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Es gibt tatsächlich – und das ist die eigentlich unbedeutende Widerlegung Riepls auf Faktenebene – eben doch Medientechniken, die ausgestorben sind. Man kann in den USA zum Beispiel keine Telegramme mehr verschicken oder empfangen, weil der entsprechende Dienst 2006 aus Mangel an Nachfrage eingestellt worden ist. In Deutschland gibt es zurzeit noch einen Inlandsdienst, der wohl aber kaum Zukunft haben dürfte. Auch Rauchzeichen, Herolde und reitende Boten sind heute Medien von doch nur mehr äußerst marginaler Bedeutung.

Über Gültigkeit und Ungültigkeit des Rieplschen Gesetzes zu spekulieren, ist einigermaßen sinnlos. Seine Bedeutung hängt nämlich gar nicht von seiner Richtigkeit ab. Vielmehr hat es sich als nützliche, pragmatische Warnung erwiesen, beim Auftreten neuer technischer Unterhaltungsmedien nicht immer gleich routinemäßig den Tod ihrer Vorgänger auszurufen. Als das Fernsehen aufkam, wurde das unmittelbar bevorstehende Verschwinden des Kinos vorhergesagt. Dies wiederholte sich mit der Verbreitung des Videorekorders. Nichts davon wurde jedoch wahr: Kino, Fernsehen, Video koexistieren heute friedlich nebeneinander, sind längst ihrerseits ins neuere Verbundmedium Computer/Internet einbezogen worden, haben aber dennoch ihre Überlebensnischen gefunden und behaupten sich dort gut. In diesem Lichte sollte wohl auch das oft schon ausgerufene Ende der Literatur10 oder der Schrift11 gesehen werden.

Die empirische Beobachtung, dass ältere Medien von neueren, leistungsfähigeren in Nischen abgedrängt werden (der Kupferstich ist heute sicherlich nicht mehr das Leitmedium, das er vor der Erfindung der Lithografie war), ist wohl das, was uns vom etwas großspurig so genannten Rieplschen Gesetz bleiben sollte. Dies, und die sich darin ausdrückende Vorahnung der dann von Marshall McLuhan (→ S. 96) formulierten Einsicht, dass der Inhalt eines Mediums immer ein anderes, älteres Medium ist: Die Lithografie hat eben den Kupferstich zum Inhalt; der Inhalt des Verbundmediums Internet sind alle elektrischen Medien, die es zuvor gab. Und im technischen Bild sind laut Vilém Flusser sowohl die Schrift als auch die älteren, vorgeschichtlichen Bilder aufgehoben. Hier begegnen wir schon wieder der dialektischen Denkformel der Aufhebung von Gegensätzen auf [54] höherer, synthetischer Ebene: Aufhebung im Sinne von Neutralisierung, Konservierung und Elevation zugleich. Hegel grüßt uns durch den heilsgeschichtlich-katholischen Kanadier McLuhan ebenso wie vermittelst des jüdisch-phänomenologischen Tschechobrasilianers Vilém Flusser.

Der gängigen Interpretation des Rieplschen Gesetzes zufolge sucht sich jedes Medium, wenn es durch das Aufkommen eines neuen bedrängt wird, eine Nische, in der es überleben kann. Doch was geschieht umgekehrt mit einem neuen Medium, das plötzlich da ist, obwohl es dafür allem Anschein nach gar keinen Bedarf gab? Dieser Frage ging Bertolt Brecht im Hinblick auf das Radio nach.

[55] Medientheorien im 20. Jahrhundert

Kommunikation statt Distribution: Bertolt Brechts Radiotheorie und die Folgen

Vorschau:

 Bertolt Brechts Verständnis von der Funktion von Kunst

 Brechts Radiopraxis und -theorie

 Technische Potenziale, gesellschaftliche Hemmnisse

 Medieninhalte und Strukturen von Kommunikationskanälen, Interaktivität

 CB-Funk und Offene Kanäle

 Aktive Mediennutzung und passiver Medienkonsum

Ich erinnere mich daran, wie ich zum ersten Mal vom Radio hörte. Es waren ironische Zeitungsnotizen über einen förmlichen Radio-Hurrikan, der an der Arbeit war, Amerika zu verwüsten. Man hatte aber trotzdem den Eindruck einer nicht nur modischen, sondern wirklich modernen Angelegenheit.

Dieser Eindruck verflüchtigte sich sehr rasch, als man dann auch bei uns Radio zu hören bekam. Man wunderte sich natürlich zuerst, woher diese tonalen Darbietungen kamen, aber dann wurde diese Verwunderung durch eine andere Verwunderung abgelöst: Man wunderte sich, was für Darbietungen da aus den Sphären kamen. Es war ein kolossaler Triumph der Technik, nunmehr einen Wiener Walzer und ein Küchenrezept endlich der ganzen Welt zugänglich machen zu können. Sozusagen aus dem Hinterhalt.

(Brecht 1967c, 121)

Bertolt Eugen Brecht wurde 1898 als Sohn eines Fabrikmanagers in Augsburg geboren. Als bekennender Kommunist floh er vor den Nationalsozialisten ins Exil, zuerst nach Prag, dann über Wien, die Schweiz, Dänemark, Schweden, Finnland in die USA. Schon vor seiner Flucht aus Deutschland hatte er sich als Lyriker, besonders aber als Dramatiker, Theatertheoretiker und Regisseur einen Namen gemacht. 1949 kehrte er nach Deutschland, nun in die DDR, zurück und setzte mit einem eigenen Ensemble und Theater (am Schiffbauerdamm in Ostberlin) konsequent seine Vorstellungen vom epischen Theater um. Er starb 1956 in Ostberlin. Brecht gilt als einer der bedeutendsten Schriftsteller, Theatermacher und -theoretiker der deutschen Sprache und ist bis heute einer der weltweit meistgespielten Bühnenautoren.

[56]Das Beeindruckendste an der überragenden künstlerischen und theatertheoretischen Leistung Brechts liegt womöglich darin, dass sein künstlerisches Schaffen zwar im Dienste seiner politischen Überzeugung stand, dass es jedoch über diesen Anlass hinaus bis heute als eigenständiges Werk Bestand hat. Brechts Leistungen in Lyrik, Dramatik, Prosa, seine Arbeit als Essayist, Kommentator, kritischer Intellektueller, Dramaturg, Regisseur, Theaterleiter, Theoretiker und Meinungsmacher werden ebenso wenig durch die politische Ausrichtung all dieser Aktivitäten geschmälert, als sie davon zu trennen wären. Und dennoch sind sie alle dem großen Projekt untergeordnet: die Welt lebbarer und die Gesellschaft menschlicher und gerechter zu machen. Walter Benjamin (→ S. 67), der Brecht stets bewunderte, bemerkte deshalb treffend über den Künstler Brecht, dass die Dichtung bei ihm wisse, was ihre einzige Chance sei: »Nebenprodukt in einem sehr verzweigten Prozeß zur Änderung der Welt zu werden. Das ist sie hier. Und dazu ein unschätzbares. Hauptprodukt aber ist: eine neue Haltung.« (Benjamin 1991a, 662). In der Tat: Brecht sah in Literatur, Theater, Film und Radio – in der Kunst insgesamt – vor allem Mittel zu einem übergeordneten Zweck, zu einem volkspädagogisch-politischen Ziel: »Kunst und Radio sind pädagogischen Absichten zur Verfügung zu stellen« (Brecht 1967e, 127). Und dem »Bestreben des Rundfunks, Belehrendes künstlerisch zu gestalten, kämen Bestrebungen der modernen Kunst entgegen, welche der Kunst einen belehrenden Charakter verleihen wollen« (Brecht 1967d, 137).

Nachhaltige Bedeutung wird Brecht wohl vor allem als Theaterreformer behalten. Möglicherweise ist sein episches Theater als der einzige erfolgreiche und wirkungsvolle Versuch zu werten, mit Mitteln der Kunst revolutionäre politische Wirkung zu erzielen: Durch Verfremdung von Alltagserfahrungen werden diese Erfahrungen dem Zuschauer schlagartig bewusst gemacht. Seine Rolle ist nun nicht mehr die des emotional Mitfiebernden, sondern die eines entspannten, »rauchenden Beobachters«, der das Geschehen auf der Bühne durch seine eigene geistige Mitarbeit daran kritisch reflektiert und so den Verhältnissen unter den Menschen neue Einsichten abgewinnt. Es erstaunt nicht, dass Brecht sich auch dem Film zuwandte, im Gegensatz zu Benjamin allerdings nicht theoretisch, sondern als Praktiker. Die bleibende Leistung Brechts mag in der Entwicklung des epischen Theaters liegen. Noch wichtiger für unseren Zusammenhang ist jedoch, dass Brecht dem Radio als einer der Ersten künstlerisches Potenzial zutraute – ganz ähnlich, wie Benjamin dem neuen Medium Film – und auf einer andersgearteten, anspruchsvolleren Nutzung des noch ganz neuen Mediums beharrte. In seiner Rede über »die Funktion des Rundfunks« 1932 beispielsweise stellte Brecht die Behauptung auf,

[57] daß etwa eine Anwendung der theoretischen Erkenntnisse der modernen Dramatik, nämlich der epischen Dramatik, auf das Gebiet des Rundfunks außerordentlich fruchtbare Ergebnisse zeitigen könnte. […] Auch eine direkte Zusammenarbeit zwischen theatralischen und funkischen Veranstaltungen wäre organisierbar. (Brecht 1967d, 138 f.)

So gerechtfertigt es auch zweifellos ist, in Brecht einen Intellektuellen unter den Regisseuren und einen Theoretiker des dialektischen Materialismus zu sehen, so war ihm doch das Handfeste, die Wertschätzung des Materiellen, nicht abzusprechen. Brecht war mindestens ebenso sehr ein Mann der Medienpraxis wie der Theorie. Als bekanntes Beispiel für seine geradezu unverfroren souverän coole Haltung im Umgang mit den Medien soll hier sein Ausflug in die Werbewirtschaft angeführt werden. 1928 schrieb Brecht das Gedicht Singende Steyrwägen:

Wir stammen

Aus einer Waffenfabrik

Unser kleiner Bruder ist

Der Manlicherstutzen.12

Unsere Mutter aber

Eine steyrische Erzgrube.

Wir haben:

Sechs Zylinder und dreißig Pferdekräfte.

[…]

Wir liegen in der Kurve wie Klebestreifen.

Unser Motor ist:

Ein denkendes Erz.

[…]

Wir fahren dich so ohne Erschütterung

Daß du glaubst, du liegst (Brecht 1981b, 318)

Dazu berichtet Brecht-Biograf Werner Hecht folgende Anekdote:

Die Autofirma hatte Brecht für sein Gedicht das Auto zum Geschenk gemacht. Im Mai 1929 verunglückte er mit dem Auto und ließ sich mit dem demolierten Fahrzeug fotografieren. Auf Brechts veröffentlichte Erklärung, daß man in diesen Autos einen Unfall ohne Schaden überstehen kann, bekam er einen neuen Steyr. (Hecht 1988, 73)

[58]Brechts kaltschnäuzige Dreistigkeit, wenn es um materielle Interessen und Genüsse ging, hatte immer auch etwas Demonstratives: »In mir habt ihr einen, auf den könnt ihr nicht bauen« (Brecht 1981c, 261), schien er zu sagen. Auf Brechts Bedeutung als Medientheoretiker aber wirft die kleine Steyr-Episode ein interessantes Licht. Im Umgang mit den Medien, auch im Vorgriff auf deren erst beginnende Kommerzialisierung, war Brecht ein souveräner Meister und Manipulator mit viel Instinkt, aber auch mit dem Willen zur radikalen Brüskierung von Erwartungshaltungen.

Die Aufführung seines Radiolehrstücks Der Ozeanflug 1929 ist für die Geschichte des Mediums Radio ebenso bedeutend wie Brechts sogenannte »Radiotheorie«, welche tatsächlich weder eine explizite noch eine zusammenhängende Theorie darstellt noch mit komplexeren Theoriegebäuden verglichen werden kann. Vielmehr handelt es sich lediglich um ein paar zwischen 1927 und 1932 entstandene Notizen, Zeitungsartikel und Reden,13 in denen Brecht seine Kritik am gegenwärtigen Radio und seine Hoffnungen auf und Forderungen für ein künftiges Radio skizziert. Erst durch ihre Zusammenstellung für Brechts Schriften zur Literatur und Kunst im Suhrkamp-Verlag erscheinen sie als aufeinander bezogene, zusammenhängende Theorie. Und doch sind diese wenigen Seiten für die Mediengeschichte höchst relevant: Erstmals stellt hier jemand politische Forderungen, die sich viel weniger auf die Medieninhalte beziehen als auf die Schaltungsweise der Kommunikationskanäle. Hier fordert jemand Reversibilität ein und erhofft sich davon unmittelbar politische, partizipatorische Wirkung. Damit nimmt Brecht nicht nur ein wesentliches Thema Vilém Flussers (→ S. 167) vorweg, er führt damit in den medientheoretischen Diskurs auch eine andere, eine strukturelle Sichtweise ein. Von nun an werden die Debatten um Medien weniger von der Frage nach deren politisch korrekten Inhalten als von der Frage nach ihrer Dialogfähigkeit geprägt sein, also von der Frage nach ihrer Eignung für ein demokratisches Verhalten.

Brechts These: Das Radio wäre technisch in der Lage, eine Gegensprechanlage zu sein. Stattdessen ist es aus politischen Gründen eine Einbahnstraße, die nur die passive Rezeption des Broadcasting zulässt, Distribution also statt Kommunikation. Und eben dies, fordert Brecht, muss geändert werden, um den Rundfunk in den Dienst einer vernünftigen [59] gesellschaftlichen Entwicklung zu stellen. Noch vor der Aufführung und Sendung seines Radiolehrstücks Der Ozeanflug14 1929 schreibt der Radiopraktiker Brecht:

Ich habe über die Radiosendung des »Lindberghfluges« etwas nachgedacht, und zwar besonders über die geplante öffentliche Generalprobe. Diese könnte man zu einem Experiment verwenden. Es könnte wenigstens optisch gezeigt werden, wie eine Beteiligung des Hörers an der Radiokunst möglich wäre. (Diese Beteiligung halte ich für notwendig zum Zustandekommen des »Kunstaktes«.) (Hecht 1988, 94)

Der Rezipient, also Leser, Zuschauer oder Hörer, sollte sich nun Brecht zufolge nicht mehr mit der bloßen Rolle des Rezipienten (wörtlich: des »Entgegennehmenden«) zufriedengeben. Er sollte Mitwirkender werden. In Brechts Verständnis wird Kunst erst durch die aktive Beteiligung des betrachtenden Mitschöpfers zur Kunst. Und die am »Kunstakt« Beteiligten tragen nicht weniger als der professionelle Künstler Verantwortung, die Kunst gesellschaftlichen Zwecken nutzbar machen. Der Kunstkonsument soll dazu gebracht werden, die Kunst nicht nur zu genießen, sondern sich von ihr anleiten zu lassen, in die Wirklichkeit verändernd einzugreifen. Nur so nützt die Kunst allen Beteiligten und auch der Gesellschaft, und so ist auch der Wunsch des Künstlers Brecht nach einer Inschrift auf seinem Grabstein zu verstehen:

Ich benötige keinen Grabstein, aber

Wenn ihr einen für mich benötigt

Wünschte ich, es stünde darauf:

Er hat Vorschläge gemacht. Wir

Haben sie angenommen.

Durch eine solche Inschrift wären

Wir alle geehrt. (Brecht 1981a, 1029)

Den Kern von Bertolt Brechts Radiotheorie bildet sein Vorschlag »für den Intendanten des Rundfunks«: »Meiner Ansicht nach sollten Sie aus dem Radio eine wirklich demokratische Sache zu machen versuchen.« (Brecht 1967f, 124)

Der Rundfunk ist aus einem Distributionsapparat in einen Kommunikationsapparat zu verwandeln. Der Rundfunk wäre der großartigste Kommunikationsapparat des öffentlichen Lebens, ein ungeheures Kanalsystem, das heißt, er wäre es, wenn er es verstünde, nicht nur auszusenden, sondern auch zu empfangen[60], also den Zuhörer nicht nur hören, sondern auch sprechen zu machen und ihn nicht zu isolieren, sondern ihn in Beziehung zu setzen. […] Der Rundfunk muß den Austausch ermöglichen. (Brecht 1967d, 134 f.)

Brecht war sich selbstverständlich völlig darüber im Klaren, wie unrealistisch und utopisch diese Forderung unter den gegebenen Bedingungen und herrschenden Verhältnissen Anfang der dreißiger Jahre in Deutschland war. Niemand außer den bislang vom öffentlichen Leben, von politischen Entscheidungen und wirtschaftlicher Teilhabe ausgegrenzten Bevölkerungsteilen konnte ja daran Interesse haben, dass der Rundfunk half, das herrschende System infrage zu stellen.

Die Resultate des Radios sind beschämend, seine Möglichkeiten sind »unbegrenzt«. […] Würde ich glauben, daß diese Bourgeoisie noch hundert Jahre lebte, so wäre ich überzeugt, daß sie noch Hunderte Jahre von den ungeheuren »Möglichkeiten« faselte, die zum Beispiel im Radio stecken. (Brecht 1967c, 122)

Die technischen Möglichkeiten des neuen Mediums Rundfunk jedoch tragen dazu bei, die Machtverhältnisse in der Gesellschaft offenzulegen. Und

wenn eine technische Erfindung von so natürlicher Eignung zu entscheidenden gesellschaftlichen Funktionen bei so ängstlicher Bemühung angetroffen wird, in möglichst harmlosen Unterhaltungen folgenlos zu bleiben, dann erhebt sich doch ununterdrückbar die Frage, ob es denn gar keine Möglichkeit gibt, den Mächten der Ausschaltung durch eine Organisation der Ausgeschalteten zu begegnen. (Brecht 1967d, 136)

Provokativ fragt Brecht, weshalb seine Forderungen an den Rundfunk eigentlich als so utopisch belächelt werden: »Sollten Sie dies für utopisch halten, so bitte ich Sie, darüber nachzudenken, warum es utopisch ist.« (Brecht 1967d, 135)

Allerdings gibt Brecht keinerlei Hinweise darauf, wie sich dieses bessere, dialogische Radio gesellschaftlich verwirklichen lassen könnte. Die Katze beißt sich in den Schwanz, denn ein besserer Rundfunk könnte zwar zu einer besseren Gesellschaft führen. »Undurchführbar in dieser Gesellschaftsordnung, durchführbar in einer anderen, dienen die Vorschläge, welche doch nur eine natürliche Konsequenz der technischen Entwicklung bilden, der Propagierung und Formung dieser anderen Ordnung.« (Brecht 1967d, 140) Aber nur andere gesellschaftliche Voraussetzungen könnten wohl einen solchen verbesserten Rundfunk ermöglichen. Denn dieser wäre »so weit ›revolutionär‹, daß der gegenwärtige Staat kein Interesse hat, diese Übungen zu veranstalten« (Brecht 1967b, 131). Es wird klar: Brecht spricht von einer Utopie, deren Verwirklichung ihm selbst nicht realistisch scheint. »Dies ist eine Neuerung, ein Vorschlag, der utopisch erscheint und den ich selber als utopisch bezeichne«. (Brecht 1967d, [61]139) Auch deshalb ist Brechts »Radiotheorie« nicht wirklich eine Theorie. Und dennoch: Sie hat ungeheure und außerordentlich anregende Wirkung hinterlassen.

Der Grund, weshalb das Radio nur als Distributionsapparat und gerade nicht, wie eigentlich wünschenswert, als Zweibahnstraße, als Kommunikationsapparat, eingesetzt wird, ist keineswegs technischer Natur. Im Gegenteil ist das Radio eine Erfindung, » die nicht bestellt« war, »die sich ihren Markt erst erobern« (Brecht 1967d, 132) musste. Ihre Technik war da, bevor die Gesellschaft wusste, was sie mit ihr anfangen solle. »Man hatte plötzlich die Möglichkeit, allen alles zu sagen, aber man hatte, wenn man es sich überlegte, nichts zu sagen.« (Brecht 1967d, 132) Der Bedarf für die neue Technologie musste erst künstlich geschaffen werden, und die »technische Entwicklung« trieb die gesellschaftliche vor sich her. »Nicht die Öffentlichkeit hatte auf den Rundfunk gewartet, sondern der Rundfunk wartete auf die Öffentlichkeit«. (Brecht 1967d, 132)

Deshalb steht Radio bei Brecht nicht nur für die neu entwickelte Funktechnik, sondern auch für die Institution Rundfunkanstalt mit all ihren gesellschaftlichen Funktionen und Kommunikationsmöglichkeiten. Brecht formuliert das seither gültige Programm der marxistischen Medientheorie: »Durch immer fortgesetzte, nie aufhörende Vorschläge zur besseren Verwendung der Apparate im Interesse der Allgemeinheit haben wir die gesellschaftliche Basis dieser Apparate zu erschüttern, ihre Verwendung im Interesse der wenigen zu diskutieren.« (Brecht 1967d, 140)

Doch der Rundfunk »als Stellvertreter […] des Theaters, der Oper, des Konzerts, der Vorträge, der Kaffeemusik, des lokalen Teils der Presse und so weiter […] hat […] nahezu alle bestehenden Institutionen, die irgend etwas mit der Verbreitung von Sprech- und Singbarem zu tun hatten, imitiert«. (Brecht 1967d, 133) Das Medium verbreitete nur Unterhaltung, nur von früheren Medien kopierte Banalitäten mit narkotisierender – wie Brecht sagte, kulinarischer – Wirkung, ohne eigentlich zu sich und seinen Möglichkeiten zu kommen. Es verfehlte sowohl seine emanzipatorischen wie auch seine technischen Potenziale. Und dies konnte gar nicht anders sein, denn schließlich sind es die Besitzverhältnisse, die über die gesellschaftliche Verwendung von Medien entscheiden, und nicht die in ihrer Technik angelegten Möglichkeiten. Über die folgenden Jahrzehnte wird diese Einsicht vor allem linke Medientheoretiker prägen; »Massenmedien« mit Einbahnstraßenmedien gleichzusetzen, ist ein aus damaliger Sicht verständlicher Fehler, der aber groteske Züge annimmt, wenn er sich über die Rezeption Theodor W. Adornos und Max Horkheimers (→ S. 105) in den 1970er-Jahren durch Hans Magnus Enzensberger, aber auch über die vielen Epigonen der Frankfurter Schule weiter[62] fortpflanzt und sich auch bis heute bei Jürgen Habermas (→ S. 108) wiederfindet.

Andererseits wird hier wohl erstmals ausgesprochen, was später in anspruchsvollerer Medien theorie, etwa bei Friedrich Kittler (→ S. 216) oder Paul Virilio (→ S. 205), als gesicherte Überzeugung gelten darf. Es ist die Einsicht, dass jedes Medium potenziell einer dialogischen Anwendung geöffnet werden könnte. Eben diese beiden Medienhistoriker stellten auch die These auf, dass jede medientechnische Entwicklung zunächst einmal eine kriegstechnische Erfindung gewesen sei. Gerade beim Rundfunkgerät, bei der 16mm-Filmkamera sowie beim Internet ist dies in der Tat offenkundig. Aus der Nachrichtentechnik Funk des Ersten Weltkriegs war zu Brechts Zeiten ein Massenmedium geworden.

Es dauerte nur zehn Jahre, da war aus der drahtlosen Telegraphie, deren einzige Anwendung in der Fernverbindung zweier Gesprächspartner bestand, das broadcasting-System, einer der Hauptträger der Massenkultur, geworden. Dieser Übergang von einer technisch-gesellschaftlichen Anwendung zu einer anderen wurde durch zwei Entwicklungen begünstigt […]. Zum einen wurde die Gerätefertigung im Laufe des I. Weltkriegs auf eine industrielle Grundlage gestellt, und zum anderen bildete der Sprechfunk in den USA einen kommunikativen Raum, in dem sich Funkamateure frei bewegen konnten. (Flichy 1994, 180)

Und Funkamateure auf der ganzen Welt bewiesen zweierlei: Erstens war es tatsächlich möglich, das militärische, ursprünglich dialogische Gerät zu einem ebenfalls dialogfördernden Bürgerfunk (Citizen Band Radio) umzufunktionieren. Zweitens nahm der mediengeschichtlich gesehen dann doch eher magere quantitative Erfolg der CB-Funkbewegung die Gelegenheit zu einer schmerzlichen Einsicht vorweg, die sich heute, nach vergleichbaren Erfahrungen mit der Bürgerbeteiligung an offenen Fernsehkanälen und mit Entwicklungen der Internetnutzung, aufdrängt: Möglicherweise bleiben die dialogischen Möglichkeiten von Medien nicht nur aufgrund wirtschaftlicher und politischer Interessen häufig ungenutzt. Die harte Erkenntnis ist nicht von der Hand zu weisen, dass die weitaus am stärksten nachgefragte Mediennutzung eine rezeptive ist, dass also die Rezipienten von Medieninhalten häufig gar kein ausgeprägtes Interesse haben, sich selbst mitzuteilen und aktiv einen Dialog zu führen.

Interaktivität, die Wechselbeziehung zwischen zwei Menschen oder einem Menschen und einem Computer, die Informationen austauschen, war seit den siebziger Jahren ein häufig idealisiertes Konzept in Sozialwissenschaften, Informationstechnik, Medienkunst, Kommunikationswissenschaft und Informatik. Jedoch lässt sich nur wirklich von »Interaktivität« sprechen, wenn der stattfindende Austausch auch Einfluss auf das Handeln der Akteure hat. Selbstverständlich spielen Medien hierbei eine[63] gewichtige Rolle, allerdings nur die dialogischen, die eine unmittelbare Antwort über denselben Kanal zulassen, also etwa der Brief, das Telefon, die E-Mail. Im Gegensatz etwa zu den einkanaligen Medien Zeitung, konventionelles Radio und Fernsehen sind sie rückkanalfähig. Sender und Empfänger tauschen hier ständig die Rollen, steuern den Fortgang der Kommunikation gemeinsam und tragen auch gemeinsam Verantwortung für ihre Beziehung zueinander. Genau dies ist es, was Bertolt Brecht mit seiner Radiotheorie einforderte. Und genau dies war das Ziel von Bestrebungen, sogenannte »Offene Kanäle« einzurichten, Fernsehsender also, deren Empfänger zugleich ihre Macher sein sollten. Genau wie es Brecht für das Radio vorschwebte, ist ein offener Fernsehkanal ein Bürgermedium, dessen Programm von Bürgern für Bürger gestaltet und verantwortet wird.

Seit Ende der siebziger Jahre war in Deutschland heftig über Offene Kanäle diskutiert worden. Mit der Einführung des Privatfernsehens ab 1984 wurden sie schließlich zügig in einigen Bundesländern verwirklicht. Der erste Offene Kanal Deutschlands ging 1984 in Ludwigshafen auf Sendung. Nicht nur die Idee intensiverer politischer Teilhabe stand dabei Pate, sondern auch eine medienpädagogische Überlegung: Die Bürger sollten nicht nur zur medialen Vielfalt beitragen, sondern auch ihre Medienkompetenz verbessern. Dieser Teilaspekt gewann im Lauf der Zeit immer mehr die Oberhand, sodass die meisten ehemals Offenen Kanäle heute ganz einfach Ausbildungssender für junge Fernsehtechniker und -journalisten geworden sind. Dies ist weniger auf einen vermeintlichen Siegeszug der Medienpädagogik zurückzuführen als auf das schnell erlahmende Interesse an einem Graswurzelfernsehen, und zwar nicht nur seitens der Zuschauer, sondern auch bei seinen Machern. Grob gesagt war die Qualität dürftig, und man fand heraus, dass gute Berichterstattung viel Arbeit macht, dass man sich gar nicht so viel zu sagen hatte und sich außerdem doch lieber wahlweise vom öffentlich-rechtlichen oder kommerziellen Fernsehen berieseln ließ. Paradoxerweise bewahrheitete sich nun auf ganz andere Weise Brechts böses Bonmot, man »hatte plötzlich die Möglichkeit, allen alles zu sagen, aber man hatte, wenn man es sich überlegte, nichts zu sagen« (Brecht 1967d, 132). Schon Jahre bevor das Internet dem chronisch kränkelnden Patienten Offener Kanal den Todesstoß versetzte, hatte dieser nur noch im Koma dahinvegetiert. Auf Brechts Radiotheorie bezogen, bedeutet diese Erfahrung aber einen Einwand, der schwerer wiegt als jedes theoretische Argument.

Natürlich darf man nicht unterschätzen, wie wirtschaftliche Interessen, massive Werbeanstrengungen und der politische Druck möglicherweise zu dieser seltsam erscheinenden Lethargie beitragen. Es ist eine Frage der Weltanschauung, weshalb sich potenzielle Gesprächspartner freiwillig in[64] die Rolle von Medienkonsumenten begeben, und ob es vielleicht sogar in der Natur der Menschen liegt, sich lieber berieseln zu lassen als selbst tätig zu werden.

In der politischen Situation allerdings, in der Brecht sich befand, stellte sich diese Frage nicht. Das Radio, eine militärische Entwicklung des Ersten Weltkriegs zur Koordination von Panzern, Flugzeugen und U-Booten, wurde gegen zähe Widerstände der Wehrmacht erst 1923 für zivile Nutzung freigegeben. Bereits im Jahr 1929, als er noch Gouverneur von New York war, entdeckte Franklin D. Roosevelt das Radio als Möglichkeit, seinen Bürgern auf gleichermaßen eindringliche wie intime Weise zuzureden. Zwischen 1933 und 1944, dann als Präsident der Vereinigten Staaten, systematisierte und perfektionierte er dieses Format in 30 so genannten Fireside Chats, die seine sympathische Stimme zur Geltung brachten, aber die Symptome seiner Kinderlähmung verbergen halfen. Die Politik hatte die Trennung von öffentlichem und privatem Raum aufgehoben. Die Stimme des Präsidenten war nun in den Wohnzimmern seines Wahlvolks zu Hause.

Die Nationalsozialisten in Deutschland hatten zur selben Zeit andere, aber mindestens ebenso effektive Ideen zum Radio. Im August 1933, nur ein Jahr nachdem Bertolt Brecht im Juli 1932 seine Rede über die Funktion des Rundfunks veröffentlicht hatte, wurde der im Auftrag des Reichsministers für Volksaufklärung und Propaganda Joseph Goebbels entwickelte »Volksempfänger« vorgestellt. Die Message war klar: Von nun an sollte das Volk empfangen, weiter nichts. Wer Radio empfängt, und zwar am besten nur einen einzigen Sender, der ist empfänglich für Befehle von oben – so das Kalkül der Nationalsozialisten. »Die Nationalsozialisten […] wussten, dass der Rundfunk ihrer Sache Gestalt verlieh wie die Druckerpresse der Reformation.« (Horkheimer/Adorno 2008, 168) Aus dem Volksempfänger wurde unter den Bedingungen eines manipulativen, diktatorischen Systems eine der ersten Erfolgsgeschichten medialen Massenkonsums. Jede Familie konnte sich nun zu sehr erschwinglichen Kosten der nationalsozialistischen Propaganda zuschalten, die Stimme der Herrschenden in ihre Privaträume holen und sich dabei fortschrittlich fühlen. Dies war Gleichschaltung auch im medienpraktischen Sinn. Die Anzahl der Rundfunkempfänger im »Dritten Reich« stieg von Jahr zu Jahr.

Bertolt Brechts Stimme und die Stimmen seiner zahlreichen politischen Mitstreiter waren dagegen nun nicht mehr zu hören. Brecht konnte sich mit seinen Vorstellungen von der partizipativen Nutzung der Radiotechnik nicht durchsetzen. Im Jahr der Einführung des Volksempfängers musste er sein nacktes Leben aus Deutschland retten.

[65] Zusammenfassung:

Die Kunst soll laut Brecht nicht auf Zerstreuung zielen, sondern allen an ihr Beteiligten und der ganzen Gesellschaft dienen. Auch den Rezipienten kommt dabei eine aktive Rolle zu. Das Radio ist von der distributiven Einbahnstraße in einen Kommunikationsapparat zu verwandeln, der Dialoge unter den Beteiligten zulässt. Die technischen Möglichkeiten dafür sind gegeben, aber politische und wirtschaftliche Hemmnisse stehen einer Nutzung des Radios als Kommunikationsapparat entgegen. Brecht richtet seine Aufmerksamkeit weniger auf die Inhalte der Medien als auf ihre Befähigung, Antworten zu ermöglichen. Die Geschichte des CB-Funks und der Offenen Kanäle zeigt, dass die Theorie der Bürgerbeteiligung an Massenmedien und der tatsächliche Bedarf daran auseinanderklaffen: Auch dort, wo Interaktivität technisch und gesellschaftlich möglich ist, lässt das Interesse an ihr meist schnell nach.

Verständnisfragen zur Vertiefung:

 Weshalb gab »Reichspropagandaminister« Joseph Goebbels den Auftrag, ein billiges Radiogerät massenhaft herstellen zu lassen? (leicht)

 Was genau meint Brecht, wenn er fordert, das Radio von einem Distributionsapparat in einen Kommunikationsapparat zu verwandeln? (leicht)

 Welche Rolle kommt Brecht zufolge der Kunst zu? Was hat das Radio damit zu tun? (leicht)

 Welche Gründe vermuten Sie hinter dem Umstand, dass quantitativ weitaus mehr passiver Medienkonsum als aktive Mediengestaltung stattfindet? (mittel)

 Auf welche Weise und in welcher Form hat Brechts Radiotheorie weitergewirkt? (mittel)

 Angenommen, Brechts Forderungen wären umgesetzt worden: Wie stellen Sie sich die Kommunikation aller mit allen per dialogischem Radio konkret vor? (schwer)

 Wenn Brecht die Rückkanalfähigkeit von Medien so sehr am Herzen lag – weshalb schrieb er dann auch Drehbücher für Kinofilme? Lässt der Kinofilm Dialogizität zu? (schwer)

[66] Von der Aura zum Chock: Walter Benjamin – die Kunst, ihre Reproduzierbarkeit und die Technik

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