Adressaten indiziert die objektive Rechtswidrigkeit des belastenden Verwaltungsaktes die erforderliche Rechtsverletzung, weil der Kläger zumindest in seinem Grundrecht auf allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) verletzt ist. Eine umfangreichere Prüfung der Rechtsverletzung ist deshalb regelmäßig nur in den Fällen der Drittanfechtung geboten. Der Dritte, der sich gegen einen ihn belastenden, an einen anderen gerichteten Verwaltungsakt wendet, ist nach der Schutznormlehre in subjektiven Rechten verletzt, wenn die Norm, gegen die der Verwaltungsakt verstößt, zumindest auch seinen Interessen dient. Diese Prüfung im Rahmen der Begründetheit der Anfechtungsklage unterscheidet sich von der Prüfung der Klagebefugnis des Dritten (§ 42 Abs. 2 VwGO) dadurch, dass für die Klagebefugnis die Möglichkeit einer Verletzung in subjektiven Rechten ausreicht, während § 113 Abs. 1 S. 1 VwGO voraussetzt, dass tatsächlich eine subjektive Rechtsverletzung gegeben ist. Auch bei einer subjektiven Rechtsverletzung ist die Anfechtungsklage ausnahmsweise abzuweisen, wenn der Kläger sein verletztes Recht nach den allgemeinen Rechtsgrundsätzen über die Verwirkung verloren hat.[172] Ein derartiger Fall kommt sowohl in der Praxis wie auch in den Klausuren selten vor.

4. Die Verpflichtungsklage

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Der Prüfungsmaßstab der Begründetheitsprüfung einer Verpflichtungsklage ergibt sich aus § 113 Abs. 5 VwGO. Soweit die Unterlassung oder Ablehnung des Verwaltungsakts rechtswidrig und der Kläger in seinen Rechten verletzt ist, spricht das Gericht nach § 113 Abs. 5 S. 1 VwGO die Verpflichtung der Verwaltungsbehörde aus, die beantragte Amtshandlung vorzunehmen, wenn die Sache spruchreif ist. Andernfalls spricht es gemäß § 113 Abs. 5 S. 2 VwGO die Verpflichtung aus, den Streitgegenstand unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu bescheiden. Danach sind zwei Arten der Verpflichtungsklage zu unterscheiden. In § 113 Abs. 5 S. 1 VwGO ist der Prüfungsmaßstab der Vornahmeklage, also der Verpflichtungsklage auf Erlass eines Verwaltungsaktes, geregelt. § 113 Abs. 5 S. 2 VwGO enthält den Prüfungsmaßstab der Bescheidungsklage, die bei Vorliegen eines Ermessensfehlers oder bei fehlerhafter Ausübung eines Beurteilungsspielraums in Betracht kommt. Zur Klarstellung ist darauf hinzuweisen, dass es sich bei der Vornahme- und Bescheidungsklage nicht um selbstständige Klagearten, sondern um Unterarten der Verpflichtungsklage handelt.

a) Wie die Begründetheitsprüfung einer Verpflichtungsklage aufzubauen ist, wird kontrovers diskutiert. Es werden zwei Möglichkeiten in Betracht gezogen, die beide unter prüfungsrechtlichen Gesichtspunkten vertretbar sind. Bei dem sog. Anspruchsaufbau wird geprüft, ob der Kläger einen Anspruch auf Erlass des beantragten Verwaltungsaktes (§ 113 Abs. 5 S. 1 VwGO) oder einen Anspruch auf Neubescheidung (§ 113 Abs. 5 S. 2 VwGO) hat. Der sog. Rechtswidrigkeitsaufbau orientiert sich am Wortlaut des § 113 Abs. 5 VwGO. Danach ergibt sich ein dreigliedriger Prüfungsaufbau:


1. Rechtswidrigkeit der Ablehnung oder Unterlassung des beantragten Verwaltungsaktes
2. Rechtsverletzung des Klägers
3. Spruchreife

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aa) Unter Ausbildungsgesichtspunkten ist dem in der Rechtsprechung favorisierten Anspruchsaufbau zu folgen. Denn der Rechtswidrigkeitsaufbau erschwert nicht nur die Prüfung der Begründetheit einer Verpflichtungsklage. Er ist darüber hinaus ebenso wie der Wortlaut des § 113 Abs. 5 S. 1 VwGO in hohem Maße missverständlich, weil er bei vielen Klausurbearbeitern den Eindruck erweckt, die Begründetheit einer Verpflichtungsklage sei wie die Begründetheit einer Anfechtungsklage zu prüfen, weil es nach dem Wortlaut des § 113 Abs. 5 S. 1 VwGO auf die Rechtmäßigkeit der Unterlassung des Verwaltungsaktes und eine Rechtsverletzung des Klägers ankommt. Ein dahingehender Prüfungsaufbau hat erfahrungsgemäß in der Klausurbearbeitung regelmäßig zur Folge, dass die Klausurbearbeiter bei der Prüfung der Begründetheit einer Verpflichtungsklage auch die formelle Rechtmäßigkeit des ablehnenden Verwaltungsaktes erörtern. Darauf kommt es aber grundsätzlich für die Begründetheit der Verpflichtungsklage nicht an. Die Verpflichtungsklage ist nämlich nur dann begründet, wenn dem Kläger der geltend gemachte Anspruch auf Erlass des Verwaltungsaktes (§ 113 Abs. 5 S. 1 VwGO) oder ein Anspruch auf Neubescheidung (§ 113 Abs. 5 S. 2 VwGO) zusteht. Ist das der Fall, folgt daraus zwangsläufig, dass die Unterlassung oder Ablehnung des Verwaltungsaktes durch die Behörde rechtswidrig ist und den Kläger in seinen Rechten verletzt. Im Kern regelt § 113 Abs. 5 S. 1 VwGO nach seinem Wortlaut damit nur die Folge, die sich aus dem Bestehen des geltend gemachten Anspruchs ergibt, nicht aber den wahren Prüfungsmaßstab bei einer Verpflichtungsklage. Das verdeutlicht der nachfolgende Beispielsfall.

Fall:

A klagt auf Erteilung einer Baugenehmigung. Die Ablehnungsentscheidung der Behörde genügt nicht den Begründungsanforderungen des § 39 Abs. 1 VwVfG. Wird das Verwaltungsgericht der Verpflichtungsklage des A aufgrund des Begründungsmangels stattgegeben?

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Das Verwaltungsgericht wird der Verpflichtungsklage nicht schon deshalb stattgeben, weil die Ablehnung der beantragten Baugenehmigung formell rechtswidrig ist. Denn die mangelnde Begründung der ablehnenden Entscheidung der Behörde hat aus sich nicht zur Folge, dass die Voraussetzungen für die Erteilung einer Baugenehmigung erfüllt sind und damit der geltend gemachte Anspruch auf Erteilung einer Baugenehmigung besteht. Diese Kontrollüberlegung verdeutlicht anschaulich, dass der Wortlaut des § 113 Abs. 5 S. 1 VwGO für sich gesehen missverständlich formuliert ist[173] und der Rechtswidrigkeitsaufbau dazu führen kann, dass in der Begründetheitsprüfung formelle Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen geprüft werden, die für den Erfolg einer Anfechtungsklage, nicht aber einer Verpflichtungsklage Relevanz haben.

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Von den formellen Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen eines (belastenden) Verwaltungsaktes spielt lediglich eine Voraussetzung auch für die Begründetheit einer Verpflichtungsklage eine Rolle. Es handelt sich um die Zuständigkeit der Behörde. Denn die Verpflichtungsklage ist nur dann begründet, wenn der Beklagte nach der Kompetenzordnung auch dafür zuständig ist, den beantragten Verwaltungsakt zu erlassen. Der Prüfungspunkt heißt aber bei der Verpflichtungsklage nicht „Zuständigkeit“ der Behörde. Vielmehr geht es um die Passivlegitimation des Beklagten, die erfüllt ist, wenn der Beklagte nach materiellem Recht befugt ist, den beantragten Verwaltungsakt zu erlassen.[174]

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Der Rechtswidrigkeitsaufbau ist auch deshalb unter Ausbildungsgesichtspunkten nicht zu empfehlen, weil er eine fehlerhafte Vorstellung über die Bedeutung der Spruchreife im Sinne des § 113 Abs. 5 S. 1 VwGO erwecken kann. Nach dem Rechtswidrigkeitsaufbau ist die Spruchreife ein selbstständiger Prüfungspunkt, der im Prüfungsaufbau nach der Rechtswidrigkeit des Ablehnungsbescheides und der Rechtsverletzung des Klägers zu prüfen ist. Dieser Aufbau stellt den Klausurbearbeiter in vielen Fällen vor kaum lösbare Aufbauprobleme, weil sich die Frage, ob und inwieweit das Verwaltungsgericht Spruchreife herbeizuführen hat, regelmäßig bereits bei der Prüfung der Rechtswidrigkeit des Ablehnungsbescheides stellt. In diesen Fällen muss von dem dreigliedrigen Aufbauschema des Rechtswidrigkeitsaufbaus abgewichen werden, indem die Prüfungspunkte Rechtswidrigkeit des Ablehnungsbescheides und Spruchreife zusammen in einem Prüfungspunkt erörtert werden. Beispiel: Kommt es für die Frage der Rechtswidrigkeit des Ablehnungsbescheides auf das Vorliegen einer bestimmten, bislang nicht hinreichend aufgeklärten Tatsache an, so muss die Frage, ob das Verwaltungsgericht insoweit Spruchreife herbeiführen muss, bereits bei der Prüfung der Rechtswidrigkeit des Ablehnungsbescheides erörtert werden; die Erörterung dieser Frage in dem nachfolgenden Prüfungspunkt „3. Spruchreife“ käme zu spät. Der Anspruchsaufbau vermeidet derartige Aufbauprobleme. Denn im Aufbauschema des Anspruchsaufbaus ist die Spruchreife im Sinne des § 113 Abs. 5 S. 1 VwGO nicht als selbstständiger Prüfungspunkt enthalten. Damit ist klar- und vor allem sichergestellt, dass die Spruchreife nicht isoliert, sondern im Zusammenhang mit den Anspruchsvoraussetzungen der Vornahme- und Bescheidungsklage und damit jeweils an richtiger Stelle erörtert wird.

421

bb) Begehrt der Kläger den Erlass eines gebundenen Verwaltungsaktes, ergibt sich nach dem Anspruchsaufbau folgendes Grundaufbauschema für die Begründetheitsprüfung einer Vornahmeklage gemäß § 113 Abs. 5 S. 1 VwGO:


1. Anspruchsgrundlage (für den Erlass des beantragten Verwaltungsaktes)
2. Passivlegitimation des Beklagten
3. Voraussetzungen der Anspruchsgrundlage

Das Grundaufbauschema der Begründetheitsprüfung einer Bescheidungsklage gemäß § 113 Abs. 5 S. 2 VwGO lautet:


1. Anspruchsgrundlage (für die beantragte Neubescheidung)
2. Passivlegitimation des Beklagten
3. Voraussetzungen der Anspruchsgrundlage

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Ob der Klausurbearbeiter dem Anspruchs- oder Rechtswidrigkeitsaufbau folgt, muss zu Beginn der Begründetheitsprüfung durch Formulierung entsprechender Obersätze klargestellt werden. Außerdem ist in den Einleitungssätzen wie bei allen anderen Klagearten die Norm zu nennen, aus der sich der Prüfungsmaßstab ergibt. Eine nähere dogmatische Begründung des gewählten Prüfungsaufbaus in Auseinandersetzung mit der jeweils anderen Aufbauvariante ist dagegen nicht erforderlich. Auf der Grundlage des vorzuziehenden Anspruchsaufbaus sind, soweit die Zulässigkeit der Verpflichtungsklage unproblematisch ist, folgende Einleitungssätze (sehr) zu empfehlen:

Formulierungsbeispiel (Vornahmeklage):

Die Klage ist als Verpflichtungsklage im Sinne des § 42 Abs. 1 VwGO zulässig und begründet. Der Ablehnungsbescheid des Beklagten vom 1.2.2020 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 5 S. 1 VwGO). Der Kläger hat einen Anspruch auf Erlass der beantragten waffenrechtlichen Erlaubnis.

Formulierungsbeispiel (Bescheidungsklage):

Die Klage ist als Verpflichtungsklage im Sinne des § 42 Abs. 1 VwGO zulässig und begründet. Der Ablehnungsbescheid des Beklagten vom 1.2.2020 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 5 S. 2 VwGO). Der Kläger hat einen Anspruch auf Neubescheidung, weil der Beklagte den Anspruch des Klägers auf ermessensfehlerfreie Entscheidung noch nicht erfüllt hat. Die Ermessenserwägungen in dem Bescheid vom 1.2.2020 sind fehlerhaft.

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b) Sowohl bei der Vornahme- als auch der Bescheidungsklage ist die in dem Grundaufbauschema vorgesehene Prüfungsreihenfolge einzuhalten. Sie gewährleistet eine klare und stringente rechtliche Prüfung.

424

aa) Zunächst muss stets die Anspruchsgrundlage geklärt werden. Sie ist, wie bei der Anfechtungsklage die Rechtsgrundlage, insbesondere entscheidend dafür, ob der Beklagte dafür zuständig und damit passivlegitimiert ist, den Anspruch auf Erlass des beantragten Verwaltungsaktes oder den Anspruch auf Neubescheidung zu erfüllen. Begehrt der Kläger etwa die Beseitigung einer Gefahr für die öffentliche Sicherheit durch Erlass eines Verwaltungsaktes, ist die Ordnungsbehörde zuständig und passivlegitimiert, wenn die Gefahr dem Anwendungsbereich des Ordnungsrechts unterfällt, während sich die Zuständigkeit und die Passivlegitimation nach den polizeirechtlichen Vorschriften richtet, wenn die Gefahr in den Anwendungsbereich des Polizeirechts fällt.

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