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Tanta Hana schniefte, löste die Hände von den Augen und sah mich an. Mich ärgerte der Tropfen, der ihr langsam die Nase herabfloss. Ich war versucht, ihr ein Taschentuch zu reichen, aber das schien mir unpassend.

Die Tante schwieg eine Weile und sagte dann: »Weil ich jetzt nicht mehr sterben kann.«

SIEBENTES KAPITEL

Mai–September 1954

Tante Hana erhob sich, griff auf die Anrichte und ertastete den Schlüssel. Eine Weile knetete sie ihn in der Hand, als könne sie sich nicht erinnern, zu welcher Tür er gehörte, runzelte die Stirn und ging seufzend zu Großmutters Zimmer. Schnell glitt ich vom Stuhl und lief hinterher.

Die Tante schloss auf, ging ohne sich umzusehen zum Fenster und öffnete weit beide Flügel. Ich war enttäuscht. Warum machten sie so ein Geheimnis um das Zimmer? An der Wand stand ein Holzbett, daneben ein Kleiderschrank und gegenüber zwei Kommoden. Kein Teppich, keine Vorhänge, Deckchen oder Bilder. Nur gelb gestrichene Wände und ein Fenster zum Hof. Ich wartete, bis die Tante Bettbezüge holen ging, und schaute schnell in die Schubladen. In der untersten blitzten gestärkte weiße Häkeldeckchen aus Packpapier hervor. Sonst nichts, überhaupt nichts.

»Warum war das Zimmer verschlossen?«, fragte ich, aber die Tante hörte mich nicht oder dachte schon wieder an etwas anderes. Ich begann mich daran zu gewöhnen, dass ich mit Tante Hana nicht viel reden konnte.

Ich trug meine Sachen hinüber und füllte damit drei ganze Schubladen. Meinen Lieblingsteddy, dem Ida die Augen ausgebohrt hatte und Tante Ivana sie wieder angenäht hatte, setzte ich aufs Bett. Dann setzte ich mich daneben und sah mich in meinem neuen Heim um. In dieser kurzen Zeit schon das dritte.

Ich hatte ein ganzes Zimmer für mich allein, konnte mich aber überhaupt nicht darüber freuen.

Es dauerte ein paar Tage, bis es mir gelang, Tante Hana zu überreden, mit mir in das alte Haus in der Straße, die zur Kirche führte, zu gehen. Ich wollte mir ein paar Dinge holen, die ich dringend brauchte, wofür aber bei den Horáčeks kein Platz war. Zum Beispiel meine Tasse, die Laufpuppe mit den Klimperaugen und kämmbaren Haaren, die ich letzte Weihnachten bekommen hatte, und fast neue Wasserfarben. Ursprünglich wollte ich auch noch Dagmaras Puppengeschirr holen, mit dem ich nur heimlich spielte, wenn sie nicht zu Hause war, denn sie wollte es mir nicht mehr leihen, seit ich einmal eine Tasse zerbrochen hatte. Aber als ich das Geschirr auf dem Regal in unserem gemeinsamen Zimmer sah, gefiel es mir auf einmal nicht mehr und ich begann ein bisschen zu verstehen, warum Tante Hana Großmutters Zimmer verschlossen hatte und nicht oft hineinging.

In eine große Leinentasche stopfte ich meine ganze Wäsche, Schlafanzüge und Wintersachen und verschloss die Tür des Hauses, das mir zwar gehörte, aber nicht mehr mein Heim war.

Vielleicht hätten wir nicht dahin gehen sollen, weil mir schrecklich schwer ums Herz war, obwohl wir nur ganz kurz in der alten Wohnung über der Uhrmacherei waren. Und obwohl sie die ganze Zeit auf der Treppe gewartete hatte, antwortete die Tante nach der Rückkehr in ihre Küche wieder gar nicht mehr, saß nur da und starrte ins Leere.

Ansonsten bemühte sich Tante Hana aber. Zum Mittag gab es Kartoffeln mit Milch oder Kartoffelpuffer oder Kartoffelkuchen oder was auch immer aus Kartoffeln, Gemüse oder Hülsenfrüchten – außer Erbsen – und ich begriff aus dem Blick der Tante in das abgewetzte Portemonnaie, dass es nicht so sehr an mangelnder Fantasie lag, sondern vielmehr am Geldmangel. Ich aß mittags in der Schulkantine, war also satt, aber Tante Hana begnügte sich mit Kartoffeln und Brot.

Mich quälte, wie wenig ihr an ihr selbst lag.

Ich schämte mich, mit der Tante in dem ausgeleierten schwarzen Pullover und den ausgetretenen Schuhen durch die Stadt zu gehen, und suchte alle möglichen Ausreden. Mir war unangenehm, dass die Leute sich nach uns umdrehten, manche sich sogar angeekelt abwendeten und wieder andere, vor allem Kinder, Beschimpfungen riefen. Ihr war das völlig egal.

»Warum trägst du nur Schwarz?«, griff ich sie an. »Und warum grüßt du nicht wenigstens, wenn du in ein Geschäft kommst? Warum sitzt du hier nur immer so herum?«

Die Tante antwortete nicht. Meine Fragen glitten an ihr ab wie Wassertropfen von Wachstuch und ich hörte irgendwann auf zu fragen.

Die Geldnot spürten wir immer drückender. Die Tante arbeitete nicht. Sie konnte auch nicht. Welcher Beruf hätte zu ihr gepasst? Verkäuferin? Ich stellte mir vor, wie das aussähe, wenn sie auf einmal mitten im Laden stehenbleiben und bewegungslos starren würde. Lehrerin? Wer würde seine Kinder so einer merkwürdigen Frau anvertrauen? Putzfrau oder Köchin? Sie war ja schwach wie eine Fliege.

Unaufhörlich hielt sie sich das Herz, den Rücken oder den Bauch und manchmal atmete sie so schwer, dass ich Angst hatte, sie könnte ersticken. Ich glaube, sie könnte nicht arbeiten, selbst wenn sie nicht so ein bisschen verwirrt wäre. Verwirrt hatte Papa sie genannt, aber Mama war für sie eingetreten. »Sie ist nicht verwirrt«, widersprach sie, »sie ist nur seelisch erschöpft.« Während des Zusammenlebens mit Tante Hana gab ich eher Papa recht.

Tante Hana bekam eine kleine Rente, und nachdem eine Frau aus dem Nationalausschuss mit dem höchsten Dutt, den ich je gesehen hatte, bei uns zur Kontrolle war, bekam sie auch für mich Geld, und es wurde etwas leichter für uns. Ihren Speiseplan besserte die Tante zwar nicht auf, aber sie tat jedes Mal ein paar Banknoten zur Seite, und wenn ich neue Strumpfhosen brauchte oder Buntstifte, war Geld da. An den Tag, an dem die Frau vom Ausschuss kam, erinnere ich mich genau. Damals wohnte ich schon drei Monate bei Tante Hana. Ich hatte mich ganz gut eingewöhnt und hatte Angst, wieder wegziehen zu müssen.

Das Zusammenleben mit Tante Hana hatte seine Vor- und Nachteile. Ihre Küche war nicht sehr vielfältig und viel unterhalten konnte man sich mit der sonderbaren Tante auch nicht. Aber nach einer Weile war es nicht mehr seltsam, dass sie nicht antwortete. Ich setzte mich ihr gegenüber und erzählte ihr alles, was in der Schule passierte, wer was gesagt hatte, was Jarmilka Stejskalová zum Essen dabei hatte – einfach alles, was mir auf die Zunge kam. Die Tante unterbrach mich nie, aber manchmal stand sie auf und ging ins Schlafzimmer.

Ein weiterer Vorteil war, dass sie mir nichts verbot oder vorschrieb. Hätte ich mich entschlossen, nicht zur Schule zu gehen, oder wäre ich barfuß losgegangen – sie hätte es nicht bemerkt. Erstaunlicherweise tat ich das nie.

Die Frau vom Ausschuss setzte sich auf den Stuhlrand, nahm ihre Brille und sah sich in der Küche um. Mit dem, was sie sah, konnte sie zufrieden sein, denn die Tante putzte jeden Tag. Sie erwartete wohl, dass die Tante ihr wenigstens Tee anbot, aber Hana zog sich nur einen Stuhl ihr gegenüber zurecht und schwieg. Die Beamtin legte Papiere vor sich aus und ergriff das Wort.

Sie erklärte Vorschriften, nannte Gesetze, stellte Fragen und beantwortete sie sich selbst, fragte, warum wir keine Waisenrente beantragt hätten, und füllte gleich den Antrag aus und schob ihn der Tante nur zum Unterschreiben hin. Und wir beide schauten sie nur an und ich glaube, dass Tantes begriffsstutziger Blick sich nicht von meinem unterschied, also kam er der Beamtin überhaupt nicht seltsam vor.

Nach einer Viertelstunde Selbstgespräch, von dem ich mir nur merkte, dass ich bei der Tante bleibe und dass jeden 15. die Briefträgerin das Geld bringt, raffte die Frau ihre Papiere zusammen, sprang behände auf und kniff mich in die Wange. »Also gefällt es dir bei der Tante?«

Ich öffnete den Mund für eine Antwort, aber die Beamtin tätschelte meine Wange und antwortete sich selbst: »Natürlich gefällt es dir hier, Kindchen«, und verschwand.

Ich drehte mich zur Tante, um ihr meine Meinung mitzuteilen, aber die erhob sich und ging ins Schlafzimmer, woran ich erkannte, dass sie für heute genug von den Menschen hatte und Ruhe brauchte. Draußen regnete es und so legte ich mir ein Kissen aufs breite Fensterbrett und holte mir aus der untersten Schublade in meinem Zimmer mein Lieblingsbuch über das verwaiste Mädchen Pollyanna. Ich nahm es jedes Mal zur Hand, wenn ich traurig war. Ich mochte es so, dass ich es nicht in die Bücherei zurückbrachte und der Bibliothekarin sagte, ich hätte es verloren. Ursprünglich dachte ich, wenn ich ausreichend zerknirscht tat, würde die Bibliothekarin nicht böse sein. Das war sie auch nicht, sie sagte sogar, dass das eben vorkam, aber ich musste Strafe zahlen. Ich bezahlte es von dem Geld für das Schulessen, und dann lebte ich ein paar Tage nur von Brot, hatte also das Gefühl, für meine Schuld gebüßt zu haben, und hatte keine Gewissensbisse.

Ich setzte mich aufs Kissen, blätterte zu meinem Lieblingskapitel, in dem Pollyanna die Regeln ihres Sei-glücklich-Spiels erklärt, und wünschte mir, dass auch bei mir sich alles zum Guten wenden möge, damit ich wieder nur das Schöne in der Welt sehen konnte und Tante Hana sich in eine liebende Tante verwandelte, wie Pollyannas Tante Polly. Nur war ich ganz allein in der Küche, als ich den Kopf hob, und draußen regnete es immer noch.

Bald erkannte ich, dass die Tage der Tante eine eingespielte Ordnung hatten. Sie stand zur immer gleichen Zeit auf, aß und ging schlafen. Sie kaufte an denselben Tagen an denselben Orten ein, gewaschen werden musste am Samstag und jegliche Abweichung vom gewohnten Rhythmus versetzte sie für lange Zeit in diese seltsame Starre, die ich von ihren Besuchen in unserem Haus kannte. Ihre schweigsam dumpfen Zustände schreckten mich nicht mehr, aber sie ärgerten mich sehr. Konnte sie sich denn nicht beherrschen wie andere Menschen?, sagte ich mir. War sie so feige oder bequem? Genauso wenig verstand ich ihre ständige Müdigkeit. Ich war voller Leben und das Seufzen der Tante störte mich, auch wenn ich mit der Zeit lernte, es zu überhören.

Wenn es ging, verbrachte ich ganze Nachmittage draußen mit Jarmilka Stejskalová. Ich hatte auch andere Freundinnen, aber keine war mir so nah wie die blonde Jarmilka, der ich sogar verzeihen konnte, dass sie so hübsch war. Bei schönem Wetter spielten wir draußen, meistens auf dem Hof der Stejskals. Ich konnte es einfach einrichten, weil es Tante Hana völlig egal war, wo ich war, und ich bezweifelte, dass sie bemerkt hätte, wäre ich gar nicht heimgekommen.

Bei kaltem Wetter waren wir zu Hause bei den Stejskals, aber mit der Zeit bemerkte ich, dass Jarmilkas Mama mich nicht gern sah. Früher sprach sie mit mir, bot mir etwas zu essen an, fragte nach Mama und ließ Papa grüßen, aber seit ich bei meiner Tante wohnte, fragte sie mich nichts und bot mir nicht einmal Sirupwasser an. Dann lud mich Jarmilka gar nicht mehr ein. Ich machte mir Gedanken, hatte aber Angst zu fragen, um nichts Unangenehmes zu hören zu bekommen, aber zum Schluss hielt ich es doch nicht aus. Es regnete, wir konnten nicht draußen sein, und so unterhielten wir uns eine Weile im Trockenen unter den Laubengängen, und amüsierten uns mit dem Zählen von Regenschirmen.

»Jarmilka«, begann ich, »warum lädst du mich nicht mehr zu euch nach Hause ein?«

Jarmilka wurde unübersehbar rot. »Was wollen wir da?«

»Wir könnten da spielen, wenn es regnet.«

»Und warum gehen wir nicht zu euch?«, wand sich Jarmilka heraus. Sie wusste sehr gut, dass wir nicht zu uns konnten.

»Du meinst zu Tante Hana? Du weißt doch, dass sie Angst hat vor Besuchen.«

»Ja eben.«

Überrascht sah ich meine beste Freundin an.

»Wie meinst du das?«

»Deine Tante ist verrückt.«

»Ist sie nicht, sie ist nur seelisch erschöpft.« In diesem Moment passte mir Mamas gemilderter Ausdruck.

Jarmilka zögerte, aber dann sagte sie: »Mama sagt, dass deine Tante verrückt ist und dass wir uns nicht mit solchen Leuten zeigen sollten.«

Als ob sie einen Eimer Eiswasser über mich gegossen hätte. »Aber du bist doch mit mir befreundet, nicht mit Tante Hana. Was hat das mit mir zu tun?«, fuhr ich auf.

Jarmilka weinte fast. »Ich denke das ja nicht, wirklich nicht, aber Mama hat gesagt, dass man das schon sehen kann an dir. Dass du neben der Tante verwahrlost und sie nicht wünscht, dass du meine beste Freundin bist. Und außerdem sollst du Jude sein.«

»Also das bin ich nicht«, wehrte ich mich. Ich konnte kein Jude sein, wenn ich nicht einmal wusste, was das hieß.

Jarmilka nahm meine Hand. »Mich stört das nicht, wirklich nicht. Du wirst immer meine beste Freundin bleiben – für ewig.« Sie wischte sich die Nase am Ärmel ab und ich sagte mir, dass ich wohl wirklich einen schlechten Einfluss hatte, denn früher hätte sie ordentlich ins Taschentuch geschnaubt.

Obwohl es regnete, begleitete Jarmilka mich bis vor die Haustür und versprach, am nächsten Tag nach der Schule ganz bestimmt mit mir rauszugehen. Ich ging die Treppe hinauf und wälzte das seltsame Wort auf der Zunge herum.

Tante Hana saß am Tisch in der mustergültig aufgeräumten Küche. Obwohl sie mich hören musste, schaute sie mich nicht an. Ich nahm den Ranzen vom Rücken, blieb in der Tür stehen und schaute zu, wie sie konzentriert die Kartoffeln schälte. Das Tuch hatte sie sehr locker gebunden, sodass es verrutscht war und die Haare freilagen. Sie waren ganz weiß, aber genauso dicht wie meine. Entweder hatte ich mich an sie gewöhnt, oder sie hatte in der letzten Zeit zugenommen. Mir schien, dass ihre Wangen nicht mehr so eingefallen waren und das Kinn nicht mehr so spitz wie früher. Wenn sie alle Zähne hätte, müsste sie nicht so trostlos aussehen, fiel mir ein. Aber ihr war das wohl nicht wichtig.

Ich schlurfte näher und setzte mich zu ihr. »Tante?«

Es dauerte eine Weile, bis sie sich zu mir drehte.

»Was heißt das, Jude sein?«

Sie schaute mich schweigend an, legte dann das Messer ab, schob den Ärmel hoch und zeigte eine lange, in den Unterarm tätowierte Nummer.

Dann stand sie auf, wusch sich nicht einmal die von den Kartoffeln schmutzigen Hände und ging wieder in ihr Zimmer.

Also konnte ich am nächsten Tag Jarmilka ruhigen Gewissens sagen, dass ich kein Jude war, weil auf meinem Unterarm keine Nummer geschrieben stand.

Nur lösten sich damit unsere Schwierigkeiten nicht. Immer noch war ich bei den Stejskals nicht willkommen, zur Tante konnten wir nicht und draußen regnete es. Wir standen an derselben Stelle wie am Vortag unter den Laubengängen und ich bekam schon Angst, dass mich ein weiterer einsamer Nachmittag erwartete. Ich hob den Blick, aber der niedrig über den Dächern hängende Himmel war grau und traurig wie meine Zukunftsaussichten.

Und in dem Moment kam mir die Idee. Ich hatte doch ein ganzes Haus. Seit dem Tod meiner Familie war mehr als ein Jahr vergangen, aber das Haus der Eltern stand immer noch leer. Der Laden im Erdgeschoss war verlassen, weil die Stadt passendere Räume für einen neuen Betrieb gefunden hatte, und der kleine Raum, in dem Papa Hunderte Uhrwerke repariert und gesäubert hatte, war dunkel und taugte für niemanden. Der Rest des Hauses gehörte immer noch mir. Als die Frau vom Ausschuss bei uns war, sagte sie, ich könnte das Haus verkaufen, die Stadt würde es kaufen, aber dann fügte sie irgendwie verlegen hinzu, dass das natürlich unsere Sache wäre, aber sie würde es nicht empfehlen. »Nicht, dass ich denken würde, dass die Währung wie im vergangenen Jahr …«, sagte sie, und das war ein einziges Mal, dass sie kurz schwieg. »Naja, entscheiden Sie selbst.«

Das Haus verkauften wir natürlich nicht, aber ganz sicher war das nicht wegen der Dutt-Frau vom Amt, sondern eher wegen der Unfähigkeit der Tante, etwas zu erledigen.

Ich war also Besitzerin des Hauses in der Straße bei der Kirche und wusste ziemlich sicher, wo der Schlüssel lag. »Warte hier«, sagte ich zu Jarmilka und lief nach Hause. »Ich bin gleich zurück«, rief ich über die Schulter.

Ich lief die Treppe hoch, warf den Ranzen in Großmutter Elsas ehemaligem Zimmer auf den Boden und schaute in die Küche. Die Tante war nicht dort. Wahrscheinlich starrte sie gerade in ihrem Zimmer an die Wand oder lag mit einer ihrer mir unverständlichen Krankheiten im Bett. Ich schob mir einen Stuhl zur Anrichte, griff nach oben und ertastete den Schlüssel. Mir war völlig klar, dass die Tante nicht in der Lage war, ein neues Versteck auszudenken.

Ich sprang hinunter, räumte den Stuhl wieder weg – damit es die Tante nicht aufregte, dass etwas anders war als gewohnt –, zog mir wieder die Gummischuhe über und rannte zu Jarmilka zurück. Auf dem Weg die Treppe hinunter wurde ich langsamer. Ich erinnerte mich an die seltsamen, beunruhigenden Laute vom Dachboden unseres alten Hauses und das beklemmende Gefühl, das ich nicht loswerden konnte, als wir die Sachen zur Tante holen wollten. Vor der Beklemmung und der Verzweiflung hatte ich mehr Angst als vor den raschelnden Schritten auf dem Speicher.

Dann sagte ich mir, dass ich schon zehn war, also kein kleines Kind mehr, und zudem wären Jarmilka und ich zwei gegen die Angst. Und außerdem hoffte ich ein bisschen, dass meine vernünftige Freundin nicht einverstanden wäre.

Aber Jarmilka war regelrecht begeistert und so zogen wir die Kapuzen der grünen Regencapes über den Kopf und wateten durch die Pfützen zu meinem alten Haus.

Der Schlüssel drehte sich so leicht im Schloss, wie ich es gewohnt war, das Licht im Treppenhaus ging an, aber die Luft war kalt und modrig feucht. Wir schauten in die Wohnung, gingen aber nicht weiter. Die Stühle waren hochgestellt, als ob die Hausfrau gerade den Boden gewischt hätte, die Fenster waren ohne Gardinen und Vorhänge. Das Haus sah genauso aus, wie es der Desinfektionstrupp hinterlassen hatte. »Pfui, das stinkt aber hier«, sagte Jarmilka. »Wollen wir nicht lieber auf den Speicher gehen? Du hast gesagt, dass man von da die ganze Stadt sehen kann.«

Ja, das habe ich gesagt, aber in Wahrheit war es nur ausgedacht, dass man die ganze Stadt von da oben sehen kann, denn ich war nie auf dem Dachboden. Mama sagte, ich würde mich schmutzig machen, weil da überall viel Staub war, und dass ich mir etwas tun könnte, weil es dunkel war, oder dass ich sogar aus dem Fenster fallen könnte, weil ich unvorsichtig war. Aber die Wahrheit war, dass auch sie nicht auf den Speicher ging. Sie behauptete, Höhen nicht zu mögen.

Jarmilka und ich gingen die Treppe in den zweiten Stock hoch, kamen am Zimmer vorbei, das ich mir mit meiner jüngeren Schwester geteilt hatte, die schon … Schnell zwang ich mich, an etwas anderes zu denken.

Zum Dachboden führte eine enge, steile Treppe. »Kletter du zuerst«, forderte mich Jarmilka auf. »Du bist geschickter.«

Da war ich mir nicht so sicher, aber ich begann zum Deckel hochzuklettern, der den Zugang zum Boden versperrte. Vielleicht war abgeschlossen, hoffte ich. Oder ich bekam ihn nicht hoch.

Der Holzdeckel ließ sich aber sehr leicht öffnen. Ich schaute hinein und vergaß meine Angst. Obwohl es draußen regnete, war es auf dem Dachboden hell. Dafür sorgten Giebelfenster und zwei Oberlichter. Meiner Meinung nach war Mama nie auf dem Boden, weil sie sonst gewusst hätte, dass die Fenster so hoch lagen, dass man einfach nicht aus ihnen herausfallen konnte.

Ich kletterte hoch und Jarmilka kam mir nach. Unsere Schritte wirbelten den Staub von den Bohlen auf. »Hier stinkt es nicht so«, sagte sie und sie hatte recht. Einige Dachziegel waren lose und schlossen nicht dicht, sodass frische Luft hereinkam. Der Speicher roch alt, aber von dem modrigen Geruch aus der Wohnung war kein bisschen zu spüren.

An den schrägen Wänden standen alte Kommoden, schwere Holztruhen, ein Nachttisch mit ausgebrochener Tür und Stühle, die so gestapelt waren, dass sie so wenig wie möglich Platz wegnahmen. In der Mitte des Speichers, wo das Dach am höchsten war, standen quer zwei hohe Kleiderschränke. Unter dem Giebelfenster in Richtung Stadt stand ein Holzbett mit durchgelegenem Drahtgestell. Darauf lagen drei graue Rosshaarmatratzen und auf Schnüren, die zwischen den Balken gespannt waren, hingen Federbetten und dicke Kissen in gestreiften Bezügen zum Lüften.

Ich öffnete den größten Schrank. Der war vollgestopft mit Mänteln, aussortierter Kleidung und Hüten und auf dem Schrankboden und im oberen Fach lagen unordentlich übereinander getürmte Schachteln. Der Inhalt des nächsten Schrankes sah ähnlich aus, nur dass hier anstelle der Hüte Pelzmützen und Muffe von oben auf mich herunterfielen. Mit vereinten Kräften hoben Jarmilka und ich den schweren Truhendeckel an und fanden dort einen echten Schatz. Die Truhe war voller Bücher und Zeitschriften. Eine Weile gruben wir uns durch die entdeckten Bücher, blätterten in vergilbten Zeitschriften, und während ich unter den schweren gebundenen Bänden dünne Romanhefte über die Abenteuer des Affenmenschen Tarzan heraussuchte, über die Mammutjäger jubilierte und alle Teile der beliebten Serie über die Schwestern Gabra und Málinka aufhäufte, probierte Jarmilka vor dem Spiegel an der Innenseite des Schranks Hüte auf.

Dann schoben wir einen Stuhl unters Fenster, aus dem man einen Ausblick auf die Unterstadt hatte. Es regnete und wir schauten auf den leicht angestiegenen Fluss unter uns. Wir sahen das dicht mit Büschen bewachsene rechte Ufer und die Uferstraße, die sich dort entlang zog, niedrige Häuser im Hintergrund, das Sägewerk mit dem hohen Ziegelschornstein, die Gleise, die vom Bahnhof fortführten, die großen Bäume im Stadtpark und die bewaldeten Hügel in der Ferne hinter der Stadt.

Wir standen da und beobachteten die Gestalten, die unter Schirmen oder Regencapes versteckt waren, wie sie an diesem Spätnachmittag nach Hause eilten.

Damals hatte ich keine Ahnung, dass meine Mama vor dreizehn Jahren an derselben Stelle stand und versuchte, die dunklen Gestalten auszumachen, die durch die Stadt gingen. Und ihr Ausblick war nicht von Regentropfen verschleiert, sondern von Tränen.

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