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Sie hatte versucht, es so lange wie möglich hinauszuzögern, doch allmählich waren ihr die Ausreden ausgegangen.

Verdammt, dachte Malin. Als hätte ich nichts Besseres zu tun. Der Sonntag war ihr erster freier Tag seit einer Woche und sie war auf dem Weg zum wöchentlichen Familien­essen. Ausgerechnet heute war ihr Mini nicht angesprungen. Schlecht gelaunt hatte sie sich auf den Weg zur U-Bahn gemacht. Die hatte nun aufgrund einer Signalstörung fünf­undzwanzig Minuten Verspätung. Und das, wo Malin sowieso schon zu spät dran war.

Kurz entschlossen verließ sie den Bahnsteig und steuerte den nächsten Taxistand an. Ein Wagen wartete bereits mit laufendem Motor auf Kundschaft. Knoblauchgestank drang ihr aus dem Wageninneren entgegen, trotzdem glitt sie auf die Ledersitze und nannte dem Fahrer die Adresse in Harvestehude. Sie lehnte sich zurück und versuchte, sich zu entspannen.

Seit zwei Tagen traten sie bei den Ermittlungen auf der Stelle. Sie hatten alle Verwandten, Freunde und Nachbarn von Dr. Woy befragt, Alibis überprüft und Zeugen vernommen. Nichts. Niemand schien etwas zu wissen oder auch nur ansatzweise ein Tatmotiv zu haben. Allem Anschein nach war Dr. Woy ein angesehener und unbescholtener Bürger gewesen, den alle gemocht und geschätzt hatten. Und dennoch hatte ihn jemand ermordet.

Am Harvestehuder Weg bezahlte sie den Fahrer und blieb kurz am Straßenrand stehen, um die Aussicht zu genießen. Hinter gepflegten Parkanlagen und der langen Ufer­promenade schimmerte die Außenalster und zeigte Hamburgs schönste Seite.

Malin wandte sich um und ging die paar Meter zur Auffahrt. Die weiße Jugendstilvilla mit dem parkähnlichen Garten befand sich seit Generationen im Familienbesitz. Malins Mutter war Constanze Heidenberg, Haupt­gesellschafterin der Heidenberg-Bank, eines hanseatischen Privatunternehmens, das seit fast anderthalb Jahrhunderten existierte.

Malin versuchte, das beklemmende Gefühl abzuschütteln, das sie jedes Mal befiel, wenn sie vor dem Haus ihrer Kindheit stand. Sie atmete tief durch und wollte gerade klingeln, als die Tür von innen weit aufgerissen wurde. Gewöhnt an den Anblick eines Dienstmädchens, sah Malin überrascht in das sommersprossige Gesicht von Marie Heidenberg, der Frau ihres Cousins Maximilian.

»Hi, Malin – akademisches Viertel?« Marie lächelte.

»Bin ich die Letzte?«

»Nein, Max ist noch in der Bank. Wie immer.«

Sie traten in einen getäfelten und üppig bestuckten Raum, der von allen nur der Salon genannt wurde. Eine blonde, gertenschlanke Frau kam ihnen entgegen und schaute missbilligend auf die Uhr. Constanze Heidenberg trug einen dunkelblauen Hosenanzug, kombiniert mit einer weißen Bluse und einer einreihigen Perlenkette. Das honigblonde Haar hatte sie zu einem strengen Knoten gesteckt.

»Du bist zu spät.«

»Ich freue mich auch, dich zu sehen«, erwiderte Malin trocken.

»Nun gut, dann können wir ja endlich beginnen. Geht ihr schon mal ins Esszimmer, ich sage schnell der Köchin Bescheid.«

»Was ist mit dem Dienstmädchen passiert?«, flüsterte Malin Marie zu, nachdem ihre Mutter den Raum verlassen hatte.

»Hat gekündigt.«

Sie grinsten sich an und betraten das Esszimmer, einen länglichen Raum mit blassgrünen Wänden und bis zum Boden eingelassenen Fenstern. Der sechs Meter lange Mahagoni­tisch war mit weißem Porzellan und Silberbesteck eingedeckt.

»Erzähl doch mal, wie steht es an der Verbrecherfront?«, fragte Marie neugierig, nachdem die drei Frauen am Esstisch Platz genommen hatten.

»Das ist wohl kaum das richtige Gesprächsthema beim Essen.« Constanze Heidenberg widmete sich ihrem Vor­speisen­teller mit gedünsteter Seezunge.

Malin räusperte sich. »Im Moment ermittle ich in einem Mordfall. Ihr habt bestimmt schon in der Zeitung davon gelesen – ein bekannter Kinderarzt. Wurde im Wellingsbütteler Torhaus aufgehängt gefunden.«

Mit einem lauten Klirren ließ Constanze Heidenberg ihr Fischbesteck auf den Rand ihres Porzellantellers fallen. »Malin­, ich verbitte mir jedes weiteres Wort darüber. Reicht es nicht, dass du der Bank den Rücken gekehrt hast? Müssen wir uns jetzt auch noch die Einzelheiten dieses – Berufes anhören?«

»Mutter, ich lasse mir hier nicht das Wort verbieten. Es tut mir leid, wenn ich deine Erwartungen nicht erfüllt habe, aber ich habe getan, was ich für richtig hielt. Und vielleicht würdest du es auch verstehen, wenn du nicht immer jedes Gespräch darüber verweigern würdest.«

Constanze Heidenbergs Blick wurde hart. »Du bist wie dein Vater, Malin. Auch er wollte weder unseren Familiennamen noch unsere Bank.«

»Lass Vater aus dem Spiel!« Malin hatte ihren Teller von sich geschoben und erhob sich von ihrem Stuhl.

Es herrschte betretenes Schweigen. Constanze Heidenberg war bei Malins Worten aschfahl geworden. Wortlos nahm sie ihr Besteck wieder zu Hand und fuhr mit dem Essen fort.

Marie schaute von der Mutter zur Tochter. »Ist es denn nicht möglich, dass ihr beide ein einziges Mal an einem Tisch sitzt, ohne euch gleich in die Haare zu kriegen? Malin, bitte setz dich wieder. Und du, Constanze, es hat doch keinen Sinn, immer wieder auf diesem Thema herumzureiten.« Maries Augen funkelten.

Zögernd setzte sich Malin. Nach einer Weile begann Constanze ein belangloses Gespräch über eine neue Kunstausstellung.

Froh, der angespannten Atmosphäre zu entkommen, verabschiedete sich Malin nach dem Dessert. Sie beschloss, zum Jungfernstieg zu gehen. Von dort aus konnte sie dann die U-Bahn nehmen. Nach wenigen Minuten hatte sie die Uferpromenade erreicht. Trotz des ungemütlichen Wetters kamen ihr zahlreiche Spaziergänger entgegen. Malin schaute zu einem Paar, das eng umschlungen auf einer der Parkbänke saß. Wehmütig wandte sie sich ab. Sie musste an Ben denken, den Mann, den sie drei Monate zuvor aus ihrem Leben geworfen hatte. Ben mit seinen strahlenden Augen und dem umwerfenden Lachen.

Sie hatten sich auf einer Party kennengelernt. Malin hatte sich mit einem Cocktail durch die Menge gedrängt und war ins Stolpern geraten. Der gesamte Inhalt des Glases hatte sich über Bens hellen und, wie sie erst später erfuhr, nagelneuen Kaschmirpul­lover ergossen. Mit hochrotem Kopf hatte sie vor ihm gestanden und nur noch zusammenhanglose Worte gestammelt. Und dann hatte er gelacht – schallend gelacht, bis ihm die Tränen kamen. Seit dem Abend waren sie ein Paar gewesen und Malin hatte das Gefühl gehabt, den Mann fürs Leben gefunden zu haben. Bis er eines Tages von ihrer Freundin Suse in inniger Umarmung mit einer rassigen Schwarzhaarigen gesehen worden war.

Malin hatte ihn umgehend zur Rede gestellt. Er hatte noch nicht einmal versucht zu leugnen. Sie hatte die Beziehung noch am gleichen Abend beendet und am nächsten Morgen die Bewerbung für die ausgeschriebene Funktionsstelle bei der Mordkommission eingereicht.

Tief in Gedanken versunken erreichte Malin den Jungfernstieg am südlichen Ufer der Binnenalster.

Sie setzte sich auf eine der tribünenförmigen Treppen des Anlegers und beobachtete das An- und Ablegen der weiß-roten Alsterdampfer. Ein Mann setzte sich unterhalb ihres Platzes auf die Stufen und zog eine Zeitung aus der Tasche. Der Torhausmord dominierte noch immer die Schlagzeilen.

Augenblicklich begannen ihre Gedanken wieder um die Mordkulisse zu kreisen. Obwohl sie und ihr Opa Tag für Tag unermüdlich die Krimis in ihren Bücherregalen durchforstet hatten, hatten sie bisher keinen Treffer gelandet. An spektakulären Kulissen mangelte es nicht gerade – Opfer an Bäume gebunden, Tote an bekannten historischen Gebäuden, aber keines dieser Szenarien stimmte mit dem Torhausmord im Detail überein.

Malin schloss frustriert die Augen. Sie beschloss, nach Hause zu fahren und ihre Wohnung aufzuräumen, das würde sie auf andere Gedanken bringen.

Schon von Weitem konnte sie den sperrigen Gegenstand vor ihrer Haustür erkennen. Verdammt, sie hatte vergessen, Suse zurückzurufen! Malin griff nach der weißen Sporttasche, die ihre Freundin demonstrativ quer vor die Tür gestellt hatte, und beförderte sie über die Schwelle. Sie würde sich später darum kümmern. Jetzt war sie müde und erschöpft.

Obwohl die Mitarbeiter der Mordkommission im Allgemeinen geregelten Bürozeiten nachgingen, schienen diese seit dem Auffinden der Leiche außer Kraft zu sein. Malin hatte fast rund um die Uhr gearbeitet. Die Medien übten bereits jetzt starken Druck aus und jeder aus ihrem Team schien sich bewusst, dass dieser Mord alles andere als alltäglich war.

Als sie sich aus dem Kühlschrank einen Joghurt nahm, fiel ihr Blick auf die Küchenuhr. Es war bereits nach sieben. Sie beschloss, das Aufräumen zu verschieben und sich lieber etwas zu gönnen. Der Joghurt wanderte zurück in den Kühlschrank, stattdessen zog sie aus dem Brotkasten die letzten beiden Franzbrötchen, beschmierte sie dick mit Butter und machte es sich dann auf der Couch im Wohnzimmer gemütlich. Sie zappte erst durchs Fernsehprogramm, verfolgte dann die Nachrichten und schaute anschließend beim Sonntagskrimi den Kommissaren bei der Arbeit zu. Teils amüsiert, teils verärgert über die klischeehafte Darstellung der Polizeiarbeit stellte sie den Fernseher vor Ende des Filmes ab.

Malin hatte ein schlechtes Gewissen wegen ihrer Freundin. Dass Suse die Tasche einfach so vor die Tür stellte, passte so gar nicht zu ihr.

Susanne Bremer, von allen stets Suse genannt, war Grundschullehrerin und Malins älteste Freundin. Sie waren gemeinsam in den Kindergarten gegangen, hatten die gleichen Schulen besucht und zusammen die schwierige Zeit der Pubertät durchlebt.

Malin fiel ein, dass sie Suses Nachricht auf dem Anrufbeantworter bisher nicht einmal komplett abgehört hatte. Sie griff nach dem Telefon, um das nachzuholen.

»Malin, ich bin es. Ich wollte dich nur erinnern, dass Tanja nächste Woche Geburtstag hat. Und du könntest bei Gelegenheit mal deine Sporttasche abholen, bevor die Sachen anfangen zu gammeln. Ach ja, ich habe die beiden Krimis, die du mir geliehen hast, mit reingepackt. Also, wenn du nicht willst, dass deine Bücher anfangen zu müffeln, hol die Tasche ab. Und ruf mich an wegen Tanjas Geschenk, ich will das morgen besorgen.«

Malin starrte auf das Telefon in ihrer Hand. Dann flog ihr Blick zur Sporttasche im Flur. In Sekundenschnelle kniete sie neben der Tasche und zerrte zwei Taschenbücher heraus. Auf beiden Buchumschlägen prangte der Name Charlotte Leonberger. Ihr Puls beschleunigte sich, als sie das erste Buch durchblätterte. Es war nicht das richtige. Ungeduldig las sie die Zusammenfassung auf der Rückseite des anderen Buches. Das Gefühl, auf der richtigen Spur zu sein, bescherte ihr einen Adrenalinstoß nach dem anderen.

Dann fand sie es. Sie atmete tief durch und begann hochkonzentriert die entsprechenden Seiten durchzulesen. Als sie fertig war, legte sie das Buch beiseite. Sie hatte es ja gewusst!

Die Krimis der Autorin spielten in einer anderen norddeutschen Stadt, doch die Details stimmten überein. Die männliche Leiche, an allen vier Gliedmaßen gespannt in einem Torbogen, nur bekleidet mit einem weißen Stück Stoff. Der Tatort im Buch war ein Gutsanwesen, gebaut Anfang des achtzehnten Jahrhunderts, und ebenfalls ein traditionsreiches Bauwerk.

Malin begann zu frösteln. Die Ungeheuerlichkeit ihrer Entdeckung wirbelte ihre Gedanken durcheinander. Sie griff nach dem Telefon und hinterließ ihrem Großvater eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter. Anschließend wählte sie die Privatnummer von Hauptkommissar Fricke. Nach dem ersten Freizeichen überlegte sie es sich jedoch wieder anders und legte auf.

Schnell schlüpfte sie in ihre Regenjacke, klemmte sich das Buch unter den Arm und verließ das Haus. Susanne Bremer war vergessen.

Zwanzig Minuten später parkte Malin ihren Mini vor einem Reihenhaus in Niendorf. Es war weiß verputzt und hatte einen kleinen Vorgarten mit frisch gestutzter Grünfläche. Das Haus lag im Dunkeln.

Sie klingelte und es dauerte einige Minuten, bis Fricke im Bademantel die Tür öffnete. Die Haare standen wild von seinem Kopf ab, seine Augen waren klein und verquollen. »Brodersen, was wollen Sie denn hier? Ist etwas passiert?«

»Entschuldigen Sie die späte Störung, aber ich habe da eine ungeheuerliche Entdeckung gemacht. Es geht um den Torhausmord. Hier, in diesem Buch wird der Mord beziehungsweise der Tatort exakt so beschrieben wie bei unserer Leiche.« Aufgeregt wedelte Malin mit dem Taschenbuch vor Frickes Gesicht herum.

»Und, steht auch drin, wer der Mörder ist? Dann können Sie ihn ja gleich verhaften.«

»Es geht da eher um die Zurschaustellung der Leiche. Die ist detailgetreu wie an unserem Tatort«, beteuerte Malin.

»Im Wellingsbüttler Torhaus?«

»Das nicht, aber …«

»Und deshalb wecken Sie mich mitten in der Nacht? Wegen eines Buches, in dem ein Mord geschieht, der gewisse Ähnlichkeiten mit unserem hat? Sie haben eindeutig zu viele Krimis gelesen.« Fricke hatte schon die Hand an der Tür.

»Aber vielleicht finden wir nach eingehender Analyse des Buches Hinweise auf den Täter«, beharrte Malin.

»Na, dann analysieren Sie mal und lassen mich schlafen.« Fricke schlug die Haustür zu.

6

Der Tag begann besser als erwartet.

Es war Viktoria gelungen, das Bett zu verlassen. Nach einem starken Kaffee kleidete sie sich langsam an. Dabei fiel ihr Blick auf den großen Spiegel. Sie wusste, dass sie allgemein als schön galt, schließlich hatte man es ihr schon oft gesagt. Doch sie selbst empfand anders. Kritisch betrachtete sie die Schatten, die sich unter den geschwollenen Augen auf der blassen Haut abzeichneten. Das dunkle Haar, einst ihr größter Stolz, fiel strähnig und glanzlos über ihren schmalen Rücken. Einen Moment lang spielte sie mit dem Gedanken, zurück ins Bett zu gehen und wieder Zuflucht im schützenden Schlaf zu finden.

»So kann es nicht weitergehen, Viktoria Steiner«, flüsterte sie ihrem Spiegelbild zu. Es wurde Zeit, ins Leben zurückzukehren. Und sie musste es alleine schaffen. Helfen würde ihr dabei sicherlich niemand. Sie hatte alle vor den Kopf gestoßen.

Viktoria ging in die Küche und stellte ihre Kaffeetasse in die Spülmaschine. Sie schaute aus dem Fenster. Es war noch früh am Morgen und das Viertel erwachte langsam zum Leben. Vor dem kleinen Obst- und Gemüsegeschäft auf der anderen Straßenseite lud der türkische Besitzer Holzkisten mit frischer Ware aus seinem Transporter. Das Gewitter der letzten Nacht war leichtem Nebel gewichen. Hier und da wurde schon ein Stückchen des strahlend blauen Himmels sichtbar. Es würde ein schöner Tag werden.

Viktoria öffnete die oberste Schublade in ihrer Küchenzeile. Die Briefe waren bereits vor einigen Tagen eingetroffen, doch erst jetzt war der richtige Zeitpunkt, sie zu öffnen. Der erste war von ihren Eltern. Eine bunte Karte fiel heraus. Sie las die Worte mit Tränen in den Augen. Der zweite Umschlag enthielt ebenfalls eine Karte. Mit zittrigen Händen betrachtete sie die Zeichnung von zwei Mädchen, die ein riesiges Geschenkpaket zwischen sich hielten und versuchten, gleichzeitig die überdimensionale Schleife zu öffnen.

Weinend und lachend zugleich las sie die aufmunternden Worte ihrer Freundin Elizabeth. Mit den Briefen in der Hand ging Viktoria ins angrenzende Wohnzimmer. Sie ließ sich auf einen Sessel fallen und ihr Blick glitt automatisch zu dem großen Zeichentisch in einer Ecke des Raumes.

Sie hatte in den vergangenen Monaten nur einige halbherzige Versuche unternommen, ihre Arbeit wieder aufzunehmen, und war jedes Mal gescheitert. Doch dieses Mal würde sie es anders angehen. Sie hatte vor einigen Tagen das Angebot erhalten, ein Kinderbuch zu illustrieren, und sich eine Woche Bedenkzeit erbeten. Sie würde annehmen. Nicht zuletzt wegen ihrer finanziellen Lage. Ihre Reserven waren weitestgehend verbraucht und andere Einnahmequellen in nächster Zukunft nicht in Sicht.

Sie griff nach dem Telefon und hinterließ eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter der Agentur, für die sie als freiberufliche Illustratorin arbeitete. Dann wählte sie die Nummer, die sie schon seit Jahren in- und auswendig kannte.

Trotz der frühen Morgenstunde wurde bereits nach dem zweiten Klingeln der Hörer abgenommen. Es schien, als hätte ihre Freundin Elizabeth in den letzten acht Monaten nichts anderes getan, als auf diesen Moment zu warten.

Malin saß an ihrem Schreibtisch im Großraumbüro der Mordkommission und gähnte. Nach ihrem desaströsen Besuch bei Fricke hatte sie fast die gesamte restliche Nacht damit zugebracht, Zeile um Zeile in dem Buch nach weiteren Hinweisen zu suchen. Sie hatte eine Liste mit Anhaltspunkten zusammengetragen, bei denen es sich lohnen könnte, sie mit der Ermittlungsakte abzugleichen. Eine weitere Übereinstimmung hatte sie bereits gefunden: Im Krimi wurde ebenfalls ein Wagen mit Kleidung und Brieftasche des Toten aufgefunden. Malin war überzeugt, auf der richtigen Spur zu sein. Im Buch hatte der Täter fingierte Indizien und Spuren hinterlassen, die letzten Endes zur Aufklärung des Mordes geführt hatten. Sie würde sich noch mal die Fundstücke vom Tatort anschauen müssen.

Kopfschmerzen bereitete Malin die Identität des Opfers. War Dr. Woy willkürlich ausgesucht worden? Oder zufällig zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen? Sie musste überprüfen, ob es eine Verbindung zu der Krimiautorin Charlotte Leonberger gab.

Hoffentlich würden die ehemaligen Patientenakten des Kinderarztes etwas hergeben. Sie war enttäuscht gewesen, als Fricke ihr diese Aufgabe am Morgen übertragen hatte. Lieber hätte sie an den Zeugenvernehmungen teilgenommen. Ihr nächtlicher Besuch war nicht zur Sprache gekommen, doch Malin vermutete, dass sie damit bei ihrem Vorgesetzten die letzten Sympathien verspielt hatte.

Das Durchsehen der Patientenakten war ein mühsames Unterfangen. Die in braune Pappdeckel gebundenen Blätter der unsortierten Aktenberge waren staubig und mit einer krakeligen Schrift bedeckt, die Malin nur schwer entziffern konnte. Stunde um Stunde notierte sie sich Namen von Patienten und Stichpunkte über die jeweiligen Krankheitsverläufe.

Es war bereits später Nachmittag, als sie die letzte Akte eines Stapels beiseitelegte. Die Hälfte war geschafft. Nachdenklich schaute sie zu dem Schreibtisch gegenüber. Frederick Bar­tels hatte sich den Telefonhörer zwischen Ohr und Schulter geklemmt und hackte wild auf seiner Computertastatur herum. Er wirkte missmutig, während er der Stimme am anderen Ende der Leitung lauschte. Jetzt nahm er den Hörer vom Ohr, warf ihn auf die Telefonanlage und starrte ihn an.

»Ärger?«, fragte Malin.

»So was Ähnliches«, murmelte er. Dann huschte ein Lächeln über sein Gesicht. »Und, was macht dein Krimi? Ich habe von deinem nächtlichen Besuch bei Fricke gehört.«

Malin spürte, wie sie errötete.

Bartels erhob sich von seinem Stuhl und zwinkerte ihr zu, bevor er das Büro verließ.

Resigniert betrachtete sie ihren Aktenberg. Kurzerhand beförderte sie die Stapel auf ihren Beistelltisch und griff nach der Ermittlungsakte des Torhausmordes. Dann ging sie zu dem Whiteboard und betrachtete die Tatortfotos. Irgend­etwas musste doch zu finden sein.

Ein Blick zum Fenster mit der Aussicht auf die Bürostadt City Nord zeigte ihr, dass es bereits dämmerte. Ich fahre noch mal zum Torhaus, dachte sie. Aber erst muss ich noch etwas anderes in Erfahrung bringen. Sie ging zurück zu ihrem Schreibtisch und blätterte in der Ermittlungsakte, bis sie gefunden hatte, was sie suchte. Dann griff sie nach dem Telefon. Sie wollte schon auflegen, als Henriette Woy sich endlich meldete.

Wenige Minuten später hatte Malin erfahren, was sie wissen wollte.

Lachend winkte Viktoria Steiner ihrer Freundin Elisabeth zum Abschied noch einmal zu.

Während ihres Telefonats am Morgen hatten sie beschlossen, sich in ihrem Lieblingslokal zu treffen und mit einem Glas Wein auf Viktorias Geburtstag anzustoßen. Die rustikale Kellerwirtschaft mit dem alten Gewölbe war an diesem Abend brechend voll gewesen. Viktoria fühlte sich so unbeschwert wie schon lange nicht mehr, und ging leichten Schrittes auf dem Weg zu ihrem Auto durch die Straßen am Großneumarkt. Je weiter sie sich von dem belebten Platz entfernte, desto stiller wurde es um sie herum.

Das Geräusch von eiligen Schritten hinter ihr machte sie ein wenig nervös. Sie drehte sich um, doch außer ihrem eigenen Schatten war nichts zu sehen. Viktoria war froh, als sie endlich das Ende der Peterstraße erreichte. Die historischen Bürgerhausfassaden mochten tagsüber durchaus reizvoll sein, abends war die Atmosphäre eher düster und bedrückend. Nieselregen setzte ein und sie erschauderte leicht. Laut klackerten ihre Absätze auf dem Kopfsteinpflaster. Endlich am Auto angekommen stieg sie ein und verriegelte die Türen.

Die Straße war menschenleer. Sie manövrierte ihren Wagen aus der Parklücke und fuhr über die Lombardsbrücke Richtung Barmbek-Süd. Für einen Moment schaute sie aus dem Seitenfenster und genoss den Ausblick auf die beleuchtete Binnenalster.

Zum ersten Mal an diesem Tag erlaubte sie sich den Gedanken an Hannes. Seit seinem Tod vor acht Monaten hatte sie sich aus dem gesellschaftlichen Leben völlig zurückgezogen und sich in ihrer Wohnung eingeigelt – bis heute.

Von plötzlicher Heiterkeit erfasst, drückte sie die Taste ihres Radios. »I will survive« drang es aus den Lautsprecherboxen. Wie passend, dachte sie, und summte fröhlich mit. Vielleicht gibt es doch noch ein Leben für mich.

Der Regen wurde stärker und der Verkehr an der Sechslingspforte staute sich. Schnell kramte sie in ihrer Handtasche nach einer Zigarette und verwarf die Idee gleich wieder. Ich höre auf, dachte sie, sofort – einen besseren Zeitpunkt gibt es nicht.

Die Ampel sprang endlich auf Grün um. Zügig fuhr sie weiter. Auf einmal konnte sie es gar nicht mehr abwarten, nach Hause zu kommen. Sie würde sich ein schönes Glas Rotwein genehmigen, einen Merlot, den sie für besondere Anlässe aufbewahrt hatte. Dann würde sie es sich mit ihrem neuen Buch auf dem Sofa gemütlich machen.

Sie bog in die Mozartstraße ein. Weit und breit war kein Parkplatz in Sicht. Vermutlich wäre es klüger gewesen, wenn sie den Bus genommen hätte.

Eine Querstraße weiter entdeckte sie endlich eine Lücke, parkte ein und stellte den Motor ab. Der Regen wurde stärker. Fröstelnd zog sie ihren Mantel ein wenig enger. Plötzlich schrillte hinter ihr die Alarmanlage eines Autos. Sie fuhr zusammen. Schritte kamen näher. Viktoria umklammerte mit einer Hand fester ihre Tasche und suchte mit der anderen in ihrem Mantel nach dem Haustürschlüssel.

Die Schritte kamen immer näher. Schließlich hatte sie den Schlüssel gefunden. Sie lief schneller, fing fast an zu rennen. Das Mietshaus, in dem sich ihre Wohnung befand, lag völlig im Dunkeln. Zitternd versuchte sie, den Schlüssel ins Schlüsselloch zu stecken, doch er fiel ihr aus der Hand. Rasch bückte sie sich und bemerkte beim zweiten Versuch, dass das Türschloss nicht richtig eingeschnappt war. Sie schlüpfte in den Hausflur und drückte hastig die Eingangstür zu. Viktoria lehnte sich mit dem Rücken dagegen und atmete tief durch. Ihr Herz raste.

Du bist in Sicherheit. Erleichtert tastete sie sich im Dunkeln zum Lichtschalter.

Ein Arm schlang sich von hinten um ihren Brustkorb und eine Hand presste etwas auf ihren Mund. Es roch schneidend. Ihr wurde übel, als sie gegen das aufkommende Schwindelgefühl ankämpfte.

Dann verlor sie das Bewusstsein.

956,89 ₽
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Возрастное ограничение:
18+
Дата выхода на Литрес:
26 мая 2021
Объем:
392 стр. 5 иллюстраций
ISBN:
9783839264140
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