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VIERTES KAPITEL

März–Mai 1954

Auch wenn ich dachte, ich könne nicht noch mehr Kummer und Hilflosigkeit erleben, als mir das Schicksal durch Mamas Tod auferlegte, hatte ich mich geirrt. Innerhalb einer Woche starben Dagmara, dann Otík und zuletzt auch Papa. Ich war noch nicht ganz neun Jahre alt und war ganz allein. Mein Leben blieb genauso stehen wie die Uhren, die in Papas Geschäft an der Wand hingen. Ich war wehmütig, hatte Angst vor der Zukunft und fühlte mich unendlich einsam.

Tante Ivana brachte mich aus dem Kämmerchen ins Zimmer ihrer Kinder. Sie legte mich ins Bett des älteren Sohnes Gustav, saß am Kopfende und hielt meine Hand so lange, bis ich einschlief. Sie war morgens da, wenn ich aufwachte, wischte mir die Tränen ab, die ich nicht aufhalten konnte, sprach zu mir, wann immer sie das Gefühl hatte, dass ich der Verzweiflung nachgebe.

Am schlimmsten war es morgens. Im Schlaf verschwand die Gegenwart und im Traum kehrte ich in das Haus zurück, in dem ich geboren wurde. Mama stand wieder am Küchentisch, backte Kuchen nach dem Rezept von Großmutter Karásková, weil Papa den am liebsten mochte, oder saß auf dem Sofa und las eines ihrer geliebten Romanhefte »Abende im Lampenlicht«. Die legte sie immer in die Schuhschachtel auf dem Schrank im Schlafzimmer und Papa musste sie herunterreichen, weil sie dort nicht herankam. Otík baute einen Turm aus bunten Holzklötzen und Dagmarka und ich machten Hausaufgaben.

Der Traum endete jedes Mal gleich. Die Tür ging auf, Papa kam herein und ich sagte: »Auf dem Platz haben sie gemeldet, dass ihr gestorben seid.« Und sie schauten mich an und lachten. »Das hast du nur geträumt, du siehst doch, dass wir hier sind«, und ich war glücklich. Nur wachte ich dann auf und es war, als ob sie noch einmal stürben. Jeden Morgen erlebte ich den Kummer wieder und wieder, und schließlich hatte ich abends Angst, schlafen zu gehen, um meine Familie nicht wieder zu verlieren.

Die Horáčeks waren sehr freundlich zu mir. Tante Ivanas Mann Jarek sagte sogar, ich könne bei ihnen bleiben, solange es nötig war, aber das machte mich noch wehmütiger, denn ich wollte nach Hause gehen. In mein altes Leben zurückkehren.

Die Typhusepidemie ließ langsam nach. Die Hygienemaßnahmen waren nicht mehr so streng, die ersten Auskurierten kehrten aus den Krankenhäusern zurück, Herr Horáček – eigentlich zu der Zeit schon Onkel Jarek – konnte wieder zur Arbeit gehen, Tante Ivana ging wieder zum Kochen in die Schulküche und ich in die Schule.

In der Klasse war alles genauso, und doch anders. Ich setzte mich in meine Bank neben Jarmilka Stejskalová, schaute auf die Tafel, aber ich sah nicht, was dort geschrieben stand, ich schrieb Zahlen in mein Heft, begriff aber nicht, was sie bedeuteten. Ich fühlte die mitleidigen Blicke der Mitschüler auf mir und hasste sie, weil sie nach dem Unterricht nach Hause gehen konnten, zu ihren Mamas, Papas und Geschwistern, aber ich kein Zuhause mehr hatte. Nicht einmal Jarmilka wusste, was sie sagen sollte, und so bot sie mir in der großen Pause wenigstens an, dass ich von ihrem Brot kosten sollte. Ich schüttelte nur den Kopf und schaute weiter vor mich hin.

Während der nächsten Tage kehrte das Leben der meisten Einwohner der Stadt wieder in die alten Bahnen zurück und die Kranken und Toten wurden nur mehr zu Zahlen in den Statistiken der Hygienestation. Insgesamt waren fast 500 Menschen erkrankt und mehr als zwanzig von ihnen waren gestorben.

Von Tante Hana hatte ich keine Nachrichten und ich forschte auch nicht nach. Mamas Schwester Hana Helerová war ein fremder Mensch für mich. Weiter entfernt als Tante Ivana, bei der ich zwar erst ein paar Wochen wohnte, aber sie brachte mir in der Zeit mehr Gefühl entgegen als Tante Hana im ganzen Leben.

Ich wusste nicht einmal, ob Hana lebte. Ich verstand, dass »Zustand sehr kritisch« eine Vorstufe des Todes war. Ohne darüber extra nachzudenken, nahm ich an, dass sie genauso aus meinem Leben gegangen war wie die Eltern und Geschwister, und die Horáčeks das verschwiegen, um meine Einsamkeit nicht noch zu verstärken.

Tante Ivana dachte sich, man müsse mich irgendwie beschäftigen, damit ich keine Zeit zum Nachdenken hatte, und versuchte mich am häuslichen Leben zu beteiligen. Es schien zu wirken. Ich fühlte zwar immer die Trauer, aber Angst und Schrecken, die mich in den ersten Tagen nach der Beerdigung kaum atmen ließen, verloren sich langsam. Ich begann mich an den Gedanken zu gewöhnen, dass ich bei den Horáčeks blieb.

Nach einiger Zeit beschlossen die Horáčeks, dass die Gefahr vorbei und es an der Zeit war, dass ihre Kinder wieder von den Großeltern zurück nach Hause zogen. Tante Ivana machte sich freudig an die Vorbereitungen und bezog mich in das Bettenbeziehen und die große Wäsche ein.

»In ein paar Tagen kommen Ida und Gustav von der Oma zurück, dann wirst du Freunde haben«, versprach sie mir beim Einsprengen der Bett- und Kissenbezüge. Wir machten die Finger in Wassertöpfchen nass und schüttelten dann die Tropfen so gleichmäßig wie möglich auf die gestärkte Wäsche. Die Tante konnte das, aber bei mir bildeten sich nur große Pfützen.

»Iduška wollte immer ein Schwesterchen, sie wird sich freuen, dass sie jemandem zum Spielen hat. Und Gustík ist ein feiner Junge. Du wirst sehen, ihr werdet euch verstehen.« Sie lachte zufrieden und reichte mir eine Seite des besprengten Lakens, damit ich half, es vor dem Mangeln auseinanderzuziehen. Wir packten die Ecken und zogen daran. »Sie werden dich so mögen, als ob du eine von uns wärst«, lächelte Tante Ivana und griff nach dem nächsten Wäschestück.

Nun ja, da hatte sie sich ordentlich getäuscht.

Ich kannte weder Ida noch Gustav, weil die Horáčeks am Stadtrand wohnten, wo kleine zweistöckige Villen mit schönen Gärten und hochgewachsenen Obstbäumen standen. Mama war bei schönem Wetter oft mit uns hierher spaziert und sagte immer, sie würde gern später in so einem Häuschen mit Garten wohnen. Manchmal blieb sie stehen und schaute eins der Häuschen aufmerksam an, als ob sie wirklich plante, es zu kaufen, und sagte: »Hier würde ich ein Gewächshaus hinstellen.« Oder: »Die Bäume müssten beschnitten werden.«

Dagmarka und ich liefen voraus, damit wir den Pflichtspaziergang bald hinter uns brachten und uns angenehmeren Dingen widmen konnten, und Papa – wenn er beim Familienspaziergang dabei war – stützte sich auf den Kinderwagen, in dem Otík saß, und sagte: »Aber Rosi, wir wohnen doch auch sehr schön.« Und Mama antwortete jedes Mal. »Das ja, aber so ein Gärtchen, das hätte ich später gern.«

Den Horáčeks gehörte das Haus nicht, die Wohnung im ersten Stock hatten sie von der Armee zugeteilt bekommen, weil Onkel Jarek Berufssoldat war und in der hiesigen Kaserne diente.

Das Häuschen sah von weitem wie ein Dampfer aus, den eine große Welle ans Ufer geworfen hatte. Auf einer Seite war es ganz gewöhnlich eckig, aber auf der anderen war eine Ecke abgerundet, als ob der Baumeister ursprünglich ein Türmchen erschaffen wollte, es sich dann aber anders überlegte. Das Dach war flach und die Wände waren weiß verputzt. Von der Straße aus gesehen strahlten sie, bei näherer Betrachtung war zu erkennen, dass der Putz schon schmutzig war, grau und stellenweise locker wurde. Die Fenster bestanden aus quadratischen Glasscheiben und sahen wie vergittert aus. Aus dem Erdgeschoss führte eine große Glastür in den Garten. Niemand ging je da hinaus und von innen war sie mit undurchsichtigen Vorhängen verdeckt, sodass sie traurig überflüssig wirkte.

Unten wohnte ein merkwürdiges altes Ehepaar. Der Mann ging kaum vor die Tür, weil er nicht mehr vom Sessel hochkam, und seine Frau ging nur zum Einkaufen und am Sonntag in die Kirche. Mir kreiste im Kopf herum, warum sie dorthin ging, wenn sie doch ganz taub war, und deshalb fragte ich Tante Ivana danach.

»Wie kommst du darauf, dass Frau Prášilová nichts hört?«

»Sie hat noch nie auf meinen Gruß geantwortet. Und auf Ihren auch nicht.«

»Aber nicht, weil sie taub wäre. Sie mag uns nicht, deshalb spricht sie nicht mit uns.«

»Warum mag sie uns nicht?«

An Tante Ivanas Gesichtsausdruck erkannte ich, dass sie keine große Lust hatte zu antworten, aber schließlich sagte sie: »Dieses Haus gehörte den Prášils, und nach dem Umbruch ließ man ihnen nur das Erdgeschoss. Den ersten Stock beschlagnahmte die Armee und teilte ihn uns zu. Und die Prášils wollen nicht begreifen, dass wir nichts dafürkönnen. Dass, wenn wir nicht hier wohnen, jemand anderes hier wohnt.«

Das gefiel mir an Tante Ivana – sie antwortete auf meine Fragen. Wenn ich Mama etwas fragte – zum Beispiel nach Großmutter und Großvater oder ob Tante Hana schon immer so komisch war – speiste sie mich ab: »Wer viel fragt, wird schnell alt.« Oder mit irgendeiner anderen erwachsenen Weisheit, und so fragte ich lieber nichts.

Unter anderen Umständen hätte ich das Entgegenkommen der Tante ausgenutzt und sie ordentlich ausgefragt, aber bei der Erinnerung an meine Mama verflüchtigten sich die Fragen aus meinem Kopf.

Obwohl Ida nur zwei Monate jünger als ich war, war sie gut einen halben Kopf kleiner. Auf den ersten Blick sah sie wie eine Porzellanpuppe aus. Sie hatte fast durchsichtige Haut, ein hübsch geschürztes Mündchen und die Haare waren zu zwei schicken Zöpfen geflochten. Sie ging leise, sah so ordentlich und perfekt aus und mir war gleich klar, dass wir beide uns nicht verstehen würden, selbst wenn der Blick aus ihren blauen Augen, genauso blauen Augen wie sie Tante Ivana hatte, nicht so eisig wäre.

»Also das ist Mira«, sagte Onkel Jarek, nachdem sie sich stürmisch im Flur begrüßt und Ida und Gustav ihre Koffer abgestellt hatten und dem Duft der Hefebuchteln folgend in die Küche gestürzt waren. »Ich habe euch von ihr erzählt«, fügte er hinzu, als sie stehenblieben und mich schweigend anstarrten.

»Ahoj«, sagte ich, stand vom Tisch auf und stellte mich neben Tante Ivana.

»Das ist mein Stuhl«, sagte Ida. »Auf diesem Platz sitze immer ich.«

»Ida«, ermahnte sie Tante Ivana. »Das ist doch egal, wer wo sitzt.«

»Siehst du«, wandte sich Ida an Gustav, »was habe ich dir gesagt.«

Gustav sah mich völlig desinteressiert an und drehte sich zu Tante Ivana um: »Kann ich mir eine Buchtel nehmen? Sind sie mit Mohn oder mit Powidl?«

Er stopfte sich eine Buchtel nach der anderen rein und ich fragte mich, wo sie hingingen, denn er war so dünn, dass die Kleidung an ihm wie an einem Kleiderbügel hing. Ich stand neben Tante Ivana, hielt mich an ihrer Hand fest, als wäre sie meine Rettungsleine, schaute diesen gleichgültigen, kurzhaarigen Viertklässler und die feindselige Porzellanpuppe an und fühlte, dass meine Welt sich schon wieder in die falsche Richtung drehte.

»Gustík«, sagte Tante Ivana. »Wir haben eine Überraschung für dich. Mira und ich haben das Kämmerchen ausgeräumt und dir ein schönes Zimmer daraus gemacht – nur für dich. Und Mira wird mit Iduška in einem Zimmer sein.«

»Siehst du«, sagte Ida wieder. »Ich habe dir gesagt, dass du im Kämmerchen landest.«

Tante Ivana seufzte und löste unauffällig ihre Hand aus meiner.

Die Horáčeks schlugen vor, ich solle in dieselbe Schule wie ihre Kinder gehen. Ich wollte nicht und die Tante sah ein, dass ich in der letzten Zeit – wie sie sagte – schon ziemlich viele Veränderungen erlebt hatte. »Wenn du möchtest, kannst du ab September in die neue Schule gehen«, versprach sie, aber bei der Vorstellung, dass ich in einer Klasse mit der Porzellan-Ida wäre, beschloss ich, mich lieber ans andere Ende der Stadt zu schleppen.

Ida mochte mich nicht und bemühte sich nicht einmal, das zu verbergen. Sie sprach nicht mit mir, und wenn mich Gustav zufällig ansprach, der sonst den Eindruck machte, als bemerke er mich nicht, war sie auf ihn böse. Unablässig flüsterte sie ihm etwas zu, und wenn ich auf Hörweite herankam, verstummte sie, und beide betrachteten mich misstrauisch.

Tante Ivana kam jeden Abend zum Lesen zu uns, nur saß sie nicht mehr an meinem Kopfende, sondern auf einem Stuhl mitten im Zimmer. Am ersten Abend setzte sie sich zu mir und Ida heulte los.

»Du hast uns nicht mehr lieb, Mama, du hast uns vergessen. Jetzt hast du dieses Mädchen lieber.«

»Iduška«, sagte Tante Ivana, »das stimmt doch nicht. Ich hab euch lieb.«

»Und warum hast du sie dann hierhergebracht?«

»Mira hat niemanden mehr«, sagte die Tante vorsichtig.

»Warum muss sie dann gerade bei uns sein, warum? Sag, dass du mich lieber hast als sie, sag es.«

Ich sah, dass Tante Ivana verwirrt war. Sie wusste überhaupt nicht, was sie antworten sollte. Und ich sah auch, wie Idas Augen boshaft blitzten, als die Tante aufstand und sagte: »Dann setze ich mich in die Mitte.«

Seitdem gab sie gut acht, dass sie mich bei nichts bevorzugte, sie strich über meinen Kopf nur, wenn niemand es sah, und redete mit mir nicht mehr so viel wie früher. Aber als Ida einmal losheulte, als die Tante meine Hausaufgabe vor ihrer kontrollierte, schrie sie: »Hör auf damit. Du benimmst dich wie ein verwöhntes Balg. Mira lebt bei uns, finde dich damit ab.«

Ida hatte aber nicht die Absicht, sich damit abzufinden.

»Papa sagt, dass wir sie nicht aufnehmen mussten, dass du sie den Behörden hättest bringen können. Er sagt, die hätten sie ins Heim gebracht. Mami, Mami, gib sie ins Heim.« Sie heulte laut los, und als Tante Ivana sie an der Hand nahm, sie aus dem Zimmer zog und die Tür hinter ihren Schluchzern zuschlug, sah ich, dass sie Tränen in den Augen hatte, und mir schien, dass sie wohl auch einen Augenblick daran dachte, dass es vielleicht für alle das Beste wäre.

Am anderen Tag hatte ich völlig zerkrümeltes Schulbrot im Ranzen und am Tag darauf verschüttete Milch. Dann konnte ich den Beutel mit den Wechselschuhen nicht finden und saß den ganzen Vormittag barfuß in der Schule. Der Beutel tauchte nie wieder auf.

An den Pullovern hatte ich abgerissene Knöpfe und als ich mich morgens zur Schule anzog, fand ich ein aufgeschnittenes Loch in der Strumpfhose. Da war auch Tante Ivana klar, dass es keine Zufälle sein konnten, und nahm sich Ida wieder ordentlich vor. Ida leugnete natürlich, aber es nützte nichts. Diesmal trug es ihr Prügel ein.

Ich ahnte, dass diese Entwicklung unserer Freundschaft nicht förderlich war, aber zu dieser Zeit konnte ich Ida ehrlich nicht mehr ertragen, wünschte ihr schadenfroh ein paar auf den Hintern und versagte mir auch ein Siegergrinsen nicht. Dann schaute ich Gustav an und bemerkte, dass er mich argwöhnisch betrachtete.

»Siehst du«, sagte Ida zu ihm und floh beleidigt und mit Tränen in den Augen ins Kinderzimmer.

Am Abend kroch ich unters Federbett und fühlte selbst durch das Leinennachthemd, wie sich bei jeder Bewegung etwas in meine Haut bohrte. Ich warf die Decke ab und stellte fest, dass alles voller Krümel war. Ida wollte offensichtlich nicht aufgeben, aber ich hatte von den Kämpfen genug und so stand ich nur auf und fing wortlos an, die Krümel in die Handfläche zu sammeln. In diesem Moment kam Tante Ivana. »Was machst du denn da?«

Ich schwieg.

»Das ist ein schreckliches Ferkel, sie hat ins Bett gekrümelt«, sagte Ida.

»Ich war das nicht«, sagte ich.

»Und dazu lügt sie immer«, fügte Ida an.

Die Tante sagte dazu nichts, seufzte nur tief, drehte sich in der Tür um und ging. An diesem Abend las sie kein Märchen vor. Ich rollte mich auf die Seite, das Gesicht zur Wand, und wünschte mir zu sterben und bei Mama zu sein. Tante Ivana behauptete zwar, meine Familie sei im Himmel, aber das war schwer zu glauben. Mama sagte immer, es gäbe keinen Himmel, dass die Leute sich ihn nur ausgedacht haben. Ich wünschte mir sehr, dass es einen Himmel gäbe, weil ich mir nicht vorstellen konnte, dass ein Mensch stirbt, ganz verschwindet und gar nichts von ihm bleibt.

In der Nacht weckte mich ein Schatten, der mir über die Lider strich. Ich öffnete die Augen und schaute ins Dunkel. An meinem Bett standen zwei Gestalten. Ich erkannte sie sofort. Porzellanpuppe Ida hielt ein Kissen in der Hand, steckte es Gustav zu und flüsterte: »Mach du das, du hast mehr Kraft.«

»Was soll er machen?«, fragte ich schläfrig und die Schatten verschwanden. Das erschreckte mich. Ich schaltete die Nachtlampe an und schaute mich im Zimmer um. Ida lag im Bett, und obwohl ihre Augen fest geschlossen waren, sah ich, dass sie nicht schlief. Die Kinderzimmertür stand leicht offen und im Gang war es dunkel. Ich löschte das Licht, aber der Schreck hatte mich so wach gemacht, dass ich nicht mehr einschlief, ich sah ins Leere und konnte kaum den Morgen erwarten.

Wieder hatte sich das Böse in meine Nähe geschlichen, aber diesmal versteckte es sich nicht im Untergrund und wartete auf ein zufälliges Opfer, diesmal versteckte es sich hinter einem netten Gesichtchen und streckte die Hände direkt nach mir aus.

Der Frühling wollte in diesem Jahr einfach nicht kommen. Es war schon Ende Mai, aber das Wetter war grau und trübe, als trauerte es um die, die der Typhusepidemie zum Opfer gefallen waren. Ich verbrachte viel Zeit allein, weil meine Schulfreundinnen weit weg wohnten, Tante Ivana nach der Arbeit in der Schulküche müde war und Ida und Gustav mir aus dem Weg gingen. Immer häufiger sah ich sie die Köpfe zusammenstecken und flüstern. Gustav hob manchmal den Kopf, sah mich forschend an, senkte den Kopf wieder und antwortete leise etwas.

Einmal saßen sie im Garten auf der Bank, steckten verschwörerisch die Köpfe zusammen und bemerkten nicht, dass das Fenster im Erdgeschoss leicht offen stand. Und seitdem war ich mir ganz sicher, dass Frau Prášilová nicht taub war – im Gegenteil, sie hörte wie ein Luchs. Und das, was sie hörte, entrüstete sie entweder so, dass sie ihren Hass gegenüber den Horáčeks überwand, oder bestätigte sie darin, dass die Horáčeks Gesindel waren, denn sie war nicht faul, sondern stieg auf ihren alten Beinen die Treppe hoch und teilte Tante Ivana und Onkel Jarek den Gesprächsinhalt mit.

»Sie wollte von ihm, dass er die Kleine die Treppe hinunterwirft«, vermeldete sie. »Sie erklärte ihm, sie sei ein Kuckuck. Wirft die Vögelchen aus dem eigenen Nest und besetzt es ganz für sich.« Sie schüttelte den Kopf. »Was sind Sie für Menschen, dass Sie solche Ganoven erzogen haben. Da muss man ja im eigenen Hause Angst haben.« Sie drehte sich um, hielt sich am Geländer fest, ging vorsichtig hinunter und wiederholte auf jeder Stufe halblaut: »Ganoven. Ganoven.«

Tante Ivana weinte und Onkel Jarek schrie sie an: »Das ist deine Schuld. Wegen deiner Menschenfreundlichkeit werden noch Mörder aus unseren Kindern. Was tust du ihnen an? Kannst du den eigenen Kindern keine schöne Kindheit gönnen?«

Die Tante schluchzte lauter, lief an mir vorbei ins Schlafzimmer und schlug die Tür hinter sich zu. Onkel Jarek schaute mich nicht an, nahm die Mütze vom Haken und ging fort.

Ich blieb im Flur stehen und hörte die lauten Schluchzer, die aus dem Schlafzimmer zu mir drangen. Ich hatte schreckliche Angst, denn ich wusste, dass ich nicht bei den Horáčeks bleiben konnte. Ich hatte Angst, dass sie mich in den Nationalausschuss bringen, damit ich ins Heim komme. Und im Heim würde es mehr solcher Idas geben.

Ich rollte mich auf dem Bett zusammen, weinte ein bisschen und bat im Stillen Mama, sie solle mich nicht allein lassen, soll mich abholen kommen. Ich war wohl ein bisschen eingeschlafen, weil mich die Klingel weckte und ich aus dem Flur Mamas Stimme hörte. »Ich komme Mira holen.«

Ich sprang auf und lief zur Tür. Als Tante Ivana ein Stück zur Seite trat, sah ich eine dürre Gestalt in einem großen schwarzen Pullover.

Tante Hana war zurückgekehrt.

FÜNFTES KAPITEL

Februar–Mai 1954

Eine Woche nach der Geburtstagsfeier ihrer Schwester Rosa stand meine Tante Hana Helerová um sieben Uhr auf, zog sich an, kochte sich einen Topf weißen Kaffee und aß eine Scheibe Brot. Nach dem Frühstück saß sie eine Weile unbeweglich da, die Augen ins Leere gerichtet, dann zuckte sie zusammen, kehrte mit den Gedanken in die Gegenwart zurück, schnitt eine dünne Scheibe vom harten Brot der letzten Woche ab und steckte sie in die Tasche im warmen schwarzen Pullover.

Sie wusch ordentlich das Geschirr ab, wischte den Tisch ab, fegte auf und schaute sich in der Küche um, ob alles war, wie es sein sollte. Dann ging sie ins Schlafzimmer, um das Fenster zu schließen und das gelüftete Bett zu machen. Sie klopfte das Kissen auf und dachte dabei an ihre Mutter, meine Oma Elsa, die zu sagen pflegte, dass das Bett erst auskühlen muss und nicht gemacht werden darf, solange es warm ist.

Mit der Hand strich sie über das weiße Federbett und fühlte, wie die Erde unter ihr schwankte. Sie atmete tief ein, richtete sich auf und ging in die Speisekammer, um den Leinenbeutel zu holen. Es war Montag, und montags ging sie in der Bäckerei im Nachbarhaus frisches Brot kaufen und ein paar notwendige Dinge im Laden unterhalb des Platzes.

Sie ging nirgendwo anders hin. Menschen mochte sie nicht und traute ihnen nicht. Nur manchmal ging sie ihre Schwester besuchen. Rosa ging zwar fast jeden Tag zu ihr, hatte aber ihr eigenes Leben, in das Hana nicht gehörte.

Nur zu Allerseelen ließ sie sich von Rosa überzeugen und ging mit ihr auf den Friedhof einen Strauß auf das Grab der Mutter legen. Warum sollte sie öfter dahin gehen, wenn niemand wusste, wo ihr Körper wirklich lag? Was für einen Sinn hatte es, sich vor einem Namen in Goldbuchstaben auf kaltem Marmor zu verneigen?

Als sie die Tasche vom Haken nahm, überfiel sie große Schwäche. Nichts Überraschendes. Atemnot, Schwärze vor Augen, zitternde Beine und Arme, Magenkrämpfe – das war nichts, was sie nicht kannte. Sie war mit ihren Beschwerden und Krankheiten ausgesöhnt und hatte gelernt, mit dem Gedanken zu leben, dass andere Frauen Mann und Kinder hatten und sie Krankheiten.

Sie setzte sich und wartete, dass die Schwäche vorbeiging. Früher oder später verschwand sie immer. Aus Gewohnheit griff sie in die Tasche, brach ein Stück Kruste ab und steckte es in den Mund. Ihr wurde schlecht, der Kopf drehte sich und die Küche schaukelte in wilden Kreisen. Sie stand vorsichtig auf, ging vom Tisch zur Wand, hielt sich an den Möbeln fest und schlurfte ins Schlafzimmer. Das Schaukeln wurde stärker, es warf sie von einer Seite auf die andere und zog ihr die Beine weg. Endlich ertastete sie das Kopfende des Betts und fiel auf das sorgfältig gemachte Federbett. Im letzten Moment, denn ihr Bewusstsein trübte sich und Hana fiel in eine andere Welt.

Auf einmal war sie nicht mehr zu Hause, sondern im Zug. Der Zug pfiff und ruckelte, durch die offenen Fenster kam eiskalte Luft und Hana erzitterte vor Kälte. Sie nahm nur die Kälte und den regelmäßigen Rhythmus der eisernen Räder wahr, die über die Gleise dahinjagten und sie an Orte brachten, von denen kein Weg zurückführte. Dann löschte jemand im Zug das Licht, Dunkelheit verschluckte alles. Aus dem Halbdunkel traten Gestalten hervor, sprachen zu ihr, zerrten sie dorthin, wohin sie nie wieder zurückwollte. Sie stopfte sich die Ohren zu, wollte ihnen entwischen, aber sie konnte sich nirgendwo verstecken.

Die Bäckerin erinnerte sich am Abend, dass die merkwürdige Hexe Helerová, die nicht einmal ordentlich grüßen konnte, kein Brot geholt hatte, aber gleich sprangen ihre Gedanken zu den 23 Kronen, die am Ende des Tages in der Kasse fehlten.

Der Verkäuferin im kleinen Kramladen fehlte Hana Helerová überhaupt nicht, obwohl sie regelmäßig jeden Montagmorgen nach neun ins Geschäft kam. Viel mehr ärgerte sie, dass die Käufer entgegen den vielen Hinweisen und Aushängen der Hygieniker die Ware befühlten, und sie musste sie neben der ganzen Hektik noch beaufsichtigen und ermahnen, damit sie keine Unannehmlichkeiten bekam.

Die Leute in der Stadt hatten ihre eigenen Sorgen, und so bemerkte niemand, dass zwei Abende hintereinander die Fenster ihrer Nachbarin Hana Helerová schwarz blieben und die Vorhänge aufgezogen.

Als ich die Treppe zu ihrer Wohnung hochstieg, fantasierte sie und kämpfte im Fieber mit ihren Schrecken. Die Ankunft des dicken Doktors und den Transport ins Krankenhaus nahm sie nicht wahr. Zu der Zeit stand sie schon an der Grenze und es blieben nur ein paar kleine Schritte, um die unsichtbare Wand zu durchschreiten, zu ihren Lieben zu kommen und endlich zu erfahren, wo das Leben ihrer Mama Elsa und der Großeltern geendet hatte.

Während ich auf dem Platz herumtrampelte, der damals Stalingradplatz hieß, und nach der hohen Gestalt meines Retters Ausschau hielt, brachte man Tante Hana ins Kreiskrankenhaus. Die Infektionsabteilung war voll. Die Kranken lagen auf den Gängen und die Mediziner waren müde und verschreckt, genauso wie ihre Patienten, und so verwiesen sie den Rettungswagen gleich an der Pforte ans Krankenhaus in Hradiště. Der dicke Doktor stieg aus, er befand, seine Anwesenheit sei nicht nötig, weil man der halbtoten Patientin im Unterschied zu anderen nicht mehr helfen konnte. Die Kranke war nach zwei Tagen in hohem Fieber ohne zu essen und zu trinken so entkräftet, dass er keine Hoffnung für sie hatte.

In dem Moment, als ich im dunklen Flur unseres Hauses verzweifelt nach den Schlüsseln tastete, nahmen sie Tante Hana im Krankenhaus in Hradiště auf. Die Schwestern zogen ihr den schwarzen Pullover aus, das Kleid, die Strümpfe und die Wäsche, stopften alles in einen Sack und schickten es zum Desinfizieren. Dann wuschen sie sie, zogen ihr ein Leinenhemd an, flößten ihr etwas süßen Tee ein und brachten sie in ein Zimmer, wo sie auf den Tod warten sollte.

Ich schlief an diesem Abend im warmen Kämmerchen im ersten Stock des Hauses ein, das wie ein Schiff aussah, und nicht einmal im Traum fiel mir ein, dass ich nicht mehr nach Hause zurückkehren würde.

Tante Hana lag mit zwei Sterbenden in einem kleinen Krankenhauszimmer und flüchtete vor ihren Albträumen. Sie wehrte sich gegen die Arme, die sie wieder und wieder aus dem Eisenbahnwaggon stießen, sie hielt sich an der Metalltür fest, hatte aber keine Kraft in den Fingern. Ihr Körper schmerzte, verzweifelte Tränen liefen ihr die Wangen hinunter, ihr Mund war angstverzerrt und ein einziger Gedanke jagte durch ihren Kopf: Nein, nicht dorthin, dorthin gehe ich nie mehr zurück, lieber sterbe ich.

Dann stieß sie jemand und Hana fiel hinaus auf den kalten Betonbahnsteig. Sie nahm alle Kraft zusammen, erhob sich und humpelte weiter weg vom Zug. Das Geschrei hinter ihr war noch immer laut, aber als sie sich umsah, sah sie niemanden. Sie wusste, wenn sie entkommen wollte, musste sie so schnell wie möglich fort. Der Eingang zum Bahnhofsgebäude war offen und Hana lief durch die lange Halle und suchte den Ausgang. Alle Türen waren verschlossen und die Fenster vergittert. Schon gingen ihre Kräfte zur Neige. Ihre Beine waren schwach, die Knie knickten ein und ihre Hände zitterten. Sie stolperte von einer Tür zur nächsten, bis endlich eine nachgab.

Sie kam in einen kleinen, weiß gekachelten Raum. Auf der rechten Seite stand eine Reihe Waschbecken, auf der linken Kabinen mit Toilettenbecken. Und das Fenster in der Mitte der gegenüberliegenden Wand war offen und unvergittert. Sie schlug die Tür hinter sich zu, aber die Stimmen der Verfolger wurden nicht leiser. Sie fühlte, dass sie vor der Tür waren und jeden Augenblick hineinkommen und sie schnappen würden. Ihr blieb eine einzige Möglichkeit.

Sie zog einen in der Ecke stehenden Stuhl heran, stellte ihn unters Fenster, kletterte hinauf, setzte sich aufs Fensterbrett und streckte ein Bein hinüber. Sie schaute aus dem Fenster und sah in der Dunkelheit die Umrisse des Marktplatzes von Meziříčí. Sie muss nur noch hinüberlaufen und ist gleich in der Sicherheit ihres Hauses. Sie schließt die Tür hinter sich und macht nie wieder jemandem auf.

Sie streckte auch das zweite Bein hinüber, rutschte auf den Sims, der das ganze Gebäude umgab, und langsam, mit dem Rücken an die raue Wand gedrückt, glitt sie vom Fenster weg. Erst nach ein paar Schritten sah sie nach unten. Der Platz war fort. Unter ihren Füßen lag ein bodenloser Abgrund. Sie schloss die Augen, aber es war schon zu spät. Eine unsichtbare Macht ergriff sie und riss sie in die Tiefe.

Hanas Krankenbett stand am entfernten Ende des Raums und von der Tür trennten es die Betten der beiden Schwerkranken. Die Schwester schaute jede Stunde ins Zimmer, hörte ein bisschen auf den pfeifenden Atem und das Stöhnen der Sterbenden, aber die Abteilung war überfüllt mit Menschen, die ihre Hilfe viel mehr brauchten, und so ging sie nicht hinein und bemerkte Hanas Verschwinden überhaupt nicht.

Erst in den frühen Morgenstunden fand der Heizer auf dem Rasen vor dem Gebäude den reglosen Frauenkörper. Er stolperte fast darüber, als er von der Nachtschicht kam. Kaum hatte er den ersten Schreck überwunden, lief er ins Bereitschaftszimmer im Erdgeschoss, hämmerte an die Tür, und als sie aufging, platzte er hinein. »Ihr habt hier draußen eine Leiche«, brachte er heraus. »Die ist wohl aus dem Fenster gefallen.«

Der schlaftrunkene Doktor Jarolím, der in jener Nacht Dienst hatte und dem es geglückt war, vor einer knappen Stunde, nachdem der letzte Patient gegangen war, einzuschlafen, begriff nach einem Blick auf den verschreckten Heizer sofort, dass der Alte diesmal nicht betrunken war, auch wenn das ziemlich oft vorkam. Er nickte der Schwester zu, sie solle den Sanitäter rufen, und sie liefen schnell hinaus.

Hana lag auf dem Rücken, die Arme weit ausgebreitet, das Nachthemd war hochgerutscht und der weiße Kopf zur Seite geneigt. Der Doktor prüfte nicht erst, ob sie lebte oder nicht, er packte sie unter den Achseln und gemeinsam mit dem Sanitäter legten sie ihren ganz ausgekühlten, ausgemergelten Körper auf die Trage, warfen ein Laken darüber und trugen ihn hinein. Dann schoben sie den Heizer aus der Tür und verboten ihm unter Androhung des Rauswurfs über das zu sprechen, wovon er zufällig Zeuge geworden war.

»Ich weiß doch, was ein Arztgeheimnis ist, ich sage keinen Pieps«, schwor der Heizer, aber unter dem Einfluss der getrunkenen Wacholderschnäpse, die den Schock vertreiben sollten, vergaß er sein Versprechen schon am Mittag und beschrieb das schreckliche Erlebnis haarklein nicht nur seiner Frau und den Nachbarn sondern auch den Kumpanen in der Kneipe am Bahnhof.

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