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[29]Eine kurze Geschichte der Medientheorien

In vieler Hinsicht ist also das, was heute unter »Medienphilosophien« verstanden wird, eine Wiederkehr von Fragestellungen aus einigen Jahrtausenden Philosophiegeschichte, dabei insbesondere der Geschichte der Erkenntnistheorie. Erst etwa seit Beginn des 20. Jahrhunderts herrscht jedoch ein allgemeines Bewusstsein für die Medialität unserer Wahrnehmung vor. Dieser Begriff hat, von der Kommunikationswissenschaft und der Beschäftigung mit den jeweils neuen Medien herrührend, dazu geführt, dass erkenntnistheoretische Fragen unter den veränderten Bedingungen des (post-)modernen Alltags mit den Massenmedien neu bewertet, aufgewertet und in die aktuelle Debatte mit einbezogen worden sind.

Der Begriff der Medialität ist dabei ein doppelt doppelter: »Medialität« spielt nicht nur auf die Bedeutung der Wahrnehmung an, die durch Mediennutzung ermöglicht wird; sie wird zugleich auch in die Sinnesorgane hinein verlängert. In mühsamen phänomenologischen, erkenntnistheoretischen und kognitionswissenschaftlichen Studien wurde erstens gezeigt, dass auch unsere Wahrnehmung von Welt stets eine vermittelte ist, dass die Vorstellung unzutreffend ist, unsere Sinnesorgane würden ein Geschehen draußen in der Welt neutral aufzeichnen und dann objektiv und sachlich an unser Kleinhirn und dessen Rezeptoren weiterleiten. Alle Wahrnehmung ist stattdessen von vornherein durch eine Vielzahl von Rezeptionsmustern, Selektionsvorgängen, Perspektivfestlegungen, Wünschen und Konstruktionen geprägt. Zweitens aber betrifft der Begriff der Medialität keineswegs nur unsere Wahrnehmung, sondern selbstverständlich auch die Kommunikationsvorgänge, mittels derer wir in Kontakt mit anderen Menschen stehen. Und dazu gehört auch das weite Feld der Nutzung technischer Kommunikationsmedien.

Die philosophische Vorgeschichte: Medientheorie vor der Medientheorie

Die Erkenntnis, dass Wahrnehmung und Kommunikation stets medialen Charakter haben (medial turn → S. 181), wertete die Medienwissenschaft mit einem Schlag zu einer Grundlagenwissenschaft auf. Zugleich wurde die gesamte Philosophiegeschichte reaktiviert und, wie wir bereits gesehen haben, häufig auch in Gestalt modischer Medientheorien in neuem Gewand recycelt.

[30]Auf den folgenden Seiten sollen einige wichtige Entwicklungen für die Medientheorien in ihrer heutigen Form, wie sie in den dann folgenden Kapiteln skizziert werden, in aller Kürze dargestellt werden. Es handelt sich dabei sozusagen um einige Fußnoten zur Vorgeschichte der modernen Medientheorien, ohne welche diese aber kaum verständlich wären. Denn fast alle zeitgenössischen Medienphilosophien können ja als Fortführung klassischer Philosophie unter veränderten Bedingungen gesehen werden, eben unter den Bedingungen eines sich verbreitenden Bewusstseins dafür, wie die technischen Medienapparate unsere Kommunikationsweisen und -inhalte prägen.

Das vedische Konzept von Maja

Die vedische6 Philosophie, welche in wesentlichen Zügen im Indien des 8. Jahrhunderts v. Chr. ausgeprägt wurde, enthält eine erkenntnistheoretische Vorstellung, die um den Begriff von Maja kreist. Bei Maja handelt es sich laut Duden um die »als verschleierte Schönheit dargestellte Erscheinungswelt, Blendwerk«. Aufgrund ihrer Vergangenheit als mythische, verführerische, weibliche Figur – aber wohl nicht nur deshalb – ist die Vorstellung von Maja immer auch erotisch aufgeladen.

Maja wird im philosophischen Werk des Vedanta im 8. Jahrhundert zum Inbegriff der Unwissenheit und Verblendung. Es gibt in Wahrheit keinen Unterschied zwischen Subjekt und Objekt, zwischen dem Erkennenden und dem Erkannten. Nur aufgrund des Wirkens von Maja entsteht für uns diese täuschende Illusion. Maja ist der Schleier der Illusion, der die Menschen daran hindert, das Göttliche zu erkennen. Im Advaita Vedenta ist sie die Ursache der illusorischen Natur des Universums.

Maja ist nicht nur die Vorspiegelung einer Realität, sondern zugleich auch die Verwechslung dieser Illusion mit dem Wirklichen. Nur Brahman, die höchste Erkenntnis, erlaubt den Zugang zu einer absoluten Wirklichkeit. Maja legt einen täuschenden Schleier über die Dinge, einen Verblendungszusammenhang (→ S. 105), der uns die vorgespiegelten, vergänglichen Phänomene als absolute Wahrheit erscheinen lässt. Die Sterblichen sehen eine Welt, von der sich weder sagen lässt, dass es sie gibt, noch, dass es sie nicht gibt. Denn die Welt ist wie ein Traum, wie das Flirren der [31]Sonne über dem Sand, das aus der Ferne für Wasser gehalten werden kann. Die Menschen sind nicht nur zur Sünde und zum Tod verdammt, sondern auch zur Illusion. Sie ist so wirklich wie das Leben, so wirklich wie die Welt der Sinne selbst, denn sie ist mit dieser Welt sogar identisch.

Das im Zusammenhang mit der Wirkungsweise von Maja meistzitierte Anschauungsbeispiel soll auch hier in Kürze wiedergegeben werden: Ein Wanderer glaubt, im Halbdunkel am Wegesrand eine zusammengerollte Schlange zu sehen. Er ist wie gelähmt vor Angst. Als man eine Lampe herbeibringt, erweist sich die Schlange jedoch als ein Stück aufgerolltes Seil. Der Wanderer ist nun erleichtert statt ängstlich; die Erkenntnis des Wahren löscht die vorangegangene Vorstellung und die mit dieser verbundene Furcht völlig aus. Die Selbsterkenntnis (Brahman) durchstößt den Schleier der Maja unwiderruflich. Die Unwissenheit verschwindet für immer.

In die europäische – und besonders die deutsche – Denktradition wurde die Vorstellung von Maja Ende des 19. Jahrhunderts unter anderem von Arthur Schopenhauer eingeführt. Erstaunlicherweise hat dieses an sich sehr fruchtbare Konzept von Verblendung und von einer Wahrheit hinter einer Welt aus vorgespiegelten Phänomenen in der Geschichte des westlichen Mediendenkens zwar deutliche Spuren hinterlassen. Als »Maja« selbst aber ist es in der westlichen Welt weitgehend dem Vergessen anheimgefallen und in medientheoretischen Zusammenhängen nicht fruchtbar gemacht worden, obwohl es auch in gewisser Weise mit dem Platonismus (→ S. 37) kompatibel ist.7

[32]Schatten in der Höhle: Platons Ideenlehre, Höhlengleichnis und Erkenntnistheorie

Vorschau:

 Platons Kritik an der Schrift ist eine Form von Technikkritik.

 Im lebendigen Dialog lassen sich Begriffe klären.

 Alles Wahrnehmbare ist Abbild unwandelbarer und unzugänglicher Ideen.

 Ein stoffliches Medium vermittelt zwischen der Idee und ihrer Erscheinung.

Naturgemäß hat nichts einen Anfang, sondern immer schon irgendeine Vorgeschichte. Ganz besonders gilt dies für die Geschichte der Medientheorien. Und doch, wollte man ihren Beginn festsetzen, so herrschte sicherlich große Einigkeit, ihn bei Platon zu sehen. Platon lebte von ca. 427 bis ca. 347 v. Chr. in Athen. Er war der Schüler von Sokrates und der Lehrer von Aristoteles und gilt als einer der wichtigsten und einflussreichsten Philosophen. Und das hat vor allem medientechnische Gründe: Während Sokrates das Philosophieren im Dialog perfektionierte, schrieb Platon dessen Dialoge auf, oder gab dies jedenfalls vor. Dabei setze er sich zugleich kritisch mit der von ihm selbst bevorzugten Kulturtechnik der Schrift auseinander.

Paradoxerweise übte Platon also schreibend Kritik an der Schrift. In seinem Dialog Phaidros findet sich eine ebenso heftige wie fundierte Schriftkritik. Der darin formulierte Konflikt zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit gibt das Vorbild für die seither über die Jahrtausende immer wieder wiederholte bipolare Gegenüberstellung unterschiedlicher Medien und Kulturtechniken, welche häufig so eskalierte, dass dabei nicht nur Weltanschauungen, sondern anscheinend auch Wohl und Wehe des Abendlands, wenn nicht gar der ganzen Welt verhandelt wurden. Die Medialität der Schrift selbst aber trat in der Schriftvergessenheit des abendländischen Denkens bis ins 19. Jahrhundert schließlich wieder in den Hintergrund: Die Schrift schien in der europäischen Kultur zu selbstverständlich gegeben zu sein, als dass man sie bewusst wahrgenommen hätte. Man vergaß einfach, dass es sich auch bei ihr um eine Kulturtechnik handelte (→ S. 212).

Platon sieht in der Schrift ein Hilfsmittel für das Erinnerungsvermögen. Doch zugleich erhebt er gewichtige Einwände gegen ihre Nutzung: Die Schrift bringt keine neuen Informationen hervor; sie eignet sich nicht[33] zum Philosophieren, und sie dient nicht der Wahrheitsfindung. Deshalb bleibt sie Platon letztlich immer nur ein »schönes Spiel« (Platon, Phaidros 276e). Nur im Dialog nämlich können »wir, ich und du, zu einander reden, der Sprache uns bedienend, mit der Seele zu der Seele« (Platon, Alkibiades 1. Dialog 130E). Zur Klärung der Begriffe, und damit zur Wahrheit, gelangen wir nur in der spezifischen Medialisierungsform des sokratischen Dialogs, in welchem sich ein antwortendes Gegenüber gegen kritischen Rückfragen verteidigen muss. So tragen beide Dialogpartner zur Begriffsschärfung bei. Aber weder die unmittelbare Anschauung noch geschriebene Texte können etwas zur Erkenntnis beitragen, denn Erkenntnis kann nur im mündlichen Dialog erreicht werden. Bei Vilém Flusser (→ S. 166) wird diese These zweieinhalbtausend Jahre später eine gewichtige Rolle spielen.

Eben dadurch, dass die Schrift als externes Hilfsmittel die Erinnerung stützt, so Platon, schwächt sie die Leistungsfähigkeit des Gedächtnisses. Denn was einmal aufgeschrieben ist, das muss man sich nie mehr merken und

wer dies lernt, dem pflanzt es durch Vernachlässigung des Gedächtnisses Vergeßlichkeit in die Seele, weil er im Vertrauen auf die Schrift von außen her durch fremde Zeichen, nicht von innen her aus sich selbst die Erinnerung schöpft. Nicht also für das Gedächtnis, sondern für das Erinnern erfandest du ein Mittel. (Platon 2002, 27)

Dieses Mittel, das Medium Schrift, wird von Platon aber keineswegs verdammt. Wird Schrift, wie eine Arznei, verständig und im rechten Maß eingesetzt, so ist sie ein Segen. Doch das ausschließlich Positive, das bis dahin mit der Schrift als zivilisatorischer Glanzleistung Prometheus zugeschrieben worden war, wendet Platon ins Zwiespältige. Jede technische Neuerung, darunter selbstverständlich auch Entwicklungen der Kulturund Medientechniken, hat nämlich tief greifende Konsequenzen, die über den eigentlich beabsichtigten Zweck hinausgehen (und meist kaum absehbar sind). So gehört die Schwächung der Gedächtnisleistung sicher nicht zu den ursprünglichen Zwecken des Mittels »Schrift«. Andererseits wäre ohne Schriftlichkeit, ohne Notation, zum Beispiel eine über das Einmaleins hinausgehende Mathematik unmöglich. Einige Mathematiker, wie etwa Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716), vertraten gar die Ansicht, dass alles menschliche Denken erst durch Zeichen ermöglicht werde und sich in Formeln darstellen lasse.

Technik (téchnē), so Platon, hat grundsätzlich zwiespältigen Charakter. Techniken – im Altgriechischen wird zwischen Technik und Kunst nicht unterschieden – werden zur Lösung eines Problems entwickelt und zeitigen dann schwerwiegende Folgen in ganz anderen, vorher nicht bedachten [34]Zusammenhängen. Dies gilt auch für Medien: In ihnen sind, wie in jeder Technik, Problemlösung und Problemverursachung zugleich angelegt unabhängig davon, wie sie verwendet werden. Medien lösen Veränderungen aus, die nicht absehbar sind.

Am Ende des Kratylos-Dialogs führt der Sokrates, den Platon dort auftreten lässt, die mediale Funktion von Sprache auf ihre Bildlichkeit zurück. Wörter sind so gesehen Bilder von Gegenständen, und so lassen sich bei Platon die Dinge durch Sprache in ihrem Wesen erkennen. Sprache fungiert bei ihm als Basis aller Medien, ohne jedoch selbst von Platon als »Medium« bezeichnet zu werden. Bemerkenswert aus heutiger Sicht ist, dass Platon zwar ein Bewusstsein für die Schrift schafft und sie als Kulturtechnik der Mündlichkeit gegenüberstellt, dass er die Medialität der Sprache selbst aber nicht erkennt. Es wird noch zweitausend Jahre dauern, bis auch die Sprache den Denkern als Grundmedium bewusst wird.

Im Gegensatz zur mündlichen Rede sind geschriebene Texte Platon zufolge tot; sie sind nicht mehr als ein Schattenbild einer Realität, ein »Abbild« der »lebende[n] und beseelte[n] Rede des Wissenden« (Platon 2002, 28). Die Schrift lässt Platon als Erinnerungszeichen (pharmakon hypomnēsōs) gelten, nicht aber als lebendiges Gedächtnis (mnēmē). Da man sich mithilfe der Schrift nur an das zuvor als wahr »Geschaute« erinnern kann, können geschriebene Texte also nur konservieren, aber nichts voranbringen. Und sie können zwar lügen, aber keine Fragen beantworten. Alleingelassen, versagt die Schrift notwendigerweise:

Jede Rede aber, wenn sie nur einmal geschrieben, treibt sich allerorts umher, gleicherweise bei denen, die sie verstehen, wie auch bei denen, für die sie nicht paßt, und sie selber weiß nicht, zu wem sie reden soll, zu wem nicht. Gekränkt aber und unrecht getadelt, bedarf sie immer der Hilfe des Vaters, denn selbst vermag sie sich weder zu wehren noch zu helfen. (Platon 2002, 28).

Erstaunlich ist, wie Platon hier den performative turn des 21. Jahrhunderts vorwegnimmt: Die Performativität des Dialogs, der Umstand, dass er sich hier und jetzt als Rede und Gegenrede mit ungewissem Ausgang ereignet, kann von der Schrift niemals ersetzt werden. Ebenso wenig kann sie die Authentizität und Glaubwürdigkeit dessen gewährleisten, der im lebendigen Dialog spricht. Ironischerweise ist Platon der erste Philosoph, der solche Gedanken niederschreibt. Und nicht zufällig wählt er dafür die Form des vorgeblich berichteten Dialogs.

Die Bedeutung des Dialogs bei Platon ist nicht nur auf die Methode des dialogischen Philosophierens zurückzuführen, welche sein Lehrer Sokrates bis zur Perfektion entwickelt hat. Dem Dialog kommt noch auf eine andere Weise eine ganz zentrale Funktion für das Streben nach menschlicher Erkenntnis zu. Um dies zu verstehen, ist ein Blick auf Platons Ideenlehre[35] nötig, die das wohl wirkmächtigste Konzept der gesamten westlichen Philosophiegeschichte sein dürfte und die abendländische Geistesgeschichte bis heute prägt – so sehr, dass der britische Mathematiker und Philosoph Alfred North Whitehead nicht ganz zu Unrecht das Bonmot formulierte, dass die gesamte philosophische Tradition Europas »aus einer Reihe von Fußnoten zu Platon besteht« (Whitehead 1987, Teil 2, 91).

Platon geht davon aus, dass unsere Welt eigentlich in zwei verschiedene Welten geteilt ist. Die sinnlich erfahrbare Welt ermöglicht nur Meinungen, aber keine sichere Erkenntnis. Die eigentliche Realität ist die Welt der Ideen. Diese Ideen sind die Ursache und das eigentliche Wesen der uneigentlichen Welt der Erscheinungen, welche uns umgibt. Die Ideen sind unwandelbare Urbilder, immaterielle und ewig unveränderliche Wesenheiten. Sie existieren zwar objektiv, also unabhängig von Subjekten und deren Wahrnehmungen, werden aber in der sichtbaren Welt nur schwach von den von uns wahrnehmbaren Dingen nachgeahmt. Diese körperliche, relative Welt der Sinne, welche sich ständig im Fluss der Veränderung befindet, ist der absoluten Welt der ewigen Urbilder, der unveränderlichen Ideen, untergeordnet. Dennoch sind uns nur die sinnlichen Abbilder unmittelbar zugänglich, während sich die Ideen selbst nicht erschließen lassen. Nur durch mühsame geistige Anstrengung können wir es schaffen, wenigstens einen flüchtigen Einblick in die Welt der Ideen, der eigentlichen Realität, zu erlangen. Deshalb ist für Platon das bestmögliche Leben eines, das nach solcher Erkenntnis strebt.

Platons Ideenlehre und seine Suche nach dem Ewigen, Absoluten der Ideen (welches im Übrigen später mühelos vom Monotheismus zum Beispiel des Christentums als Gott umgedeutet wurde) ist nicht nur der Kern seiner gesamten Philosophie, sondern eben auch der Urtext, zu dem die auf ihn folgende philosophische Tradition Europas lediglich die Fußnoten abgibt. Die Annahme einer perfekten, selbst aber unsichtbaren Idee hinter den Dingen hat darüber hinaus die europäische Kunstgeschichte bis heute entscheidend geprägt. Denn sie fordert ja bildende Künstler geradezu dazu heraus, über die beobachtbaren Gegenstände immer auch die »Idee dahinter«, hinter diesen Gegenständen, mit zu bedenken, das heißt idealisierende Darstellungen anzustreben. Weil sich aber bildende Künstler letztlich doch mehr an den Erscheinungen als an Ideen orientieren, hat Platon sie nicht allzu hoch geschätzt, weniger jedenfalls, als die der reinen Ideenschau verpflichteten Philosophen.

Der Begriff der Idee hat bei Platon mehrere Bedeutungen:

Von der logischen Bedeutung wurde schon gesprochen: Die Idee ist allgemeiner Begriff (λόγος), also Denkmittel. […] Die Idee ist immer auch Wesenheit (ούσος), bedeutet also das Ding selbst in seinem wahren Sein (αύτò τò πρᾶγμα). [36]Daß es sich bei diesem Sein um ein ideales handelt, wurde schon gesagt. Darum ist die Idee drittens soviel wie Ideal oder Urbild. […] Viertens ist die Idee Ursache (αἰτία). […] Der Timaios[-Dialog] stellt ausdrücklich fest, daß die ganze Welt ein Abbild ist. Der Demiurg hat alles geschaffen im Hinblick auf die ewigen Ideen. Damit ergibt sich nun eine fünfte Bedeutung der Idee, ihr Charakter als Ziel und Zweck (τέλος). (Hirschberger 1981, 109 f.)

Platons bekanntestes Gleichnis, das Höhlengleichnis, dient ihm dazu, seine Vorstellung vom Verhältnis der Phänomene zum ewigen Sein der unsichtbaren Ideen zu veranschaulichen und dabei auch die grundsätzliche Begrenztheit der menschlichen Befähigung zur Erkenntnis zu illustrieren. In dieser Höhle sitzen, angekettet, Menschen, die nichts von der wirklichen Welt draußen gesehen haben. Hinter ihnen brennt ein Feuer; Gegenstände werden vorüber getragen, deren Schatten das flackernde Feuer an die Wand wirft. Platon lässt nun Sokrates seinen Gesprächspartner Glaukon fragen, ob diese Gefangenen nicht »dieses für wirklich hielten, was sie sehen? […] Auf keine Weise«, so hakt Sokrates noch einmal nach, »können diese irgend etwas anderes für das Wahre halten als die Schatten jener Kunstwerke« (Platon, Politeia, Buch 7).

Sicherlich kann kein heutiger Leser dieses Gleichnisses umhin, hier sofort an das Kino zu denken, das ja tatsächlich genau so funktioniert, wie Platon das Schattenspiel in der Höhle beschreibt – über zweitausend Jahre vor der Erfindung des Kinos. Es ist in der Tat verblüffend, wie exakt Platon hier eine ganz moderne Kulturtechnik vorwegzunehmen scheint. Doch mit dieser Vortäuschung eines bloßen Schattenspiels als Realität ist es nicht genug. Platon beschreibt auch, wie hilflos der Mensch seinen Sinnestäuschungen ausgeliefert ist, wie schwer es ist, sie als Täuschung zu erkennen, und dass es unmöglich ist, die Realität als solche zu schauen:

Abbildung 4: Platons Höhlengleichnis

[37]Wenn einer von den Fesseln befreit wäre und gezwungen würde, sogleich aufzustehen, den Hals herumzudrehen, zu gehen und gegen das Licht zu sehen und, indem er das täte, Schmerzen hätte und wegen des flimmernden Glanzes nicht vermöchte, jene Dinge zu erkennen, wovon er vorher die Schatten sah, was meinst du wohl, würde er sagen, wenn ihm einer versicherte, damals habe er lauter Nichtiges gesehen, jetzt aber, dem Seienden (Wirklichen) näher und zu dem im höheren Grade Seienden gewendet, sähe er richtiger, und ihm jedes Vorübergehende zeigend, ihn fragte und zu antworten zwänge, was es sei? Meinst du nicht, er werde ganz verwirrt sein und glauben, was er damals gesehen, sei doch wirklicher als was ihm jetzt gezeigt werde? (Platon, Politeia, Buch 7)

Auch hier findet sich wieder, wie auch in der indischen Vorstellung von Maja (→ S. 30), in der ägyptischen Sais-Sage und im Alten Testament (→ S. 11) das Motiv der Blendung durch die Wahrheit. Die Realität kann von Menschen nicht wahrgenommen werden, bestenfalls nur ihr Abbild, ein Schatten ihrer selbst. Zur Vermittlung sind Medien nötig.

Im Liniengleichnis aus demselben Dialog, der Politeia, teilt Platon die Welt nun in zweimal zwei Bereiche ein. Das Sichtbare besteht aus direkt Wahrnehmbarem (wie etwa Gegenständen) und indirekt Wahrnehmbarem (wie etwa Schatten von Gegenständen). Denjenigen Teil der Welt aber, der nur dem Geist zugänglich ist, unterteilt Platon ebenfalls. Einer der beiden Bereiche dieses Teils leitet sich aus den wahrnehmbaren Gegenständen ab, überschreitet deren Welt aber. Wissenschaften wie die Mathematik schlussfolgern abstrakte Gesetze aus der Beobachtung zum Beispiel geometrischer Verhältnisse. Der zweite Teilbereich des Geistigen ist das nur von der reinen Vernunft erreichbare Reich der Ideen. Dieses Reich ist losgelöst von der wahrnehmbaren Welt und der Anschauung unzugänglich. Deshalb taugt die sinnlich erfahrbare Welt nicht zur Quelle von wahrer Erkenntnis, und man kann nicht von den Objekten dieser Welt Rückschlüsse auf die Welt der Ideen ziehen. Zugänglich sind die Ideen nur einem voraussetzungslosen »Schauen«. Im Dialog aber können sie zumindest eingekreist werden.

Abbildung 5: Platons Liniengleichnis

[38]Wie aber kann die Seele dann überhaupt eine Idee kennen? Und: Was genau ist eine Idee? Existiert etwas überhaupt, was nur als Idee existiert?

Die platonische Vorstellung davon, weshalb und unter welchen Schwierigkeiten wir uns überhaupt Ideen annähern können, setzt den Glauben an die Wiedergeburt voraus. Platon glaubt, dass Erkenntnis eigentlich Erinnerung ist. Dabei geht er von folgender Überlegung aus: Ideen sind immer mit sich selbst identisch; sie verändern sich nie. Ein perfekter Kreis zum Beispiel ist eine Idee. In der für uns wahrnehmbaren Welt aber existiert kein perfekter Kreis. Und dennoch leuchtet jedem die Idee des perfekten Kreises intuitiv ein. Gleiches gilt für alle Ideen. Sehr vereinfacht formuliert, sind sie angeboren. Etwas genauer gesagt: Ideale Begriffe sind apriorische Konzepte wie etwa Identität, Verschiedenheit, Anzahl etc. »Apriorisch« heißt, dass sie sich nicht aus der Sinneswahrnehmung ableiten, sondern entweder bereits vor ihr da sind und ihr vorausgehen oder sich unabhängig von jeder Erfahrung bloß aus der Vernunft gewinnen lassen. Man kann nämlich aus Beobachtungen nicht auf Ideen wie Ähnlichkeit oder Vielheit schließen, ohne zuvor schon um diese Prinzipien gewusst zu haben, denn sonst ist ein entsprechendes Vergleichen und Abstrahieren ja gar nicht erst möglich. Aus der Erfahrung können die Ideen also nicht kommen. Denn einen einzelnen Baum erkennt der Mensch nur als Baum, wenn in ihm zuvor schon die Idee »Baum« geruht hat. Doch sich selbst kann der Mensch die Ideen auch nicht zurechtgelegt haben. So schließt Platon vom Apriori der Urbilder, von ihrem Angeborensein, auf die Lehre von der Wiedergeburt. Demzufolge hatte unsere Seele Zugang zur Welt der Ideen, als sie noch bei den Göttern war. Dort schaute sie die reinen Gedanken. Bevor sie in einen Körper wiedergeboren wurde, musste die Seele das Wasser des Flusses Ameles in der Lethe-Ebene trinken, um ihre Erinnerung an das frühere Leben und das Jenseits auszulöschen. Als sie aber in unseren Körper gelangte, brachte sie dennoch die vage Erinnerung (Anámnesis) an die Welt der Ideen mit, welche durch Sinneswahrnehmungen unter den Bedingungen von Raum und Zeit nach und nach wieder aktiviert wird. Diese Erinnerung bestimmt, was wir in unserem gegenwärtigen Leben lernen und erkennen können. Erfahrungen, deren Möglichkeit und Grenzen nicht schon im Vorhinein von diesen Aprioris geprägt und bestimmt werden, sind jedoch unmöglich.

[39]Einmal auf der Welt, sehnt sich der Mensch nun nach der perfekten Schönheit, nach der Idee von Schönheit, an die sich seine Seele aus einer Präexistenz undeutlich erinnert. Wenige Menschen nur besitzen eine ausgeprägte Erinnerung an die Ideen, die ihre Seele geschaut hat, als sie noch bei den Göttern war. Diese Menschen geraten außer sich, wenn sie etwas erblicken, was die unbewusste Idee in ihnen zum Widerklingen bringt. Sie hören den Ruf der reinen, unveränderlich ewigen Idee. Sieht der Mensch sinnlich wahrnehmbare Schönheit, so erinnert ihn dies an das Wahre, und er strebt danach, möglichst schon in diesem irdischen Dasein zur Schau der Idee selbst zu gelangen. Diesem Perfekten, in der Erlebniswelt nicht zu Erlangenden, gilt alles höhere menschliche Streben. Alle Erscheinungen der erfahrbaren Wirklichkeit streben nach dem Ewigen, dem Unvergänglichen.

Bei Platon, wie später bei Kant (→ S. 40), kommt den Aprioris von Raum und Zeit, von Identität und Verschiedenheit etc. eine zentrale Bedeutung zu. Doch es gibt zwei tief greifende Unterschiede: Platonische Ideen sind Inhalte, während bei Kant nur die Anschauungsweisen selbst, die Formen also, apriorischen Charakter besitzen. Und Platon schließt im Gegensatz zu Kant aus, dass Sinneswahrnehmungen zur Erkenntnis der Ideen führen können.

Dennoch spielen auch die Sinne eine wichtige Rolle in Platons Erkenntnistheorie. Denn es ist ja keineswegs fruchtlos, die raumzeitlichen Abbilder der ideellen Urbilder zu studieren. Trotzdem ist es nicht die sinnliche Wahrnehmung, die zur Wahrheit führt. Nur im Dialog nämlich kann sich der Mensch an die Wahrheit erinnern. Die Begriffe, die im Dialog geklärt werden, beziehen sich auf die durch Tod und Wiedergeburt unvollständig ausgelöschte Kenntnis der Ideen.

Für Platon sind die Ideen keine gedankenspielerischen Abstraktionen. Sie sind Realität – wenn auch eine Realität, die wir nicht unmittelbar wahrnehmen können. Das Verhältnis zwischen der Ideenwelt und der wahrnehmbaren Welt ist sogar hierarchisch, weil das Sichtbare nur Abbild des eigentlichen und wahren Urbilds ist, der Idee. Sein Wirklichkeitsgrad ist geringer. Entsprechend zeichnet eine tiefere Wirklichkeit das Wirkliche der Ideenwelt vor der Welt der Erscheinungen aus. Nichtsdestotrotz haben die Erscheinungen teil an den Ideen. Schließlich wurde das Universum im Hinblick auf die unveränderlichen Ideen geschaffen, eben als dessen Abbild. Und hier kommt nun ein Aspekt von Medialität ins Spiel. Denn dieses Abbild befindet sich in der Schwebe, in der Mitte zwischen Sein und Nichtsein. Es selbst existiert und existiert zugleich nicht. Es ist die Erscheinungsweise der Idee, ein Mittleres, ein Vermittelndes.

Dies ist ein Aspekt in Platons Denken, der medientheoretisch hochinteressant ist, eine frühe Definition von Medialität. Jedoch ist diesem [40]Aspekt in der Geschichte der Medientheorien keine besondere Aufmerksamkeit gewidmet worden. Wenn sich das ewige Sein in der Welt, die immateriellen Ideen, als Gegenstände und Lebewesen manifestieren, dann muss es einen zuvor ungeformten Stoff geben, in dem und mit dessen Hilfe dies möglich ist – ein Medium also. Platon nennt diesen Stoff das »Aufnehmende« (dechómenon). Dieses mediale Substrat tritt vermittelnd zwischen die Idee und ihre Verkörperung. Schon deshalb können die Gegenstände dieser Welt stets nur als unvollkommene Abbildungen der Ideen gelten. So wird an dieser Stelle nicht nur das Medium von Platon erdacht, sondern mit ihm zugleich der verfälschende Einfluss benannt, den jede mediale Vermittlung auf ihren Inhalt nimmt.

Zusammenfassung:

Unsere Wahrnehmung beschränkt sich auf die Welt der Erscheinungen. Diese sind Abbilder ewiger, unveränderlicher Ideen, an die sich unsere Seele aus früheren Leben mehr oder weniger undeutlich erinnert. Im lebendigen, mündlichen Dialog können wir die Begriffe schärfen und uns so der Erkenntnis der Ideen wenigstens annähern. Die Schrift kann diese Gedanken zwar festhalten und speichern, zu neuen Erkenntnissen aber führt sie nicht.

Verständnisfragen zur Vertiefung:

 Warum kann man aus der Beobachtung der Welt allein nicht auf ihr wahres Wesen schließen? (leicht)

 Wenn uns die Ideen selbst unzugänglich sind, wie ist dann Erkenntnis überhaupt möglich? (mittel)

 Gibt es einen Ausweg aus Platons Höhle? (mittel)

 Gibt es Platon zufolge zwei Welten, eine der Ideen sowie eine ihrer Erscheinungen, oder sind Urbild und Abbild nur zwei Aspekte ein und derselben unteilbaren Welt? (schwer)

 Wie geht Platon mit dem Widerspruch um, dass er der Schrift die Eignung zum Philosophieren abspricht, dies aber in schriftlicher Form tut? (schwer)

Immanuel Kants Erkenntnistheorie

Nach Platon stellt Immanuel Kants (1724–1804) Erkenntnistheorie die am tiefsten greifende Revolution der Art und Weise dar, wie wir uns unsere Beziehung zur Welt vorstellen. Getrieben von der Frage »Was kann ich[41] wissen?«, unterscheidet Kant in seiner Schrift Kritik der reinen Vernunft (1781) zwischen der Erscheinung eines Dinges und dem Ding an sich. Körper sind demnach Erscheinungen von Gegenständen, die existieren. Über deren Eigenschaften wissen wir jedoch nichts, da wir ja nur ihre Erscheinungen kennen. Die Dinge an sich bleiben uns unzugänglich:

Ich […] sage: es sind uns Dinge als außer uns befindliche Gegenstände unserer Sinne gegeben, allein von dem, was sie an sich selbst sein mögen, wissen wir nichts, sondern kennen nur ihre Erscheinungen, d. i. die Vorstellungen, die sie in uns wirken, indem sie unsere Sinne affizieren. Demnach gestehe ich allerdings, daß es außer uns Körper gebe, d. i. Dinge, die, obzwar nach dem, was sie an sich selbst sein mögen, uns gänzlich unbekannt, wir durch die Vorstellungen kennen, welche ihr Einfluß auf unsre Sinnlichkeit uns verschafft, und denen wir die Benennung eines Körpers geben, welches Wort also bloß die Erscheinung jenes uns unbekannten, aber nichtsdestoweniger wirklichen Gegenstandes bedeutet. (Kant 1783, § 13, Anm. 2)

Das Erkennen ist kein Abbildungsvorgang, sondern eine Synthese: Der Mensch bringt notwendigerweise Voraussetzungen, (Aprioris: die Vorstellungen von Raum und Zeit), sowie bestimmte ordnende Gesetzmäßigkeiten des Verstandes (Kategorien: Quantität, Qualität, Relation und Modalität) mit. Diese sind Beschränkungen der Sinnlichkeit und Strukturen des Verstands und nicht etwa Eigenschaften des wahrgenommenen Dinges an sich. Wir können uns die Dinge nicht anders als räumlich und zeitlich vorstellen. Werden diese reinen Formen der sinnlichen Anschauung, diese Aprioris und Kategorien auf die Anschauung selbst angewendet, dann entsteht ein Bild von Wirklichkeit. Die Anschauung wird von unseren Sinnen beigesteuert, und zwar nur dann, wenn die Sinne von einer vorbegrifflichen Außenwelt, von den Dingen an sich, dazu angeregt werden. Wir erfahren diese Außenwelt, indem wir sie sehen, hören, riechen, tasten oder schmecken.

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9783846341230
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