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Die Dinge existieren also an sich (denn sie lösen unsere Empfindungen aus), aber wir kennen ihre Eigenschaften nicht. Die Wirklichkeit erscheint uns nicht so, wie sie an und für sich sein mag, sondern so, wie wir sie uns aufgrund unseres ganz spezifischen, subjektiven Erkenntnisvermögens vorstellen. Wir können also nie wissen, welche Eigenschaften eines Dinges diesem Ding an sich zukommen und welche auf die jeweilige Wirkungsweise unseres Wahrnehmungsapparats und Denkvermögens zurückzuführen sind. Wir wissen nicht, ob unsere Erkenntnis der erkannten Sache entspricht; wir können nicht einmal sagen, ob den Dingen selbst Raum und Zeit zukommen. Schließlich sind auch Raum und Zeit Zutaten, die zwangsläufig vom denkenden Subjekt beigebracht werden.

[42]Wir haben also sagen wollen: daß alle unsere Anschauung nichts als die Vorstellung von Erscheinung sei: daß die Dinge, die wir anschauen, nicht das an sich selbst sind, wofür wir sie anschauen, noch ihre Verhältnisse so an sich selbst beschaffen sind, als sie uns erscheinen, und daß, wenn wir unser Subjekt oder auch nur die subjektive Beschaffenheit der Sinne überhaupt aufheben, alle die Beschaffenheit, alle Verhältnisse der Objekte im Raum und Zeit, ja selbst Raum und Zeit verschwinden würden, und als Erscheinungen nicht an sich selbst, sondern nur in uns existieren können. Was es für eine Bewandtnis mit den Gegenständen an sich und abgesondert von aller dieser Rezeptivität unserer Sinnlichkeit haben möge, bleibt uns gänzlich unbekannt. (Kant 1781, 1. Teil, 2. Abschn., § 8)

Kant vergleicht unsere Sinnlichkeit und unseren Verstand mit einer Brille, die wir nicht abnehmen können. Wie die Welt (oder wir selbst) durch diese Brille hindurch gesehen aussieht, das wissen wir. Wie sie aber an sich beschaffen ist, das können und werden wir niemals herausfinden. Darüber können wir nur spekulieren. Wir können zwar über das Sein an sich (zum Beispiel über das Sein der Welt oder unser eigenes) oder über Gott nachdenken. Doch Denken und Erkennen sind zweierlei, und die Dinge an sich entziehen sich immer unserer Erkenntnis; nur ihre Erscheinungen können erfahren werden.

Am schönsten, einfachsten und womöglich folgenreichsten hat der Dichter Heinrich von Kleist diesen Punkt der kantischen Erkenntnistheorie zusammengefasst. In einem Brief an seine Verlobte Wilhelmine von Zenge schreibt er 1801:

Vor kurzem ward ich mit der neueren sogenannten Kantischen Philosophie bekannt – und Dir muß ich jetzt daraus einen Gedanken mitteilen, indem ich nicht fürchten darf, daß er Dich so tief, so schmerzhaft erschüttern wird, als mich. Auch kennst Du das Ganze nicht hinlänglich, um sein Interesse vollständig zu begreifen. Ich will indessen so deutlich sprechen, als möglich.

Wenn alle Menschen statt der Augen grüne Gläser hätten, so würden sie urteilen müssen, die Gegenstände, welche sie dadurch erblicken, sind grün – und nie würden sie entscheiden können, ob ihr Auge ihnen die Dinge zeigt, wie sie sind, oder ob es nicht etwas zu ihnen hinzutut, was nicht ihnen, sondern dem Auge gehört. So ist es mit dem Verstande. Wir können nicht entscheiden, ob das, was wir Wahrheit nennen, wahrhaft Wahrheit ist, oder ob es uns nur so scheint. Ist das letzte, so ist die Wahrheit, die wir hier sammeln, nach dem Tode nicht mehr – und alles Bestreben, ein Eigentum sich zu erwerben, das uns auch in das Grab folgt, ist vergeblich. (Kleist 1801)

[43] Georg Wilhelm Friedrich Hegel

Die Dialektik

Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831) war weder Medientheoretiker noch hat er zur Vorgeschichte der Medientheorien erhebliche Beiträge geleistet. Und doch enthält sein Denken zwei Züge, die aus der späteren Entwicklung der Traditionslinien innerhalb und auch außerhalb medientheoretischen Denkens nicht wegzudenken sind. Die logische Methode und Denkfigur der Dialektik hat insbesondere auf marxistische und materialistische Philosophien ganz wesentlichen Einfluss gehabt; alle auf diesen Ansätze aufbauenden medientheoretischen Überlegungen (wie die der Frankfurter Schule, wie Bertolt Brechts Radiotheorie, Hans Magnus Enzensbergers Medienschelte oder Habermas’ Konzept vom »herrschaftsfreien Diskurs«) bauen auf die dreischrittige dialektische Denkbewegung auf, die Hegel allerdings keineswegs selbst erfunden hat. Er selbst bezieht sich auf Heraklit (ca. 520–460 v. Chr.), und auch andere Denker könnten hier als Zeugen für dialektisches Philosophieren aufgerufen werden. Bei Platon (→ S. 32) etwa ist die Dialektik diejenige Methode, mit der man sich wissenschaftlich dem eigentlichen Sein nähern kann, im Gegensatz zur Physik, welche nur über die empirische Welt der Erscheinungen Aussagen treffen kann.

Und doch ist es keine Zufälligkeit, dass Hegel hier herausgegriffen wird: Mit ihm wird weithin – und dies zu Recht – die systematische Bewusstmachung und Theoretisierung des Instruments der Dialektik bzw. dieser vorgeblichen Naturgesetzlichkeit unseres Denkens verbunden. Vor allem aber, und dies ist hier noch wichtiger, bauen Karl Marx, Friedrich Engels und in ihrer Folge alle dialektisch-materialistischen Denker – eben auch die der Frankfurter Schule (→ S. 102) und der Kritischen Theorie – auf dem von Hegel ins Zentrum der Betrachtung gerückten Dreischritt als Methode auf.

Im Grunde wird unter »Dialektik« eine Grundoperation der Logik verstanden: Einer Behauptung (These) wird eine andere Behauptung (Antithese) entgegengestellt, die mit ihr nicht vereinbar scheint. In einer Aufhebung auf einem höheren oder abstrakteren Niveau (Synthese) werden These und Antithese dann doch vereint. Im Begriff der »Aufhebung« klingt dabei sowohl diese höhere Ebene an als auch die gegenseitige Neutralisierung von These und Antithese sowie das gleichzeitige Bewahren ihrer Widersprüchlichkeit selbst noch in der gelungenen Synthese. Ein Beispiel:

[44]These: das Leben. Antithese: der Tod. Beide sind unvereinbar: Wer lebt, ist nicht tot, und wer tot ist, lebt nicht. Leben und Tod schließen einander aus. Die synthetische Aufhebung beider erfolgt nun auf einer ganz anderen, einer transzendenten Ebene. Es wird ein Jenseits postuliert, ein Leben nach dem Tod. In diesem Jenseits leben wir nicht mehr, denn wir sind ja tot. Wir sind aber nicht tot, denn wir leben ja weiter.

Gerade an diesem Beispiel wird auch deutlich, dass allen Erlösungsreligionen und ideologien (wie zum Beispiel dem Christentum oder dem Marxismus) eine dialektische Grundstruktur innewohnt (Sündenfall, Bewährung hienieden, Himmel bzw. Entfremdung, Revolution, klassenlose Gesellschaft). Wie wir später sehen werden, sitzt diese Dreischrittigkeit, mit der ja immer auch ein Fortschritt impliziert wird, dem abendländischen Denken tief in den Knochen. Auch Philosophen – egal, welcher Weltanschauung sie anhängen – tun sich schwer damit, sich von ihr zu lösen. Dies ändert sich erst mit Gilles Deleuze und Felix Guattari sowie mit Michel Serres.

Doch zurück zu Hegel. So kommentiert Hegel selbst die Bedeutung und das Ansehen der Dialektik:

Das dialektische Moment ist das eigene Sichaufheben solcher endlichen Bestimmungen und ihr Übergehen in ihre entgegengesetzten. […] Die Dialektik […] ist dies immanente Hinausgehen, worin die Einseitigkeit und Beschränktheit der Verstandesbestimmungen sich als das, was sie ist, nämlich als ihre Negation darstellt. Alles Endliche ist dies, sich selbst aufzuheben. Das Dialektische macht daher die bewegende Seele des wissenschaftlichen Fortgehens aus und ist das Prinzip, wodurch allein immanenter Zusammenhang und Notwendigkeit in den Inhalt der Wissenschaft kommt. (Hegel 1817, 1. Teil, C, § 80 f, α und β)

Zahlreiche zeitgenössische Medienthorien wären ohne die hegelsche Dialektik jedenfalls nicht denkbar: Einige der im 20. Jahrhundert entstandenen Medientheorien befassen sich mit der Funktion von technischen Massenmedien in marktwirtschaftlichen Gesellschaften und mit den sozialen Folgen der Rezeption dieser Medien. Der weitaus größte Teil dieser Theorien baut auf marxistische Gesellschaftstheorien auf, welche ihrerseits nur auf der Grundlage des dreischrittigen Dialektik-Modells von Hegel verständlich sind. Ohne Kenntnis der hegelschen Dialektik sind Denker wie Walter Benjamin, Bertolt Brecht, Günther Anders, Theodor Adorno, Hans Magnus Enzensberger, aber auch Jean Baudrillard, nicht zu verstehen. Jedoch ist der Einfluss von Hegel auf diese Denker zumeist durch Karl Marx (1818–83) vermittelt, der Hegels Dialektik »vom Kopf auf die Füße gestellt« hat, wie er selbst zutreffend bemerkte. Er unterscheidet dabei Hegels mystifizierende, affirmative und idealistische Form von Dialektik[45] von seiner eigenen rationalen Form, welche den Akzent auf die Veränderbarkeit und Veränderung der Dinge legt:

Die Mystifikation, welche die Dialektik in Hegels Händen erleidet, verhindert in keiner Weise, dass er ihre allgemeinen Bewegungsformen zuerst in umfassender und bewusster Weise dargestellt hat. Sie steht bei ihm auf dem Kopf. Man muss sie umstülpen, um den rationellen Kern in der mystischen Hülle zu entdecken. In ihrer mystifizierten Form ward die Dialektik deutsche Methode, weil sie das Bestehende zu verklären schien. In ihrer rationellen Gestalt ist sie dem Bürgertum und seinen doktrinären Wortführern ein Ärgernis und ein Gräuel, weil sie in dem positiven Verständnis des Bestehenden zugleich auch das Verständnis seiner Negation, seines notwendigen Untergangs einschließt, jede gewordene Form im Flusse der Bewegung, also auch nach ihrer vergänglichen Seite auffasst, sich durch nichts imponieren lässt, ihrem Wesen nach kritisch und revolutionär ist. (Marx/Engels 1962, Bd. 23, 27 f.)

Bei Marx findet also eine tief greifende Umwertung des hegelschen Denkens statt (die man ihrerseits dialektisch als »Synthese« bezeichnen könnte): Versteht sich das denkende Individuum im Idealismus als der Welt gegenüber befindlich, eignet es sich die Welt dadurch an, dass es sie im Kopf herstellt, so erdet Marx diesen Gedanken und entlässt ihn aus dem Reich logisch-abstrakter Denkübungen in die gesamte materielle Welt:

Die Dialektik, die sog. objektive, herrscht in der ganzen Natur, und die sog. subjektive Dialektik, das dialektische Denken, ist nur Reflex der in der Natur sich überall geltend machenden Bewegung in Gegensätzen, die durch ihren fortwährenden Widerstreit und ihr schließliches Aufgehen ineinander, resp. in höhere Formen, eben das Leben der Natur bedingen. (Marx/Engels 1962, Bd. 20, 481)

Marx ist der Ansicht, dass Hegel falsch vorgeht, wenn er meint, »die Bestimmungen des logischen Begriffs überall wiederzuerkennen«, anstatt umgekehrt »die eigentümliche Logik des eigentümlichen Gegenstandes zu fassen« (Marx/Engels 1962, Bd. 1, 296). Hegel, so Marx, entwickle »sein Denken nicht aus dem Gegenstand, sondern den Gegenstand nach einem mit sich fertigen und in der abstrakten Sphäre der Logik mit sich fertig gewordenen Denken« (Marx/Engels 1962, Bd. 1, 213).

In ihrer Polemik Das Elend der Philosophie erklären Karl Marx und Friedrich Engels ihre materialistische Dialektik in Abgrenzung zur idealistischen Hegels:

Um griechisch zu sprechen, haben wir These, Antithese und Synthese. Für die, welche die Hegelsche Sprache nicht kennen, lassen wir die Weihungsformel folgen: Affirmation, Negation, Negation der Negation. Das nennt man reden. Es […] ist die Sprache dieser reinen, vom Individuum getrennten Vernunft. […] Aber, einmal dahin gelangt, sich als These zu setzen, spaltet sich diese These, indem sie sich selbst entgegenstellt, in zwei widersprechende Gedanken, [46]in Positiv und Negativ, in Ja und Nein. Der Kampf dieser beiden gegensätzlichen, in der Antithese enthaltenen Elemente bildet die dialektische Bewegung. Das Ja wird Nein, das Nein wird Ja, das Ja wird gleichzeitig Ja und Nein, das Nein wird gleichzeitig Nein und Ja; auf diese Weise halten sich die Gegensätze die Waage, neutralisieren sich, heben sie sich auf. Die Verschmelzung dieser beiden widersprechenden Gedanken bildet einen neuen Gedanken, die Synthese derselben. (Marx/Engels 1962, Bd. 4, 127 ff.)

Aus einer abstrakt-logischen Denkoperation wird so durch Marx und Engels die Beschreibung der Art und Weise, wie die Welt funktioniert. Für alle gesellschaftskritischen Mediendenker bis hin zu Vilém Flusser und Jean Baudrillard, die die dialektische Denkfigur auf unterschiedliche Weise zugleich weiterführen und aufheben, bleibt sie der verbindliche Weg, zu argumentieren und dabei gültige Schlussfolgerungen zu ziehen. Die starke Vorherrschaft der Dialektik – und in ihrer Folge der Frankfurter Schule – insbesondere in Deutschland hat erheblich dazu beigetragen, dass Medientheorien anderer geistiger Herkunft (wie die so genannte Kanadische Schule von Harold Innis und Marshall McLuhan oder die vom Poststrukturalismus geprägten französischen Denker wie Michel Foucault, Jean Baudrillard oder Paul Virilio) hier lange Zeit nicht ernst genommen und kaum rezipiert worden sind.

Das unglückliche Bewusstsein

Der zweite, vielleicht etwas weniger wichtige Grund, hier vergleichsweise ausführlich auf Hegel einzugehen, ist die von ihm dialektisch als These und Antithese beschriebene Dichotomie und Spannung zweier Zustände unseres Bewusstseins: Wenn ich ganz bei mir bin, dann habe ich keine Aufmerksamkeit mehr für die Welt, dann bin ich weltvergessen. Gebe ich mich aber ganz der Welt hin, dann verliere ich Bewusstsein und Gefühl für mich selbst als Individuum.

In seinem Tun ist demnach das Bewußtsein zunächst in dem Verhältnisse zweier Extreme; es steht als das tätige Diesseits auf einer Seite und ihm gegenüber die passive Wirklichkeit; beide in Beziehung aufeinander, aber auch beide in das Unwandelbare zurückgegangen und an sich festhaltend. (Hegel 1806f, IV B)

Wie also kann ich mich mit der Welt in Einklang bringen? Hegel schlägt als Bild zur Beschreibung des Sachverhalts das gegenseitige Abhängigkeitsverhältnis von Herr und Knecht vor. Die gleichzeitigen, konkurrierenden und sich scheinbar ausschließenden Gefühle von Selbstständigkeit und Unselbstständigkeit, denen der Herr ausgesetzt ist, müssen dialektisch gefasst werden. In ihrer Summe bilden diese Erfahrungen sein Selbstbewusstsein heraus, das also ein Ergebnis der Anerkennung des Anderen ist. Ohne Knecht kein Herr.

[47]Allein schon unter bloß medientheoretischen Gesichtspunkten ist dies ein gewaltiger Gedanke: Nur in Abhängigkeit eines Gegenüberstehenden, eines Gesprächspartners, bin ich ich. Kommunikation ist also nicht irgendeine Tätigkeit, die ein bereits in sich gefestigtes, unveränderliches, als essentialistisch gedachtes Ich ausübt (oder auch nicht). Kommunikation ist nun ganz im Gegenteil das Wesentliche, was unser Ich ausmacht, was es überhaupt erzeugt. Ohne Du kein Ich.

Das Selbstbewußtsein ist an und für sich, indem, und dadurch, daß es für ein Anderes an und für sich ist; d. h. es ist nur als ein Anerkanntes. Der Begriff dieser seiner Einheit in seiner Verdopplung, der sich im Selbstbewußtsein realisierenden Unendlichkeit, ist eine vielseitige und vieldeutige Verschränkung, so daß die Momente derselben teils genau auseinandergehalten, teils in dieser Unterscheidung zugleich auch als nicht unterschieden, oder immer in ihrer entgegengesetzten Bedeutung genommen und erkannt werden müssen. […] Es ist für das Selbstbewußtsein ein anderes Selbstbewußtsein; es ist außer sich gekommen. Dies hat die gedoppelte Bedeutung, erstlich, es hat sich selbst verloren, denn es findet sich als ein anderes Wesen; zweitens, es hat damit das Andere aufgehoben, denn es sieht auch nicht das Andere als Wesen, sondern sich selbst im Andern. (Hegel 1806f, IV A)

»Ich ist der Inhalt der Beziehung und das Beziehen selbst« (Hegel 1806f, IV). Erst kommunizierend schaffen wir uns selbst; unser Ich entsteht aufgrund der Antworten, die wir erhalten. Bei Martin Buber und Vilém Flusser (→ S. 156) werden wir diesen Grundgedanken weiter ausgeführt finden.

Hegels »unglückliches Bewusstsein« hat aber auch Pate gestanden für ein Denkmodell, das in Medientheorien von Anfang an und bis in die Gegenwart nicht wegzudenken ist: Ohne mediale Vermittlung können wir nichts wahrnehmen. Doch die Medien haben die Eigenschaft, sich zwischen uns und die Welt zu schieben, uns so den Weg zu den Dingen zu verstellen und uns der Welt zu entfremden. Vor allem Vilém Flusser hat diesen Gedanken sehr explizit ausgearbeitet. Medienrevolutionen sind aus seiner Sicht Ausbruchsversuche aus der »innere[n] Dialektik aller Mediationen« (Flusser 1993d, 255). Haben wir die Welt, so besitzen wir uns selbst nicht. Haben wir aber uns selbst, geht uns die Welt verloren. Eignen wir uns die Welt mithilfe von Bildern oder der Schrift an, so entstehen bald Universen aus Bildern oder aus Schrift, die dann zu Universen der Bilder oder der Schrift werden, sich vor die Welt schieben und uns schließlich wirklicher erscheinen als diese. Das ist die dialektische Bewegung, die die Mediengeschichte antreibt – ganz ähnlich dem Dialektischen Materialismus, welcher Karl Marx zufolge der Mechanismus ist, der die Geschichte vorantreibt.

[48] Metaphern prägen unser Mediendenken

Anatomie und Blutkreislauf

Kommunikation ist eine Spielart des Tausches; Kommunikationstheorie ist immer auch Tauschtheorie. Das Prinzip von Gabe und Gegengabe impliziert, dass das Gegebene und Empfangene, die Gegenstände des Tausches also, zirkulieren. Werfen wir deshalb einen Blick in die Geschichte der Metapher vom Kreislauf, wie sie auch für wirtschaftliche Tauschsysteme selbstverständlich geworden ist. Sie kann uns helfen, auch Kommunikationstheorie besser zu verstehen.

Während im 18. Jahrhundert der »Automat«, das heißt raffinierte feinmechanische Apparate und Uhrwerke, als Metapher zur Beschreibung von komplexen Systemen herangezogen wurde, und im 19. Jahrhundert die Maschine und ihre Mechanik, galten bis ins 17. Jahrhundert der Körper und seine Organe als modellhaft für die Erklärung des komplexen Zusammenwirkens vieler Teile in einem größeren Ganzen. Eine wichtige Rolle spielte dabei die Lehre von den vier Körpersäften gelbe Galle (Choleriker), schwarze Galle (Melancholiker), Blut (Sanguiniker) und Schleim (Phlegmatiker). Sie wurde aus dem alten Ägypten über Aristoteles und Galen bis zu Paracelsus im 16. Jahrhundert tradiert und spielt in esoterischen Kreisen bis heute noch eine Rolle. Dieser wissenschaftlich inzwischen längst verworfenen Säftelehre zufolge bestimmen nicht nur die Anteile der genannten vier Säfte im Körper eines Menschen dessen Charakter; entscheidend ist auch, dass sie frei zirkulieren können. Das Stocken von Körpersäften bedeutet Stillstand und Tod.

Der Blutkreislauf wiederum wurde zwar schon im 13. Jahrhundert vom arabischen Arzt Ibn an-Nafis entdeckt, doch erst, als ihn sein englischer Kollege William Harvey 1628 für Europa erneut entdeckte und genau beschrieb, wurde diese Entdeckung hier Allgemeingut. Sie hatte gewaltige Folgen, nicht nur für die Anatomie und Medizin. Sofort wurde der Blutkreislauf zu einer Metapher, die auch zur Beschreibung anderer komplexer Systeme diente. Und indirekt veranlasste sie auch die Herausbildung neuer Theorien in ganz anderen Wissenschaftsbereichen, beispielsweise für die merkantile und monetäre Zirkulation. In einem Wörterbuch des 18. Jahrhunderts heißt es etwa unter dem Eintrag »Umtrieb«: »Der Umtrieb des Blutes, dessen Umlauf, Circulation, Kreislauf. Der Umtrieb des Geldes, da es oft aus einer Hand in die andere getrieben wird; der Umlauf, Kreislauf. Eine Waare kommt in Umtrieb, wenn sie stark gekauft und wieder verkauft wird« (Adelung 1793–1801, »Umtrieb«).

[49]Die erste Darstellung des wirtschaftlichen Kreislaufs 1758 durch François Quesnay, zugleich Leibarzt von Ludwig XV. und Begründer der physiokratischen Volkswirtschaftslehre, wurde sofort begeistert aufgenommen. Geld und Waren sind darin Substitute füreinander. Während die Waren von den Produzenten zu den Konsumenten fließen, strömt ihr Gegenwert als Geld zu den Produzenten zurück. Da es sich nicht um einen vereinzelten Tauschvorgang, sondern um einen beliebig oft wiederholbaren handelt, ist die notwendige Voraussetzung für das dauerhafte Funktionieren der Zirkulation, dass das Gegebene dem Genommenen äquivalent ist, also seinen Gegenwert repräsentiert. So lässt sich dieser andauernde Prozess wie ein einmaliger Tausch beschreiben.

Implizit sind die anatomische und dann die volkswirtschaftliche Vorstellung vom Kreislauf, vom geschlossenen Ringtausch, die Grundlage für zahlreiche kommunikationstheoretische Konzepte und Medientheorien, die im 20. Jahrhundert entstehen. Wir werden darauf noch zurückkommen, wenden uns aber zunächst noch einer weiteren Metapher aus der Volkswirtschaftslehre zu, die zum Beginn einer modernen Verkehrstheorie wurde.

Friedrich List und Adam Heinrich Müller

Im Zuge der Industrialisierung im 19. Jahrhundert begannen Nationalökonomen wie Adam Heinrich Müller (1779–1829) oder Daniel Friedrich List (1789–1846), der Verkehrsinfrastruktur und den Kommunikationstechnologien einer Volkswirtschaft ebenso viel Augenmerk zu schenken wie ihren Rohstoffvorräten, Produktionsweisen, ihrer Arbeits- und ihrer Investitionskraft. Mehr noch, sie sahen beides in einem systemischen Zusammenhang. Sie hatten erkannt, dass Verkehr und Kommunikation in einer Volkswirtschaft dem Nervensystem in einem Organismus vergleichbar sind.

Im frühen 19. Jahrhundert waren die Begriffe »Verkehr« und »Kommunikation« (zu einem geringeren Grad auch »Straßen« und »Medien«) austauschbar. »Tausch« ist dabei der beiden Termini gleichermaßen übergeordnete Oberbegriff. Als implizite Tauschtheorie war das Nachdenken über Verkehr und Geselligkeit die Medientheorie der damaligen Zeit.

Friedrich List zum Beispiel setzte 1837 ausdrücklich Wasserwege mit Medien sowie »Transport« mit »Kommunikation« gleich. In diesen frühen nationalökonomischen Verkehrstheorien liegt eine ganz wesentliche Quelle späterer Medientheorien, insbesondere der sogenannten Kanadischen Schule (Harold Innis, Marshall McLuhan). Bis heute gründet unser[50] intuitives Verständnis von Medien auf einem Kommunikationsmodell und einer Transportmetapher, die sich von Eisenbahnlinien und Kanälen herleiten. Dazu mehr im Zusammenhang mit dem Kommunikationsmodell von Claude Shannon und Warren Weaver (→ S. 79).

Ohne die im vorigen Abschnitt skizzierten Vorstellungen von der Kommunikation als Tauschverkehr hätte es nicht zu dieser erweiterten und fortgesetzten Metapher kommen können. Wurden in der Vorgeschichte der heutigen Medientheorien Verkehrs- und Transportmittel schon als Medien und Kommunikationsmittel aufgefasst, so sprechen wir heute übrigens in einer Umkehrung dieser Metaphorik von »Kanälen«, von »Nachrichtenverkehr« oder »Datenautobahnen«.

Friedrich List jedenfalls war ein glühender Befürworter eines planvoll integrierten, zusammenhängenden Eisenbahnnetzes in Deutschland. Es sollte nicht dazu dienen, Personen zu befördern, sondern dem Gütertransport, also rein wirtschaftlichen Zwecken. List ist unter Medienforschern kein Star. Doch einigen von ihnen, wie etwa Dierk Spreen, gilt er dennoch als einer

der ersten wirklichen Medientheoretiker. Er behandelt ausführlich medientheoretische Fragen zum Verhältnis von »Kanälen und Eisenbahnen« bzw. Probleme der »Dampfwagen auf Chausseen und ihre mögliche Konkurrenz mit den Eisenbahnen betreffend« und wägt sozio-politische Folgen neuer Verkehrs- und Kommunikationssysteme ab […]. Wesentliche Topoi der Medientheorie des 20. Jahrhunderts finden sich hier vorweggenommen, zum Beispiel: Erweiterung der sozialen Wirkungskreise, Vergrößerung und Internationalisierung des Wissens, Bildungsrevolution, Beschleunigung von Kommunikation und Informationsfluß, Verständnis und Verstehen, Gemeinschaftlichkeit, Mobilität und Tourismus. Wenn List das »Nationaltransportsystem«, das er gelegentlich auch »Kommunikationssystem« nennt, zum Paradigma der produktiven Kräfte erhebt, dann deutet er eine Medientheorie an, in der beschleunigter Austausch und schnelle Zirkulation von Informationen (Menschen, Waren, Post, Depechen, Journale, Zeitungen) an sich zur produktiven Größe werden. (Spreen 1998, 59)

Dies ist nicht nur der Beginn eines systemischen Ansatzes bei der Untersuchung der verschlungenen Beziehungen zwischen Kommunikation, Wirtschaft, Medien und Verkehr. Es ist auch die Vorahnung eines Prozesses, in dem die Kommunikationsmittel fortan ständig an Bedeutung und Wirkung gewinnen – und dabei immer schneller, kleiner und zunehmend immateriell werden. Es ist der Anfang einer Betrachtungsweise dieser Entwicklung, die uns heute (nach Marshall McLuhan, Jean Baudrillard, Friedrich Kittler und Paul Virilio) so selbstverständlich erscheint, dass wir sie für schlechthin gegeben halten, als wäre sie schon immer da gewesen. List und einige seiner Zeitgenossen aber waren die ersten, die – wenn auch[51] noch implizit – Gregory Batesons Einsicht vorwegnahmen, dass Kommunikation nicht der Transport von Substanzen, sondern von Differenz ist, dass das Maß von Information ein Unterschied ist – und dieser Unterschied eine Idee. Im Rückblick erscheinen Lists Eisenbahnen als erste Pioniere auf dem Weg zu einer immateriellen, informationsbasierten Zivilisation.

Während List einige Jahre im kanadischen Exil verbrachte, entwickelte er auch dort ein intelligent konzipiertes Eisenbahnnetz zur Beförderung der wirtschaftlichen Integration des nordamerikanischen Landes. Und vor allem bei der später als Kanadische Schule bekannt gewordenen Gruppe von Schülern Harold Innis’ um Marshall McLuhan sollte er prägend wieder in Erscheinung treten. Weil sich Innis als kanadischer Wirtschaftshistoriker zunächst mit dem Pelzhandel und mit Eisenbahnen befasste, blieb die auf ihn zurückgehende Schule eng verbunden mit der Transportmetapher.8 Innis versteht Medialität als Transport und Kommunikation als Übertragung. Für die Medientheorien des 20. Jahrhunderts sollte dies tiefgreifende Folgen haben.

Die zweite Industrialisierung und das Rieplsche Gesetz

Die Industrialisierung Mitteleuropas im 19. Jahrhundert führte zu einer immer schnelleren Abfolge von Einführungen neuer technischer Medien:9 des Telegrafen 1809, der Fotografie 1822, des Telefons 1872, des Grammophons 1877, des Films 1895 und des Radios 1918. Für sich genommen, können diese Medienrevolutionen auch als Zweite Industrialisierung betrachtet werden: Beruhte die Erste Industrialisierung seit dem 19. Jahrhundert darauf, dass menschliche oder tierische Muskelkraft durch Maschinen, zuerst durch die Dampfmaschine, dann durch den Elektround den Verbrennungsmotor, simuliert und ersetzt wurde, waren es nun die menschlichen Sinnesorgane und vor allem Nervenstränge, deren Funktionen technisch nachgebaut bzw. implementiert wurden. Die Vision Friedrich Lists vom Netzwerk der Eisenbahnen, das den Nationalstaat durchziehen sollte wie die Blutbahnen den Organismus, war nun wahr geworden. [52]Der Telegraf wurde das Äquivalent zum menschlichen Nervensystem (bzw. umgekehrt dieses sein Modell): Elektrische Impulse konnten nun in Sekundenbruchteilen durch das ganze Land zucken und Daten übermitteln, Daten, die beim Empfänger zu Information wurden und so beispielsweise unterschiedliche Fabriken so leiten und koordinieren konnten, ganz so wie Muskeln von Nervenimpulsen gesteuert werden. Diesen Vergleich von Telegrafie und menschlichem Nervensystem stellte bereits der zeitgenössische Geograf Ernst Kapp 1877 an. Er behauptete eine

[d]urchgängige Parallelisirung von Telegraphensystem und Nervensystem […]. Die Nerven sind Kabeleinrichtungen. […] Der Telegraph auf der Schwelle, wo der Mechanismus sich vom sinnlich Greifbaren mehr und mehr entfernend […] zur durchsichtigen Form des Geistes wird. (Kapp 1877, XI)

Jede neue Medientechnik wurde nun nicht nur jeweils als Durchbruch menschlichen Fortschritts gefeiert, sie trat auch in Windeseile einen erfolgreichen Siegeszug durch die gesamte industrialisierte Welt an (und kolonialisierte und teilindustrialisierte dabei auch zunehmend den Rest der Welt).

Doch diese Revolutionen in der Medientechnik und die aus ihnen resultierenden gewaltigen Umbrüche in Produktions- und Konsumtionsweisen, in Kriegsführung, Wertschöpfung und -akkumulation, Sozialer Frage und menschlichem Zusammenleben warfen auch Fragen auf. Neben Fragen kultureller und sozialer Natur, stellten sich auch schon erste medientheoretische Fragen avant la lettre: Würde die Malerei aussterben, da sich nun die Natur als Fotografie, dem »pencil of nature« (so einer ihrer Erfinder, William Henry Fox Talbot), selbst und anscheinend objektiv abbilden konnte? Was würde aus dem Theater werden im Angesicht des Kinos? Was aus dem gedruckten Buch?

Eine mögliche Antwort lieferte der Altphilologe und spätere Chefredakteur der Nürnberger Zeitung Wolfgang Riepl. 1913 promovierte er über Das Nachrichtenwesen des Altertums mit besonderer Rücksicht auf die Römer. In seiner Dissertation kam Riepl zu dem Schluss, dass Techniken der Nachrichtenübermittlung und Kommunikation, die einmal funktioniert haben, nie wieder ganz aufgegeben werden oder verschwinden, also

daß die einfachsten Mittel, Formen und Methoden, wenn sie nur einmal eingebürgert und brauchbar befunden worden sind, auch von den vollkommensten und höchst entwickelten niemals wieder gänzlich und dauernd verdrängt und außer Gebrauch gesetzt werden können, sondern sich neben diesen erhalten, nur daß sie genötigt werden können, andere Aufgaben und Verwertungsgebiete aufzusuchen. (Riepl 1913, 5)

Um die Geltung dieses später so genannten Rieplschen Unverdrängbarkeitsgesetzes wird erstaunlicherweise bis heute heftig gestritten. Denn offensichtlich ist es irgendwie wahr: Noch heute werden Kupferstiche angefertigt und [53]Statuen aufgestellt, und vermutlich gibt es auch irgendwo jemanden, der noch Pergamente beschriftet. Auf der anderen Seite stellt sich die Frage, welche Bedeutung dieser Befund hat. Natürlich können Lithografie und Offsetdruck nebeneinander bestehen. Aber was genau folgt aus diesem vorgeblichen Rieplschen Gesetz von der Komplementarität der Medien?

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9783846341230
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