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Der Nieselregen der letzten Nacht hatte sich komplett verflüchtigt und strahlender Sonnenschein tauchte die Stadt in eine für diese Jahreszeit ungewöhnliche Helligkeit.

Zwiespältige Gefühle beschlichen Malin, als sie vom Parkplatz auf das Wellingsbüttler Torhaus zuging. Da ihr nächtlicher Besuch bei Fricke bereits Gesprächsthema über mehrere Etagen des Polizeipräsidiums war, hatte sie darauf verzichtet, die Kollegen über ihr Vorhaben zu unterrichten, und sich für die Mittagspause abgemeldet.

Auf der Wiese lag eine Horde Jugendlicher, Mütter schoben Kinderwagen vor sich her und die meisten Parkbänke waren besetzt. Das Laub der Bäume strahlte in Gold- und Rottönen. Einzig ein paar Reste des rot-weißen Absperrbandes erinnerten an den Polizeieinsatz der letzten Woche.

Malin blieb im Torbogen stehen. Deutlich stand ihr das Bild des toten Dr. Woy vor Augen. Sie schaute sich um und ging Schritt für Schritt den Bogen ab. Das alte Gemäuer und die dunklen Holzbalken verrieten nicht, was hier geschehen war.

Eine mit Kameras behängte Gruppe Asiaten bog um die Ecke und stieß fast mit Malin zusammen. Ein schmaler Junge verbeugte sich entschuldigend vor ihr. Sie starrte ihn an. Ein paar schwarze Augen starrten zurück. Das Museum, dachte sie, und ging durch den Torbogen auf den hinteren Trakt des Torhausgebäudes zu.

Ein Schild wies auf eine Sonderausstellung und die damit verbundenen zusätzlichen Öffnungszeiten hin. In den vormaligen Landarbeiterwohnungen wurden Fotodokumentationen über das ehemalige Adelsgut Wellingsbüttel und altbürgerliche Haushaltsgegenstände gezeigt.

Malin ging auf den Kassentresen zu. »Hallo, Frau Larsen, Sie erinnern sich an mich?«

Die Museumsangestellte runzelte die Stirn. »Brodersen. Die junge Frau von der Polizei. Ich vergesse nie ein Gesicht. Was wollen Sie?«

»Haben Sie vielleicht eine Minute? Ich hätte da noch ein paar Fragen.«

»Na schön, wenn es denn sein muss. Die Reisegruppe ist ohnehin gerade durch. Aber lassen Sie uns in den Garten gehen.«

Malin folgte Frau Larsen zu einer Bank hinter dem Torhaus. Dort hatten sie freie Sicht auf die weiße Prachtfassade des Herrenhauses.

»Sagen Sie, Frau Larsen, ist Ihnen zu letztem Mittwoch noch etwas eingefallen?«

»Dann hätte ich angerufen.« Die Museumsangestellte hielt die Arme vor der Brust verschränkt und starrte auf einen imaginären Punkt in der Ferne.

Malin stand auf und blieb dicht vor ihr stehen. »Frau Larsen, ich ermittle in einem Mordfall. Letzte Woche ist hier ein Mann tot aufgefunden worden. Er hat eine Frau und eine Tochter hinterlassen, eine Familie, die jetzt um ihn trauert. Ist es nun wirklich zu viel verlangt, mir noch ein paar Fragen zu beantworten?«

Ingrid Larsens steinerner Gesichtsausdruck löste sich und Malin konnte erkennen, dass die Frau mit sich rang.

»Also noch einmal, gibt es irgendetwas, das Sie mir erzählen können? Es muss nicht unmittelbar mit vergangenem Mittwoch zu tun haben. An einem Ort wie diesem kommen doch bestimmt viele interessante Menschen zusammen.«

Frau Larsen runzelte die Stirn. »Ich weiß nicht genau, ob es wichtig ist. Ehrlich gesagt, erscheint es mir jetzt doch ein bisschen komisch, dass ich ihn so lange nicht mehr gesehen habe. Aber bei solchen Leuten weiß man ja nie. Die kommen und gehen.«

»Wen meinen Sie? Wer kommt und geht?«

»Den ganzen Sommer über hat im Park ein alter Stadtstreicher übernachtet. Er hat mir leid getan, deshalb habe ich es niemandem gesagt.« Sie klang unsicher.

»Warum haben Sie uns das nicht gleich erzählt? Oder ist da noch irgendetwas?«, hakte Malin nach.

»Also gut, auch wenn ich nicht verstehe, was es mit dem Mord zu tun haben sollte … Eines Tages hat er frühmorgens vor dem Museum auf der Schwelle gesessen und um ein wenig Wasser gebeten. Er hat mir leid getan. Da habe ich ihm Kaffee gekocht und ihm ein belegtes Brötchen gegeben. Seitdem ist er jeden Morgen gekommen. Er war höflich und hat stets gewartet, bis ich ihm sein Frühstück gebracht habe. Wenn er fertig war, hat er Becher und Teller vor die Tür gestellt und ist gegangen. Bitte, Fräulein Brodersen, verraten Sie mich nicht. Wenn mein Chef das erfährt, bekomme ich bestimmt Schwierigkeiten. Und ich brauche diesen Job, um meine Rente aufzubessern. Wer nimmt denn sonst schon eine so alte Frau wie mich?«

»Machen Sie sich deswegen mal keine Sorgen, wir werden das vertraulich behandeln. Erzählen Sie mir was über den Mann, wie sieht er aus? Wissen Sie vielleicht seinen Namen?« Malin fischte ihr Notizbuch aus der Jackentasche.

»Er trägt immer so einen schmuddeligen schwarzen Regen­mantel und meistens eine rote Strickmütze. Ich glaube, seine Schuhe sind viel zu klein, denn er hat sich vorne die Spitzen weggeschnitten. Graue, schulterlange Haare, ziemlich zottelig, und er hat einen Bart. Sonst konnte man von seinem Gesicht nicht viel erkennen. Seinen Namen wollte er mir nicht sagen, aber er hat immer einen grünen Seesack dabei, da steht Harry drauf.«

Malin machte sich eifrig Notizen. »Sie haben vorhin gesagt, Sie hätten ihn schon länger nicht mehr gesehen. Wissen Sie noch, wann es das letzte Mal war?«

Frau Larsen schien einen Moment zu überlegen, dann wurde sie bleich. »Es war Dienstagmorgen – letzte Woche. Am Mittwoch, als ich die Leiche gefunden habe, war er nicht da. Er war seit Dienstag gar nicht mehr da.« Ihre Stimme war nur noch ein Flüstern.

Der kleine Ort Strande lag zwanzig Kilometer nördlich der Kieler Innenstadt auf der Halbinsel Dänischer Wohld, direkt an der Kieler Förde. Weiße Segeljachten im Strander Yachthafen, kilometerlange Sandstrände und die urwüchsige Steilküste hinter dem Bülker Leuchtturm waren die Aushänge­schilder des kleinen Ferienortes. An den schmalen Straßen standen liebenswerte alte Häuschen, kleine Katen und die eine oder andere feudale Villa.

Eine davon gehörte der Krimiautorin Charlotte Leonberger. Aufgewachsen in der Großstadt, hatte es Charlotte immer wieder zurück an den Urlaubsort ihrer Kindheit und die Heimat ihrer Tante Alma gezogen. Sie hatte ihr Glück kaum fassen können, als sie erfuhr, dass das alte Reetdachhaus, das sie schon als Kind bewundert hatte, zum Verkauf stand. Für einen total überzogenen Preis hatte sie es erstanden und für noch einmal die fast gleiche Summe renovieren lassen. Sie konnte es sich leisten. Ihre Krimis stürmten die Bestsellerlisten und wurden in mehrere Sprachen übersetzt.

Bereits als Kind hatte Charlotte ständig Geschichten zu Papier gebracht. Nach ihrem Journalistikstudium hatte sie eine Zeitlang für ein bekanntes Wirtschaftsmagazin gearbeitet, um sich ein finanzielles Polster zu schaffen. Dann hatte sie den Job gekündigt, um darüber zu schreiben, was sie wirklich faszinierte. Ihr erster Krimi hieß Frühjahrssterben.

Nach der Fertigstellung hatte sie lange auf Nachricht warten müssen, bevor schließlich eine Lektorin des renommierten Hamburger Verlages Alster Books ihr Interesse an dem Manuskript bekundete. Ein knappes Jahr später erschien Frühjahrssterben auf dem Markt und schlug ein wie eine Bombe. Es folgten Interviews für Zeitungen, Signierstunden und Autorenlesungen in ganz Deutschland.

Durch den Erfolg konnte Charlotte die renommierte Agentur Thompson & Leith im angesagten Viertel Hafen­city für die Vertretung ihrer Interessen gewinnen. Zur beeindruckenden Klientel zählten zahlreiche Prominente. Simon Thompson, einer der Teilhaber der Agentur und eine Koryphäe unter den Literaturagenten, nahm Charlotte höchstpersönlich unter seine Fittiche. Er schaffte es innerhalb kürzester Zeit, dass Alster Books sie für einen Vorschuss in sechsstelliger Höhe für zwei weitere Krimis verpflichtete. Dies glich in der Branche geradezu einem Ritterschlag, der weltweit nur wenigen Autoren zuteil wurde. Mit ihrem dritten Roman schaffte Charlotte den internationalen Durchbruch und ihr Agent verhandelte fortan erfolgreich mit ausländischen Verlagen. Ihr Bekanntheitsgrad ging mittlerweile weit über die eingefleischten Krimifans hinaus. Immer öfter sah man ihr Gesicht in Illustrierten und Talkshows. Zuletzt hatte sie es sogar auf die Titelseite des US-Magazins People geschafft.

Doch der Erfolg hatte auch seine Kehrseite. Unter anderem waren die Reisen zu den Autorenlesungen im In- und Ausland oft strapaziös. In der Abgeschiedenheit ihres Reetdachhauses dagegen wurde die Ruhe nur gelegentlich vom Kreischen der Möwen unterbrochen.

Charlotte hatte sich gerade einen Kaffee gemacht und betrachtete bedauernd den Stapel Tageszeitungen. Vermutlich würde sie es wieder nicht schaffen, sie zu lesen. In zwei Tagen hatte sie den Abgabetermin für die ersten zehn Kapitel ihres neuen Buches und sie befand sich bereits im Verzug.

Trotzdem warf sie einen Blick auf die Titelseite der obersten Zeitung. Seit einigen Tagen beherrschte der Mord an einem Hamburger Kinderarzt die Schlagzeilen. Die Neugier der Krimiautorin gewann die Oberhand. Sie griff nach der Zeitung und begann den Artikel zu lesen.

Irritiert hielt sie einen Moment inne.

Wie in meinem Buch, dachte sie und erinnerte sich an den anonymen Anruf wenige Tage zuvor. Wieder ärgerte sie sich maßlos über die Kieler Polizei. Die Beamten hatten sich wenig beeindruckt gezeigt, dass sie anonyme Anrufe erhielt, bei denen Textstellen aus ihren Krimis zitiert wurden. »Ein Wichtigtuer, das dürfte doch bei einer bekannten Autorin nichts Ungewöhnliches sein.« Später war sie sich dann selbst dumm vorgekommen.

Das Foto neben dem Artikel zeigte einen älteren Mann mit gutmütigem Gesicht und blauen, leicht wässrigen Augen. Sein dunkler Lockenschopf war mit grauen Strähnen durchzogen. Dr. Richard W. stand in der Bildunterschrift.

Eine Erinnerung streifte sie, doch das Klingeln ihres Handys­ riss sie aus ihren Überlegungen.

Die neuen Bestsellerlisten lagen vor. Der vierte Band ihrer Krimireihe hatte nur drei Wochen benötigt, um die Spitzenposition zu erreichen.

»Verdammt, Brodersen, wo sind Sie gewesen? Haben Sie schon mal was von abmelden gehört? Und warum ist Ihr verfluchtes Handy nicht eingeschaltet?« Fricke brüllte ihr schon von Weitem entgegen.

Malins Hochstimmung verflüchtigte sich. Sie schielte auf ihre Armbanduhr. Zwei Stunden war sie weg gewesen. Etwas zu lang für eine Mittagspause, aber keine Erklärung für die Aufregung ihres Vorgesetzten.

»Ich habe Mittagspause gemacht. Und ich habe Andresen Bescheid gegeben«, sagte sie ruhig und zog ihr Handy aus der Jackentasche. Das Display war schwarz. »Ist wohl der Akku leer«, murmelte sie. Durch die offene Bürotür sah sie, dass keiner der Schreibtische besetzt war. Vermutlich hatten ihre Kollegen ebenfalls eine Pause eingelegt.

»Chef, ich war eben zufällig in der Nähe des Torhauses und hab mich da noch mal ein bisschen mit Frau Larsen unterhalten. Sie wissen schon, die Zeugin, die die Leiche gefunden hat. Und Sie glauben nicht, was die mir erzählt hat.« Malin hielt ihm triumphierend ihr Notizbuch vor die Nase.

»Das können Sie mir später erzählen. Und dann reden wir auch noch mal über die Erreichbarkeit eines Polizeibeamten. Brodersen, mitkommen.« Fricke ging mit eiligen Schritten auf den Fahrstuhl zu.

»Chef, was ist denn los? Gibt es was Neues in Sachen Woy?« Malin folgte Fricke.

»Nein, aber eine neue Leiche. Machen Sie sich auf einiges gefasst, Brodersen, dagegen war der Torhausmord das reinste Zuckerschlecken.«

Das Fabrikgelände wirkte wie eine Geisterstadt. Verlassen lagen die Gebäude da, aufgereiht zu beiden Seiten eines großen Platzes. An der Stirnseite stand ein grauer Betonklotz mit graffitibesprühten Wänden. Die vergitterten Fenster waren dreckig und voller Spinnenweben, einige Scheiben eingeschlagen.

Vor dem Hauptgebäude standen mehrere Streifenwagen. Fricke parkte neben dem Transporter der Spurensicherung. Der Eingang des Gebäudes wurde von zwei uniformierten Beamten flankiert. Fricke zückte seinen Dienstausweis. »Wo ist die Leiche?«

»Im Untergeschoss«, antwortete einer der Beamten und reichte ihm eine Taschenlampe.

Sie betraten das Gebäude und fanden sich in einer riesigen leeren Halle wieder. Auf dem dunklen Betonboden konnte man noch Abdrücke der schweren Maschinen sehen, die hier einst gestanden hatten. Malin schaute an die Decke. Sie war bestimmt sieben Meter hoch. Sie durchquerten einen breiten Flur und gelangten von dort in einen dunklen Gang. Fricke schaltete die Taschenlampe ein. Am Ende des Ganges führte eine Betontreppe in den unteren Gebäudeteil. Ihre Schritte hallten durch das leere Treppenhaus. An der nächsten Biegung empfing sie gleißendes Licht.

Scheinwerfer waren aufgestellt worden und warfen düstere Schatten an das Betongemäuer. Ein Mann im Schutzanzug trat auf sie zu. Zwischen Kapuze und Mundschutz lugte eine runde Brille hervor. Malin erkannte Frank Glaser, den Chef der Spurensicherung.

»Können wir rein, Frank?«, fragte Fricke.

»Nur wenn ihr die komplette Montur anzieht.«

Sie schlüpften in Spurensicherungsoverall, Latexhandschuhe und blaue Überschuhe. Der Kriminaltechniker hielt ihnen Schutzmasken entgegen. »Glaubt mir, ihr werdet sie brauchen. Außerdem will ich nicht, dass ihr mit eurer DNA meinen Tatort kontaminiert.«

Schweigend streiften sie sich die Masken über den Kopf, dann folgten sie Glaser.

»Hier ist es«, sagte er und stieß eine schwere Eisentür auf.

8

Ein schwerer, würziger Gestank schlug ihnen entgegen. Unwillkürlich atmete Malin durch den Mund. Der Raum war von oben bis unten komplett gekachelt. An der rechten Wandseite befanden sich zwei große Waschbecken und an der Stirnseite des Raumes ragten große Eisenhaken aus der Wand.

Der Anblick in der Raummitte traf sie mit körperlicher Wucht. Sekundenlang schloss Malin die Augen. Dann blinzelte sie und starrte erschüttert auf den großen Metalltisch. Ihr Blick verharrte bei den langen dunklen Haaren. Das Gesicht war bis zur Unkenntlichkeit aufgedunsen. Wo sich die Augen hätten befinden sollen, war rohe Fleischmasse. Die Gliedmaßen schienen vollständig, doch der Körper war mit aufgeplatzten Wunden übersät. Die restliche Haut war feuerrot und verschrumpelt. Auf der Brust glänzte etwas Metallisches.

Malin stolperte zurück in den Gang, zog den Mundschutz herunter und übergab sich. Anschließend zog sie ein Taschentuch unter ihrem Schutzanzug hervor und wischte sich den Mund ab. Der säuerliche Gestank des Erbrochenen stieg ihr in die Nase und sie entledigte sich auch noch ihres restlichen Mageninhaltes.

In diesem Moment hörte sie lautes Fußgetrappel und einige Stimmen. Als Erstes kam ihr ein kräftiger Typ mit rötlichem Schnauzbart entgegen. Andresen. Malin stöhnte.

»Was ist denn das hier für eine Sauerei?«, zischte der Ermittler, als er beinahe ins Erbrochene trat. »War ja klar, Brodersen. Da wird sich die Spusi freuen.«

Kotzbrocken, dachte Malin nicht zum ersten Mal. Hinter Andresen folgte ein schmächtiger junger Bursche, in der Hand einen Alukoffer: Thorsten Sommer vom LKA 38, zuständig für den Fachbereich Fotografie. Sommer blieb einen Moment stehen und hantierte mit seinem Koffer herum. Dann betrat er mit der Kamera in der Hand den Tatort und begann mit seiner Arbeit.

Fricke stand neben dem Türrahmen und beobachtete die Techniker. »Frank, sind alle Temperaturen gemessen?«

»Nur noch die der Leiche.«

»Das mache ich«, ertönte hinter Malin eine energische Stimme.

Selbst im Schutzoverall gab Dr. Steinhofer eine elegante Erscheinung ab. Sie schob sich an Malin vorbei, nahm ihr Equipment aus der Arztasche und trat an den Metalltisch.

»Haben Sie eine Temperatur, Dr. Steinhofer?«

»Ja«, erwiderte die Rechtsmedizinerin knapp.

»Können wir dann endlich das gottverdammte Fenster öffnen?«, fragte Andresen. Sein Gesicht war deutlich blasser geworden.

»Ich lasse frische Luft rein«, erwiderte einer der Techniker.

»Kommen Sie, Brodersen, schauen Sie sich das an.« Fricke winkte sie heran.

»Mensch, Hans, könnt ihr nicht noch ein paar Minuten warten?« Frank Glaser blickte sie missmutig an, aber Fricke griff nach Malins Ellenbogen und zog sie neben die Rechtsmedizinerin an den Tisch.

Malin kämpfte mit aller Kraft gegen erneute Übelkeit und zwang sich, die Leiche zu betrachten. Die Tote hatte lange, schmale Gliedmaße. Hände und Füße waren mit Draht an den Metalltisch befestigt und die Haut wies tiefe Einschnitte auf.

»Woher stammen diese furchtbaren Verletzungen?« Malin zeigte auf eine der aufgeplatzten Wunden, die den ganzen Körper übersäten. »Ich habe so etwas noch nie gesehen.«

»Das sind Verbrennungen«, erwiderte Dr. Steinhofer.

»Verbrennungen?« Fricke kratzte sich nachdenklich am Kinn.

»Es ginge schneller, wenn Sie mich meine Arbeit machen ließen, Herr Hauptkommissar«, entgegnete Dr. Steinhofer sichtlich genervt.

»Was trägt sie da um den Hals?«, flüsterte Malin Fricke zu und zeigte auf den Gegenstand, der an einer Schnur befestigt am Hals der Toten lag.

»Sieht aus wie eine Münze«, brummte Fricke.

Dr. Steinhofer seufzte. »Fünf Minuten. Geben Sie mir nur fünf Minuten, dann bin ich hier fürs Erste fertig. Schaffen Sie das?« Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr sie mit der Untersuchung fort.

»Brodersen, wir müssen überprüfen, was das hier für ein Fabrikgelände ist«, sagte Fricke. »Und besorgen Sie die Aufnahme von dem anonymen Anruf.«

»Was für ein Anruf?«

»Heute Mittag ist über die Notrufzentrale ein anonymer Anruf eingegangen. Der Anrufer hat uns den Fundort der Leiche durchgegeben. Wir brauchen eine Stimmenanalyse, Hintergrundgeräusche und so weiter. Wir müssen … Ach verdammt, da fällt mir gerade was ein. Brodersen, ich bin in zwei Minuten wieder da.« Fricke verließ eilig den Raum.

Auch gut, dachte Malin und inspizierte ausgiebig die Umgebung. Glaser pinselte gerade die Waschbecken mit einem Puder aus Titanpulver ein. Malins Blick wanderte über die gekachelten Wände an die Decke. Dort ragten große Eisenhaken heraus. Wozu die wohl benutzt wurden? Ihr Blick glitt wieder zum Metalltisch, der außer der obligatorischen Tischplatte einen Grundboden hatte. Darunter befand sich ein Spalt.

Malin bückte sich. »Frank, kann ich mal deine Taschenlampe haben?«

»Du siehst doch, dass ich gerade nicht kann.«

»Wo ist denn die Taschenlampe?«

Verärgert wies Glaser mit dem Kopf in Richtung seines Spurensicherungskoffers. »Bring aber nichts durcheinander.«

Malin beugte sich über den geöffneten Alukoffer. Fein säuberlich geordnet befand sich dort eine Vielzahl in Schlaufen befestigter Instrumente, daneben verschiedene Flaschen, Tuben und diverse Objektträger. Mehrere Packungen mit Einweghandschuhen und durchsichtige Beweistüten waren dazwischengequetscht. Darunter lag die Taschenlampe.

Malin zog sie heraus und ging zurück zum Metalltisch. Sie leuchtete mit der Lampe in den Spalt unterhalb des Tisches. In dem Hohlraum befand sich ein Gegenstand. »Frank, komm mal, ich glaub ich hab da was.«

»Herrgott noch mal, Malin, wie oft soll ich dir noch sagen …«

»Ich weiß, du kannst gerade nicht. Schon gut, reg dich ab.« Malin streckte die Hand in den Hohlraum und stieß mit ihrer Fingerspitze gegen etwas Weiches. Dann streckte sie ihre Hand so weit vor, dass fast ihr gesamter Arm unter der Metallplatte verschwand. Sie zog eine braune Damenhandtasche hervor. Bingo.

Im Flur hallten Schritte und Sekunden später trat ein rotgesichtiger Fricke neben Malin. »Was haben Sie da?«

»Die lag unter dem Metalltisch, könnte die Handtasche der Toten sein.«

Fricke pfiff durch die Zähne. »Prima, Brodersen. Frank, hast du dir die Tasche schon angesehen?«

»Was für eine Tasche?«, fragte Glaser knapp, während er eine Objekttüte beschriftete.

»Na, die Tasche, die Brodersen hier gerade unter dem Metalltisch sichergestellt hat.«

»Ich hab doch gesagt, nichts anfassen. Kannst du mir denn nicht Bescheid sagen?« Wütend funkelte er Malin an.

»Hab ich doch, ich …«

»Kein Grund, sich an die Gurgel zu gehen«, warf Fricke ein. »Frank, mach weiter, wir kümmern uns darum.«

Glaser machte den Mund auf, schien es sich dann aber doch anders zu überlegen und wandte sich wieder seiner Arbeit zu.

Fricke blinzelte Malin zu. »Worauf warten Sie? Machen Sie die Tasche schon auf.«

Vorsichtig zog Malin den Reißverschluss auf. »Eine Packung Zigaretten. Ein Feuerzeug. Und hier eine Brieftasche.« Sie hielt eine braune Geldbörse hoch.

Fricke nahm sie ihr aus der Hand. »Da ist ein Ausweis drin. Das ist doch endlich mal was Gutes. Viktoria Steiner, geboren am 26. September 1969«, las er vor. »Sie hatte gestern Geburtstag. Hübsche Person. Schauen Sie sich mal das Foto an.« Er reichte Malin den Ausweis.

Es verschlug ihr den Atem. Das schöne Gesicht mit den dunklen Augen würde sie so leicht nicht mehr vergessen.

Fricke räusperte sich. »Sie wollten mir doch vorhin noch etwas erzählen.«

Malin schlug sich mit der Hand an den Kopf. Das war ihr völlig entfallen. Kurz fasste sie zusammen, was ihr Gespräch mit Frau Larsen ergeben hatte.

Fricke runzelte die Stirn. »Könnte interessant sein, muss es aber nicht. Vielleicht hat sich dieser Stadtstreicher in der fraglichen Nacht überhaupt nicht im Park aufgehalten.«

»Und der Fußabdruck?«

Fricke überlegte. »Also gut, Brodersen. Bestellen Sie die Larsen noch mal ins Präsidium. Wir werden eine Phantom­zeichnung anfertigen lassen und stellen die dann in die interne Fahndung ein. Zufrieden?«

Dr. Steinhofer trat zu ihnen. Die Rechtsmedizinerin schob die Kapuze ihres Overalls herunter und ihr stufig geschnittenes blondes Haar wurde sichtbar. Unwillkürlich strich sich Malin über ihren eigenen zerzausten Pferdeschwanz. Unter dem Overall der Rechtsmedizinerin schimmerte ein pinkfarbener Hosenanzug, der farblich auf ihren Lippenstift abgestimmt zu sein schien.

»Dr. Steinhofer, das ist übrigens Malin Brodersen. Unser neues Teammitglied«, stellte Fricke sie vor.

»Freut mich.« Dr. Steinhofer nickte Malin kurz zu. Trotz ihrer Attraktivität hatte ihr Gesicht einen harten Zug und in ihren grauen Augen lag eine gewisse Kälte.

»Und? Können Sie schon was sagen?«, fragte Fricke.

Dr. Steinhofer zog die Augenbrauen hoch. »Warten Sie das Ergebnis der Obduktion ab. Sie wissen doch, wie das läuft.«

»Wann können wir denn mit einem vorläufigen Ergebnis rechnen?«

»Frühestens morgen Nachmittag.«

»So lange können wir nicht warten«, entgegnete Fricke entrüstet.

»Werden Sie wohl müssen. Ihre Leiche ist nicht das einzige Todesopfer in dieser verdammten Stadt. Allein am Wochenende habe ich zwei Drogentote und vier Opfer einer Schießerei reingekriegt. – Wenn Ihre Spurensicherung dann so weit ist, lasse ich die Leiche abtransportieren.« Sie drehte sich um und ging ohne ein weiteres Wort auf einen der Kriminaltechniker zu.

Frickes Gesichtsausdruck nahm eine verräterische rote Farbe an. »Dr. Steinhofer, schauen Sie sich doch bitte noch dieses Foto an.« Er schwenkte den Personalausweis von Viktoria Steiner.

Widerwillig kam Dr. Steinhofer zurück und nahm ihm den Ausweis aus der Hand. »Könnte sein – Größe, Alter und Haarfarbe stimmen überein. Aber schauen Sie sich die Leiche doch an, keiner wird sie eindeutig identifizieren können. Wir brauchen schon die Zahnarztunterlagen oder Röntgenbilder.« Ungerührt drehte sie sich wieder um und packte ihre Tasche.

Fricke zischte durch die Zähne und wandte sich dann an Malin. »Okay, Brodersen, wir machen Folgendes: Rufen Sie im Präsidium an. Die sollen den Namen von Viktoria Steiner durch den Computer jagen. Dann sehen Sie zu, dass Sie Bartels auftreiben, dem hatte ich eigentlich kurzfristig freigegeben, aber das hier hat jetzt Vorrang. Informieren Sie ihn über die Leiche und dann machen Sie sich zusammen auf den Weg zu der Adresse auf dem Personalausweis. Ach ja, und noch was, Brodersen: Ziehen Sie endlich den verdammten Overall aus.«

Malin schaute an sich herunter. Flecken von Erbrochenem zierten ihren Oberkörper. Sie wurde knallrot. »Okay, danke, Chef.«

»Brodersen, vergessen Sie eines nicht: Auch ich habe mal angefangen.« Seine blauen Augen sahen sie freundlich an.

Sie parkten vor einem mehrgeschossigen Altbau in der Mozart­straße und warteten auf den Schlüsseldienst.

Malin musterte ihren Kollegen. Frederick Bartels’ Gesicht wirkte abweisend. »Sag mal, Fred, was ist los? Hör zu, Fricke hat mich gebeten, mit dir zusammen hierherzufahren. Wenn du das lieber mit Andresen erledigt hättest, beschwer dich bei ihm.«

Bartels seufzte. »Malin, nicht alles dreht sich um dich.«

Sie zuckte zusammen.

»Es ist etwas Privates«, fügte er versöhnlich hinzu.

»Aha.«

»Meine Frau hat mich verlassen.«

»Ich wusste ja gar nicht, dass …« Malin wies auf seinen leeren Ringfinger.

»Dass ich verheiratet bin? Ich habe den Ring von Anfang an nicht getragen.«

»Und weshalb hat sie dich verlassen? Oder ist das jetzt zu indiskret?«

»Wegen so einem blöden Typen mit Makkaroni-Charme und Olivenölstimme. Das hat man nun davon, wenn man seine Frau alleine in den Urlaub schickt. Und weißt du, was das Beste an der ganzen Sache ist?«

Malin schüttelte den Kopf.

»Sie sagt, ich sei schuld. Weil ich sie immer alleine gelassen hätte. Sonst wäre sie ja auch gar nicht alleine in den Urlaub gefahren. Und weißt du was, Malin? Ich glaube, sie hat recht. Ich bin ein beschissener Ehemann.« Seine dunklen Augen glänzten verdächtig.

»Unser Beruf ist nun mal nicht besonders familienfreundlich. Lass dir nicht einreden, dass es deine Schuld ist. Dazu gehören immer noch zwei«, erwiderte sie leise.

»Danke. Du bist gar nicht so übel, weißt du das?« Der Anflug eines Lächelns überflog sein Gesicht.

Malin sah verlegen aus dem Fenster. »Du, ich glaube, da kommt der Schlüsseldienst. Lass uns gehen.«

Wenige Minuten später betraten sie die Wohnung von Viktoria Steiner.

»Hallo, ist hier jemand? Polizei!«, rief Malin in die Stille.

Keine Antwort.

Vom Flur gingen vier Türen ab. Die erste führte in ein weiß gekacheltes Badezimmer. Über dem Waschbecken befand sich ein großer Spiegelschrank, daneben zierte ein Regal mit diversen Flakons die Wand. Am Handtuchhalter hingen violette Handtücher. Die nächste Tür führte in die Küche. Auf dem Fensterbrett standen kleine Zinktöpfe mit verschiedenen Kräutern, und zu beiden Seiten des Fensters hingen duftige Gardinen. Die Küche wirkte sauber und aufgeräumt. Der nächste Raum ging von der anderen Flurseite ab. Es war ein großzügig geschnittenes Wohnzimmer, gemütlich eingerichtet. Das Dunkelrot der Sitzmöbel harmonierte mit den gebeizten Holzregalen und dem schmiedeeisernen Couchtisch. Unterhalb des Fensters stand ein großer Zeichentisch.

Malin streifte Latexhandschuhe über. Schnell und geschickt durchsuchte sie die Schubladen und Schränke. Auf einer Anrichte stand ein Hochzeitsbild in einem Silberrahmen. Sie nahm das Bild in die Hand und erkannte die Frau sofort wieder. »Frederick, schau doch mal.«

Bartels, der mittlerweile in den angrenzenden Raum gegangen war, streckte seinen Kopf durch die Tür. »Hast du was? Ich sehe mir gerade das Schlafzimmer etwas genauer an.«

»Ein Hochzeitsfoto. Ob die getrennt leben? Oder hast du irgendeinen Hinweis dafür gefunden, dass hier auch ein Mann wohnt?«

»Nein, aber vielleicht sind sie auch geschieden«, kommentierte Bartels trocken, bevor er wieder im Nebenraum verschwand.

In einem Fach der Anrichte entdeckte Malin ein Notizbuch. Lauter Telefonnummern und Adressen. Einige von Ärzten. Ein Eintrag war mit kleinen Blümchen versehen. »Frederick, ich habe ein Adressbuch gefunden!«

Bartels kam wieder aus dem Nachbarzimmer und nahm ihr das Buch aus der Hand. »Prima, dann können wir ja hier erst mal Schluss machen. Solange wir nicht wissen, ob die Tote hundertprozentig Viktoria Steiner ist, haben wir hier sowieso keine Handhabe. Fricke hat das erst mal auf seine Kappe genommen.«

Während Bartels das Wohnzimmer bereits verlassen hatte, sah Malin sich noch einmal um. An einem Bücherregal blieb ihr Blick hängen.

»Malin, komm endlich. Wenn die Tote wirklich Viktoria Steiner ist, wird hier noch jeder Zentimeter unter die Lupe genommen«, rief Bartels vom Flur aus.

Widerwillig riss Malin sich los.

Es wurde bereits dunkel, als Malin ihren Mini auf dem gesicherten Parkplatz des Polizeipräsidiums abstellte. Sie fühlte sich völlig ausgelaugt. In der Damentoilette spritzte sie sich kaltes Wasser ins Gesicht und betrachtete ihr Spiegelbild. Ihr blondes Haar war wie immer zum Pferdeschwanz gebunden. Sollte sie es mal anders schneiden lassen? Ihr Gesicht war ganz in Ordnung. Etwas blass vielleicht, aber das machten ihre großen grünen Augen wieder wett.

Unwillkürlich musste sie an die dunklen Augen von Viktoria Steiner denken. Ihre Gedanken wanderten weiter zu der entstellten Leiche. Malin schloss die Augen und spritzte sich eine weitere Ladung Wasser ins Gesicht. Sie bräuchte eine Pause.

Seufzend trocknete sie sich ab und ordnete mit ein paar geübten Handgriffen ihren Pferdeschwanz. Dann verließ sie den Waschraum.

Die Luft im Großraumbüro war abgestanden und stickig. Jemand hatte ein zweites Whiteboard aufgestellt und die Tatortfotos vom Fabrikgelände daran befestigt. Bei Malins Eintreffen war bereits das ganze Ermittlungsteam versammelt.

Fricke hatte sich zwischen den Whiteboards postiert. »Ich weiß, ihr seid alle müde und kaputt, trotzdem brauche ich eure volle Aufmerksamkeit. Nachdem wir jetzt noch einen weiteren Mordfall zu bearbeiten haben, müssen wir uns neu formieren. Wir holen uns noch ein paar Leute dazu, aber bis es so weit ist, müssen wir uns aufteilen. Ole, du und Sven, ihr kümmert euch bis auf Weiteres um den Torhausmord. Knöpft euch die Witwe noch mal vor. Geht auch die Befragungsprotokolle der ehemaligen Patienten und die Telefonlisten noch mal durch. Vielleicht wurde etwas übersehen. Und macht Druck beim Labor. Wir brauchen den toxikologischen Befund.«

»Alles klar, Hans.«

»Was ist mit dem Phantombild des Stadtstreichers?«, warf Malin ein.

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Возрастное ограничение:
18+
Дата выхода на Литрес:
26 мая 2021
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392 стр. 5 иллюстраций
ISBN:
9783839264140
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