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Doktor Jarolím arbeitete schon viele Jahre im Krankenhaus. Seine Vorstellungen von der Schönheit und Nützlichkeit des Arztberufs und dem Dienst an den Bedürftigen verwandelten sich im Laufe der langen Praxis in alltägliche Routine, aber trotzdem mochte er seine Arbeit noch immer. Ein wesentlicher Teil seines Charakters war Dickköpfigkeit, und die brachte ihn dazu, auch gegen das Schicksal zu kämpfen, das dieser dünnen, weißhaarigen Frau ins halbtote Gesicht geschrieben stand. Er wollte sie nicht sterben lassen, wie ihm die Schwestern und die Kollegen einflüsterten, die gut wussten, dass es ihr Versagen war, dass die Patientin aus dem Fenster gefallen war, und dass früher oder später sich jemand finden würde, der sie daran erinnert.

»Es ist sinnlos«, sagten sie. »Die war schon dem Tode geweiht, als sie hergebracht wurde.«

Doktor Jarolím untersuchte den knochigen Körper, der von Qualen gezeichnet war, die kein lebendiges Wesen erleiden sollte, schob den Ärmel des schmutzigen Nachthemds hoch und ertastete einen kaum spürbaren Puls. Er drehte Hanas Kopf von einer Seite auf die andere, tastete Arme und Beine ab und organisierte blitzschnell das Röntgen. Er begleitete selbst die Liege mit der Kranken den langen Gang bis zum Aufzug, schob sie bis zur Röntgentür und verschaffte sich durch nervöses Klopfen Einlass. Dann trieb er die Laborantinnen an, als ob sie die chemischen Prozesse beschleunigen könnten, prüfte lange die Bilder und kam zufrieden zu dem Schluss, dass diese Frau, die die Haare einer Greisin und den Körper einer Märtyrerin hatte, in Wahrheit aber nur 35 Jahre alt war, nach dem Sturz aus dem zweiten Stock nur beide Schienbeine, die rechte Hand und ein paar Rippen gebrochen hatte.

Es war fast Mittag, als er die ganz eingegipste Hana, immer noch ohne Bewusstsein, persönlich in die Infektionsabteilung zurückbrachte, sie dem Chefarzt übergab und höhnisch bemerkte: »Jetzt wird sie Ihnen wohl nicht mehr weglaufen.«

»Sie sollten wissen, Herr Kollege, dass bei hohem Fieber …«

»Das weiß ich«, unterbrach ihn Jarolím. »Aber wenn sie stirbt, werde ich Sie nicht decken, Kollege hin Kollege her.«

Jedes Mal, wenn einer der Kranken den Kampf gegen den Typhus verlor und eine Schwester den Körper mit einem Laken bedeckte und fortbrachte, wendeten sich Patienten aller Konfessionen und politischer Zugehörigkeiten an den, an dessen Existenz sie auf einmal gern glauben wollten. Sie falteten die Hände und baten darum, dass er gerade sie verschonen und die Rückkehr in ihr altes Leben erlauben möge.

Tante Hana erwachte nach ein paar Tagen aus dem hohen Fieber und begann ihre Umgebung wahrzunehmen. Die Hände falten konnte sie allerdings nicht, denn ihr rechter Arm war bis über den Ellbogen im Gips. Sie hätte sowieso nicht gebetet. Sie verstand nicht, wie man ein Wesen um etwas bitten konnte, das im besten Falle nicht existierte, und im schlechtesten das ganze Leid über sie gebracht hatte, oder aber – obwohl es allmächtig war – es nicht wenigstens verhindert hatte.

Mit dem Abklingen der Typhusepidemie verringerten sich die Sterbefälle und die Patienten gingen einer nach dem anderen aus dem Krankenhaus nach Hause. Auch Hana, für die man noch vor ein paar Wochen keine Hoffnung hatte, erholte sich schnell, konnte sich aber immer noch nicht selbst versorgen, weil ihre Beine in einem Gipspanzer eingesperrt waren.

Von der Familie ihrer Schwester wusste sie nichts, aber sie wunderte sich überhaupt nicht, dass sie die ganze Zeit im Krankenhaus niemand besuchte, weil Besuche in der Infektionsabteilung verboten waren. Sie erinnerte sich nicht, wie sie zu den Brüchen kam, und erst allmählich, eher von den Mitpatienten als vom Personal, erfuhr sie, wie sie im Fieber durch die Gänge irrte und auf dieser umnebelten Flucht vor nichtexistierenden Verfolgern aus dem Fenster im zweiten Stock fiel. Weil niemand gesehen hatte, wie sie umherirrte und fiel, tauchten verschiedene Versionen auf. Einigen zufolge versuchte sich Hana umzubringen, andere wiederum behaupteten, sie sei im Gegenteil Opfer eines Verbrechens geworden. Es gab auch eine Variante, in der übernatürliche Wesen auftraten, denn genau wie Hana hatten auch die anderen Kranken im Fieber Wahnvorstellungen und wussten jetzt nicht, was Wirklichkeit war und was Traum. Bald fürchteten sich die Patienten so, dass sie zu zweit auf die Toilette gingen. Schließlich musste Doktor Jarolím eingreifen und Hana offiziell erklären, was wirklich passiert war.

Nicht im Traum wäre ihr eingefallen, jemand anderem als sich selbst die Schuld an ihrem Sturz zu geben, wofür ihr die Schwestern unendlich dankbar waren und sich um die wortkarge Patientin kümmerten, als sei sie ihre liebste Freundin.

Erst Mitte Mai waren die Beinknochen so weit geheilt, dass sie das Gewicht von Hanas dünnem Körper tragen konnten, der Arm ließ sich schon bewegen, wenn auch nicht ganz ausstrecken, die Rippen waren zusammengewachsen, sodass sie sich nachts auf die Seite drehen konnte und tags tief einatmen. Hana hatte längst verlernt, ihre Gefühle zu erforschen, sie beherrschte die Kunst, nicht über die Zukunft nachzudenken und bei Tageslicht die Vergangenheit zu vergessen. Nur manchmal traf eine plötzliche Erinnerung sie unvorbereitet, hüllte sie wie eine dunkle Decke ein und stoppte sie auf der Stelle. Sie hatte gelernt, nicht an Menschen und Dingen zu hängen, und deshalb war der Krankenhausaufenthalt für sie erträglich und die Heimkehr weckte weder Gefühle noch Erwartungen.

Der Krankenwagen brachte sie bis vor die Haustür. Mit einem Kopfnicken verabschiedete sie sich vom Fahrer. Der schlug nur die Autotür zu und war froh, dass er diese seltsame Frau los war. Er plauderte gern mit seinen Fahrgästen, aber dieses Weibsstück saß den ganzen Weg regungslos da und sagte kein Wort. Hätte sie nicht aufrecht gesessen, hätte er gedacht, sie sei gestorben. Er musste immerzu hinschauen. Er war so von ihr aus der Fassung gebracht, dass er ein paarmal fast jemanden rammte. Beim nächsten Mal nimmt er lieber keinen Fahrgast mehr in die Kabine. Sollen die schön hinten sitzen.

Hana schloss die Henkel ihrer Tasche und ging zum Haus. Ihr fiel gar nicht ein, tief die Frühlingsluft einzuatmen und sich auf dem Marktplatz der Heimatstadt umzuschauen. Sie forschte nicht nach Neuigkeiten, es interessierte sie nicht, wie es den Nachbarn und Bekannten während der Epidemie erging. Sie stieg geradewegs in ihre Wohnung im ersten Stock, öffnete die Fenster, um die schwere Luft hinauszubekommen, und erst beim Blick auf das nichtgemachte Bett und die vertrocknete Klivie, die einzige Pflanze, die sie besaß, weil sie sie vor langem von ihrer Schwester zum Geburtstag bekam, wunderte sie sich, warum Rosa nicht ein einziges Mal hier gewesen war. Sie setzte sich an den Küchentisch und schaute auf den Leinenbeutel, der noch immer da lag, wo sie ihn vor fast einem viertel Jahr fallen gelassen hatte, und dachte nach.

Rosa war die einzige Verwandte, die ihr geblieben war – also außer ihren ekelhaften Sprösslingen. Sie war ein paar Jahre jünger und die Mutter hatte sich vor langen Zeiten in den Kopf gesetzt, sie sei kränklich, und so hatte Hana sie die ganze Kindheit am Hals. Dann drehte sich das irgendwie um. Als nur noch sie beide auf der Welt übrig waren, hatte Hana keine Kraft mehr, sich um sich zu kümmern und erst recht nicht um andere. Aber Rosa hatte auf einmal Kraft und Liebe im Überfluss. Sie liebte ihre Kinder, ihren Mann und es blieb noch genug Liebe für ihre Schwester übrig. Sie sorgte für Hana wie für ein viertes Kind, auch wenn die das gar nicht wollte. Sie lehnte es ab, sich von den Gefühlen der Schwester versklaven zu lassen, und ging ihrer Familie mit Absicht aus dem Weg. Rosa ließ sich nicht wegstoßen, drängte sich ihr auf, umgab sie mit ihrer Liebe und ließ nicht zu, dass sie sich ganz von der Welt zurückzog und in befreiender Gleichgültigkeit versank.

Hana sah sich die graue Staubschicht auf Fußboden, Möbeln und Fensterbrettern an und begriff im selben Moment, warum kein Brief ins Krankenhaus kam, warum sich niemand für ihren Gesundheitszustand interessierte oder Obst schickte. Sie fühlte einen scharfen Schmerz, ihr Brustkorb öffnete sich, und wie aus einem aufgerissenen Sack der Sand unaufhaltsam auf die Erde herausrieselt, so verflog aus ihr alles, was sie noch an die Welt band.

Sie begriff, dass Rosa tot war.

Sie stand auf und ging schneller aus der Wohnung, als es jahrelang ihre Gewohnheit war. Auf ihren wunden Beinen ging sie die Treppe hinab, über den gepflasterten Platz, an der Pestsäule vorbei, ging am Haus Zu den zwölf Aposteln vorüber und bog in die schmale Gasse ein, die zum Fluss führte. Das Schaufenster der Uhrmacherei war schmutzig, die Zeiger auf den staubigen Zifferblättern standen still. Sie drückte die große, gehämmerte Klinke und rüttelte an der Tür. Sie versuchte es noch einmal und dann sah sie sich ratlos auf der Straße um. Ihr schien, als schaute jemand aus dem gegenüberliegenden Fenster und zog gleich wieder den Kopf zurück.

Eine Weile stand sie unentschlossen da und ging dann auf die andere Straßenseite. »Guten Tag«, entschloss sie sich, Richtung Fenster zu rufen. Niemand erschien, also haute sie mit der Faust an die Tür. Zwischen frisch gepflanzten Geranien tauchte ein bebrilltes Gesicht auf.

»Guten Tag«, grüßte sie wieder. »Ich bin die Schwester von Frau Karásková.« Sie überlegte, wie weiter. »Wissen Sie vielleicht, wo ich sie finde?«

»Da müssen Sie zum Nationalausschuss«, antwortete die Frauenstimme. Die Augen hinter den Brillengläsern schauten sie forschend an und Hana fühlte sie noch im Rücken, als sie in die Straße einbog, die zurück zum Platz führte.

Und dort, in dem Haus mit den schön gewölbten Decken schob ihr die Standesbeamtin eine lange, alphabetisch geordnete Liste zu und ging fort. Auf dem Papier standen die Namen der während der Epidemie Erkrankten, die Krankenhäuser, wohin man sie gebracht hatte, Datum der Aufnahme und der Entlassung. Bei zwanzig Namen standen außer dem Datum auch Kreuze.

So erfuhr Hana Helerová, dass Rosa, Karel und ihre zwei Kinder gestorben waren. Als die Beamtin zurückkehrte, saß Hana noch immer am Tisch und sah auf den mit der Schreibmaschine getippten Namen ihrer Schwester. Ihre Augen waren trocken und der Kopf völlig leer. Es drangen keine Laute zu ihr durch, nur mitten in der Brust wuchs die eisige Kälte und breitete sich im ganzen Körper aus. Sie erhob sich.

»Da ist noch die Angelegenheit mit der Beerdigung«, sagte die Beamtin. »Sie sind auf Stadtkosten beerdigt worden, weil man nicht wusste, wann … ob … Aber wenn ein lebender Verwandter gefunden wird …«, sie räusperte sich verlegen. »Das ist Gesetz, wissen Sie? Das muss bezahlt werden.« Sie schob Hana einen Umschlag zu.

Hana sah nicht einmal hin, ließ den Umschlag auf dem Tisch liegen und drehte sich zur Tür.

»Dann schicken wir Ihnen das per Post«, rief die Beamtin ihr hinterher.

Hana schloss die Bürotür hinter sich. Nach mir, ihrer einzigen Verwandten, fragte sie nicht einmal.

SECHSTES KAPITEL

Mai 1954

Jaroslav Horáček beschloss Soldat zu werden, als er vier Jahre alt war. Er erinnerte sich ziemlich genau, dass er auf Vaters Schultern saß und aus einer Höhe, um die ihn die Leute, die sich in der Menge um den Platz herum drängten, beneiden konnten, die Militärparade zur Feier des ersten Jahrestages der neuen Tschechoslowakischen Republik anschaute. Die gleichmäßigen Reihen und regelmäßig vorschwingenden Beine der Soldaten verzauberten ihn so, dass er den ganzen Weg nach Hause marschierte, marschierte, wenn er mit Mama einkaufen ging, und trotz der Proteste seiner Eltern marschierte er sogar beim sonntäglichen Kirchgang. Als ich noch bei den Horáčeks wohnte und Onkel Jarek gute Laune hatte, erzählte er beim Abendessen manchmal lachend, wie schön das Getrampel der kleinen Beine unter dem Steingewölbe widerhallte. »Dann hat mir Papa aber gesagt, dass die Statue der Jungfrau Marie mich böse anschaute. In dem Moment habe ich zwar aufgehört zu trampeln, aber ich habe jedes Mal gebrüllt, wenn ich in die Kirche sollte. So wurde ich Atheist.« Ich wusste nicht, was ein Atheist war, dachte mir aber, das sei irgendein militärischer Rang, weil Onkel Jarek ja am Ende wirklich Soldat geworden war. Zuerst lernte er aber bei seinem Onkel Metzger.

Wenn ich so darüber nachdachte, war das für einen Soldaten eine passende Vorbereitung. Immer wenn Horáčeks Fleisch zum Mittag hatten, übernahm er das Portionieren. Er packte das Messer – immer das größte, das sich in der Schublade fand – und ich musste wegschauen, weil sich sein Metzgerberuf in meinem Kopf mit dem Soldatenberuf vermischte und seltsame Bilder vor meinen Augen auftauchten.

»Dann wurde ich eingezogen und blieb dann bei der Armee. Weil die Armee für den Menschen sorgt.« Bei diesen Worten wussten wir alle, dass die folgende Passage an Gustav gerichtet war, und wir sahen ihn an. Er tat immer, als sei er gar nicht in der Küche. Er schrumpfte, fiel ganz in sich zusammen und seine Augen bekamen einen gleichgültigen Ausdruck, so ähnlich wie bei Tante Hana.

»Die Armee gibt dem Menschen Disziplin und wird eine zweite Familie für ihn.«

Je mehr sich Onkel Jarek ereiferte, desto kleiner wurde Gustav in Erwartung des vorhersehbaren Schlusses. »Ich konnte nicht an der Militärschule studieren, Gustav. Aber aus dir wird bestimmt einmal ein Offizier.« Er klopfte seinem Sohn auf die Schulter und ließ sich von dessen fehlender Begeisterung nicht aufhalten. Offensichtlich hoffte er, dass steter Tropfen den Stein höhlte, wenn er Gustav seinen Wunsch nur Abend für Abend wiederholte.

Tante Ivana hatte eine etwas andere Sicht auf die Armee und ich war mir recht sicher, dass auch sie nicht begeistert von dem Gedanken war, dass Gustav Soldat werden sollte. Sie wollte nur nicht mit ihrem Mann streiten und zum hundertsten Mal hören, dass sie alles, was sie hatten, der Armee verdankten.

Meiner Meinung nach war Tante Ivana der einzige Mensch – wenigsten von denen, die ich kannte – dem der Krieg etwas Gutes im Leben gebracht hatte. Onkel Jarek war nämlich in der Armee der ersten Republik Unteroffizier und die durften ohne Armeeerlaubnis nicht heiraten. Und Onkel Jarek hätte die Erlaubnis nicht bekommen, weil seine Auserwählte keine ausreichend große Mitgift hatte. Als die Republik von den Deutschen besetzt wurde, trat Onkel Jarek aus der Armee aus und arbeitete wieder bei seinem Onkel als Metzger. Denen redete beim Heiraten niemand hinein und so konnte er Ivana endlich heiraten und Frau Horáčková aus ihr machen. Nach dem Krieg wurde aus dem Metzger Horáček wieder der Feldwebel Horáček, aber das waren schon andere Zeiten und außerdem war er verheiratet, also teilte ihm die Armee nach einer gewissen Zeit die Wohnung im ersten Stock einer bourgeoisen Villa zu, und er marschierte zu Paraden wieder an der Seite seiner Genossen.

Was er sonst noch machte, wusste ich nicht, aber ich erfuhr, was er an dem Tag tat, als seine zwei Sprösslinge mich die Treppe hinunterwerfen wollten. Er setzte sich die flache Mütze auf und marschierte in Richtung Platz. Vor Tante Hanas Haus zögerte er, weil er sich nicht ganz sicher war, ob es richtig war, was er tun wollte, aber dann lief er entschlossen die Treppe hoch. Bestimmt nahm er zwei Stufen auf einmal, weil er außerordentlich stolz auf seine Kondition war und sie stärkte, wann immer die Gelegenheit dazu war.

Er klingelte und musste ein bisschen warten. Tante Hana bekam nie Besuch, also dachte sie, es sei ein Versehen, und bequemte sich nicht zu öffnen.

Jaroslav Horáček klingelte ein zweites Mal. Da waren schon leise Geräusche von innen zu hören. Tante Hana war aus ihrem dämmrigen Zustand erwacht, schob den Stuhl zurück und ging zur Tür. Für den Bruchteil einer Sekunde glaubte sie, ihre Schwester Rosa sei gekommen, aber dann erinnerte sie sich, dass Rosa nie mehr kommen würde, weil sie tot war. Im Gegensatz zu mir war sie nicht so töricht zu hoffen, es sei ein Irrtum, und beeilte sich deshalb nicht.

Jaroslav Horáček kannte Tante Hana von früher, er hatte gehört, sie sei wunderlich, aber trotzdem erschauerte er wörtlich vor dem schwarzen Weibsbild, das ihm öffnete.

Nach dem Tod meiner Mutter Rosa ging Hana nur noch aus dem Haus, wenn ihr das Brot ausging. Etwas anderes kaufte sie nicht. Sie saß ganze Tage am Tisch, brach manchmal ein Stück Rinde ab und steckte es in den Mund. Sie war immer dünn, aber während des langen Krankenhausaufenthaltes hatte sie ein bisschen zugenommen. Diese Kilos waren zu dem Zeitpunkt schon wieder weg, die schwarze Kleidung hing an ihr herunter, ihre Wangen waren eingefallen, die Augen tot.

»Dieser Blick, der erschreckte mich am meisten«, erzählte Onkel Jarek dann, aber in dem Moment drang der Gestank aus der Wohnung in seine Nase und schob ihn zwei Schritte zurück. »Das Erste, was mir in den Sinn kam, war, dass wir Mira da nicht hinschicken können«, sagte er.

Aber Hanas Blick änderte sich auf einmal. »Was willst du denn hier?«

In diesem Abschnitt der Erzählung wurde Jaroslav Horáčeks Stimme aggressiv. »Was sollte ich denn sagen? Ich sagte, dass Mira bei uns ist und nicht länger dableiben kann. Sie solle sie abholen, oder wir bringen sie zur Stadt, sollen die doch mit ihr machen, was sie wollen. Wir sind doch keine Versorgungsanstalt.«

Er drehte sich um, weil er so schnell wie möglich wegwollte. Er musste den sauren Geruch, der aus der Wohnung kam, und das schwarze Weibsbild loswerden, musste diese toten Augen loswerden.

»Warte.«

Er blieb stehen.

»Wo ist sie?«

Er sagte die Adresse. Dann lief er die Treppe hinunter und ging in die Kneipe. Er wollte nicht dabei sein, wenn die schwarze Hana vor ihrer Tür auftauchte.

Ich glaube, dass Ivana Horáčková genauso überrascht und erschrocken war wie ich, als Tante Hana mich holen kam. Sie stand in der Tür und sah Tante Hana an, als ob sie das Gefühl hätte, etwas sagen zu müssen, aber ihr nichts einfallen wollte. Ich blieb ein Stück hinter ihr stehen und wusste nur eins, dass ich nicht mit Tante Hana gehen wollte, aber gehen musste, weil die Horáčeks mich nicht bei sich lassen würden.

Tante Hana trat von einem Bein aufs andere. Ihre gebrochenen Beine wurden immer noch dick und schmerzten. Sie sah mich an, als sähe sie mich zum ersten Mal im Leben, betrachtete mich prüfend. Mir schien, sie wollte sich überzeugen, ob ich ihrer Schwester Rosa überhaupt ähnlich sehe, wenn sie mich schon am Hals hat. Damals sahen nur meine Augen aus wie die von Mama. Erst mit dem Alter begann ich ihre Züge in meinem Gesicht zu entdecken, und jetzt kann ich mir schon vorstellen, wie sie ausgesehen hätte, wenn sie hätte alt werden können.

»Gehen wir.« Aus Hanas Stimme sprach solch eine Müdigkeit, dass Ivana Horáčková ihre Angst vergaß und sich zwang, etwas zu sagen.

»Hanička, es tut mir leid, was passiert ist …«

»Gehen wir«, sagte Tante Hana wieder, und diesmal klang es unglücklich und ungeduldig. Als ob sie nicht hören wollte, was Ivana sagen wollte.

»Wenn ich könnte …«

Damals dachte ich, sie spreche über den Tod meiner Familie, sie wolle Tante Hana ihr Mitgefühl ausdrücken. Was sie wirklich sagen wollte, begriff ich erst viel später.

Tante Hana machte sich auf einmal gerade und aus der Verzweiflung, die der schwarz gekleidete, ausgemergelte Körper ausstrahlte, wurde Wut. Sie packte mich an der Schulter. Ihre knochigen Finger bohrten sich schmerzhaft in meine Haut und die Kraft ihres Ärgers zog mich mit sich fort. »Du konntest«, schrie Mamas Stimme aus dem Mund der Tante. »Du konntest sehr wohl.«

Ich war so erschrocken, dass ich anfing zu heulen. Selbst das Leben neben Ida und Gustav erschien mir erträglicher als das Zusammenleben mit Tante Hana. Die zwei kannte ich wenigstens schon und wusste, dass ich nichts Gutes von ihnen zu erwarten hatte. Was aber hatte ich von der verrückten Hana zu erwarten? Ich hoffte, Tante Ivana würde vielleicht doch noch sagen, ich könne bei ihnen bleiben. Sie musste doch sehen, dass Hana Helerová nicht richtig im Kopf war. Aber Ivana Horáčková stand nur da, bedeckte ihr Gesicht mit den Händen. Ich stolperte neben Hana her und spürte dieselbe Verzweiflung, die aus einem mir unbekannten Grund auch Hanas Gesicht ausstrahlte.

Auf der Straße vor dem Haus ließ mich Tante Hana los und wurde langsamer. Der kurze Ausbruch hatte sie erschöpft, und so drosselte sie das Tempo und ging mit gleichmäßigen, vom Schmerz gezeichneten Schritten durch die Stadt zum Haus am Marktplatz. Ich ging gehorsam neben ihr. Blieb mir denn etwas anderes übrig? Ich traute mich nicht zu sagen, dass alle meine Sachen bei den Horáčeks waren – alles, von Zahnbürste und Schlafanzug bis zum Schulranzen. Auf dem ganzen Weg fiel kein Wort. Damals dachte ich, Tante Hana sei böse, aber heute weiß ich, dass sie genauso verstört war wie ich. Sie schaffte es nicht, sich um sich selbst zu kümmern, und hatte sich gerade ein kleines Mädchen aufgehalst.

Wir waren ein seltsames Paar. Eine müde Frau in einem schwarzen, ausgeleierten Pullover, langem Rock, Schnürschuhen und in die Stirn gezogenem Kopftuch führte eine verheulte, zerzauste Neunjährige in einer dünnen Kittelschürze und Hauspantoffeln durch die Stadt. Bevor wir am Haus ankamen, zitterte ich vor Kälte.

Im ersten Stock des Hauses auf dem Platz setzte sich Tante Hana an den Küchentisch und ich öffnete schnell alle Fenster, obwohl ich ganz durchgefroren war, um die dicke Luft hinauszulassen, von der mir schlecht wurde.

»Ich habe weder Zahnbürste noch Schlafanzug«, sagte ich zu Hanas Rücken.

Sie bewegte sich nicht.

»Ich muss morgen in die Schule, aber mein Ranzen ist bei den Horáčeks«, fuhr ich fort.

Tante Hana griff in die Tasche und legte eine Brotscheibe auf den Tisch. Auch von weitem sah ich, dass schwarze Wollfussel daran waren. Ich drehte mich zum Fenster, um das ich Tante Hana immer beneidet hatte, wickelte mir den Sofaüberwurf um, setzte mich aufs Fensterbrett und schaute auf die Leute, die über den Platz gingen.

Am Morgen weckte mich Kälte. Ich lag in der Küche auf der Ottomane und die Federn drückten in meine Rippen. Ich hatte dieselbe Schürze an, mit der ich gekommen war, und zugedeckt war ich nur mit dem gehäkelten Überwurf, in den ich mich vor dem Einschlafen gewickelt hatte. Die Fenster waren noch immer geöffnet, und so zog die kalte Morgenluft herein und strich über meine Haut. Ich kroch heraus, schloss die Fenster und rollte mich wieder auf dem Sofa zusammen, um wenigstens ein bisschen warm zu werden. Die Küchenuhr war vor Monaten stehengeblieben, aber nach den Geräuschen, die vom Platz hereindrangen, urteilte ich, dass ich aufstehen und zur Schule gehen sollte. Das war wohl das erste Mal im Leben, dass ich sehr gern hingegangen wäre.

Die Kirchturmuhr schlug und ich zählte sieben Schläge. Mir schien, als hörte ich aus dem Nebenzimmer Geraschel, und nach einer Weile öffnete sich die Tür und Tante Hana tauchte auf.

Bei meinem Anblick stockte sie, als hätte sie vergessen, dass ich da war, und starrte mich genauso an wie ich sie. Ich konnte den Blick nicht von ihr reißen, denn ich sah sie zum ersten Mal in einer anderen Farbe als schwarz. Sie hatte ein langes weißes Leinenhemd an und darin sah sie noch dünner und erbärmlicher aus als in ihrem schwarzen Pullover. Die weißen Haare waren zu einem Zopf gebunden und das Einzige, was an ihr schwarz war, waren die Augen. Am Vorabend musste sie sich gewaschen haben, denn sie roch nicht mehr so schrecklich, aber das weiß ich nicht genau, weil ich Angst hatte, tief einzuatmen.

»Du musst zur Schule«, sagte sie.

Von einer so verwirrten Person war das eine überraschend richtige Überlegung.

»So kann ich nicht zur Schule gehen«, schniefte ich, weil mir das in dem Moment ehrlich leidtat. »Ich habe weder Schuhe noch meinen Ranzen.«

Tante Hana machte Feuer im Herd und setzte Teewasser auf. Sie nahm eine Tasse aus der Anrichte und schaute sie konzentriert an. »Am Nachmittag holst du deine Sachen.«

Ich begriff, dass sie nicht die Tasse zu den Horáčeks schickte, sondern mich, und ich sah mich schon den schweren Holzkoffer durch die Stadt schleppen und den Ranzen, aber ich wagte nicht, etwas einzuwenden. In den Häkelüberwurf gewickelt siedelte ich zum Küchentisch über.

Tante Hana schob mir den Korb mit dem altbackenen Brot hin. »Es ist Montag, ich gehe heute einkaufen.«

Das Brot war zwar alt, aber wenigstens nicht in der Tasche zerdrückt und es waren keine Fussel daran und ich hatte seit dem sonntäglichen Mittagessen nichts gegessen, also protestierte ich nicht. Tante Hana zog sich um, goss dann Tee ein und setzte sich mir gegenüber. Ich bemühte mich, nicht hinzusehen, wie sie das Brot brach, die Rinde in die Tasse tauchte und dann in den Mund stopfte. So wird also jeder Morgen aussehen, dachte ich mir, als Tante Hana die Krümel in die Handfläche sammelte und sie zum Mund hob.

Während des Frühstücks fiel kein Wort. Die Tante war mit dem Essen fertig, saß aber weiter da und starrte mit ihrem seltsamen Blick durch mich hindurch. Ich wusste nicht, was ich tun sollte, also brachte ich die leere Tasse zur Spüle und rollte mich wieder auf dem Sofa zusammen. Auf einmal stand die Tante auf, goss Wasser in die Schüssel und begann abzuwaschen. Es war nicht viel Geschirr, aber sicher lag es schon ziemlich lange in der Schüssel. Ich schlurfte zu ihr hin und nahm das Geschirrtuch in die Hand. Überrascht sah sie mich an, sagte aber nichts. Dann wischte sie den Tisch ab, fegte den Boden und verschwand im Schlafzimmer.

Absichtlich trocknete ich das Geschirr sehr langsam ab, um beschäftigt zu sein, aber trotzdem war ich lange, bevor die Tante zurückkam, fertig. Sie sah mich nicht an, nahm den Beutel vom Haken und ging zur Tür. Sie streckte sich nach der Klinke aus und erinnerte sich wohl in diesem Moment, dass sie nicht allein war.

Sie drehte sich wieder um und sah mich so seltsam an. »Dann kaufe ich Kartoffeln«, teilte sie mit, als ob ihrer Entscheidung eine besonders lange Debatte vorausgegangen wäre, und öffnete die Tür. Da stand ein großer Koffer und darauf lag mein schwarzer Ranzen. Ich war erleichtert, dass ich nicht die schweren Sachen durch die ganze Stadt schleppen musste, aber zugleich wurde mir klar, dass mein Umzug zu Tante Hana jetzt unumstößlich war. Die Horáčeks hatten meinen Koffer gepackt und bis vor Tante Hanas Tür gebracht, um mich und Hana nicht mehr sehen zu müssen.

»Ich habe Tante Ivana nicht einmal gedankt.« Ich glitt an Hana vorbei und zog den Koffer hinein. Damit hatte ich zu tun, ganz von den Horáčeks hätte ich ihn sicher nicht herschleppen können.

Tante Hana sagte nichts. Sie schnaubte nur abschätzig und schloss die Tür hinter sich.

Ich zog die Sachen aus dem Koffer und dachte nach, wohin ich meine Wäsche, Strumpfhosen, Blusen und Kleider legen konnte. Und ob ich einen Platz für die wenigen Spielzeuge und Bücher fand, die mir Tante Ivana erlaubt hatte, aus unserem Haus mitzunehmen. Ein Großteil meiner Sachen und die ganze Winterkleidung waren in unserem alten Haus geblieben, weil – wie Tante Ivana sagte – die Wohnung der Horáčeks nicht aufblasbar war.

Ich nutzte die Abwesenheit der Tante und schaute in alle Schubladen und Schränkchen in der Küche, untersuchte das Schlafzimmer der Tante, die Speisekammer, und war überrascht, wie wenig Dinge Tante Hana hatte. In der Anrichte waren zwei Töpfe, ein paar Teller und Tassen. Die Schubladen waren bis auf eine leer und im Kleiderschrank hingen ein Mantel und ein paar Pullover – schwarz, natürlich. Und im Nachttisch lag eine dünne Brotscheibe. In der Speisekammer standen Leinensäckchen mit Graupen, Mehl und Erbsen. Zur Sicherheit schob ich die Erbsen ganz nach hinten und ging aus der Küche in den Flur, um festzustellen, was sich hinter der Holztür verbarg.

In dem dunklen Flur waren vier Türen. Die gegenüber dem Haupteingang wurde nie verschlossen und führte direkt in die große Küche. Aber gegenüber der Badtür auf der linken Seite war eine geheimnisvolle, weiß gestrichene Tür, über die ich aus den seltenen Besuchen bei Tante Hana nur erfahren hatte, dass dahinter früher das Zimmer der Großmutter war. Nur Großmutters Zimmer, weil ihr Ehemann, mein Großvater Ervin, gestorben war, als Mama und die Tante noch ganz klein waren. Mir war nicht klar, warum ich nicht hineinschauen konnte. Oma Elsa konnte das doch nicht stören, da sie tot war, aber Mama klopfte immer warnend auf meine Schulter und sagte, wir wollen Tante Hana nicht an die Oma erinnern, damit sie nicht traurig wird. Als ob Tante Hana je fröhlich gewesen wäre.

Auf Zehenspitzen lief ich zu dem verbotenen Zimmer und drückte leise die Klinke. Es war abgeschlossen. Verärgert trat ich gegen die Tür und kehrte wieder an den Tisch zurück. So musterhaft sitzend traf mich Tante Hana an.

Sie stellte sich an den Tisch und begann auszupacken. Ein großer Sack Kartoffeln – mindestens drei Kilo, Sellerie, Zwiebeln, Möhren und ein weiteres Säckchen Erbsen. Fragend sah ich sie an. »Vitamine sind wichtig«, sagte sie. »Für Kinder«, fügte sie hinzu und zog einen Laib Brot und Milch aus der Tasche. Ratlos sah sie sich um. Sie wartete wohl, dass ihr jemand riet, was weiter. Mir wurde langsam klar, warum Tante Hana so dürr war und warum Mama ihr manchmal Mittagessen gebracht hatte.

Während ich das gekaufte Gemüse in die Speisekammer trug und die Erbsen wieder in der dunkelsten Ecke versteckte, setzte sich die Tante an den Tisch und vergrub den Kopf in den Händen. Ich hatte jetzt nicht mehr so sehr Angst vor ihr, aber ihre Ratlosigkeit erschreckte mich.

»Das schaffen wir«, sagte ich, mehr um mich selbst zu überzeugen, und setzte mich neben sie. Ich hatte Angst, sie zu berühren, denn ich wusste, dass das nicht einmal Mama durfte.

Unter den fest ans Gesicht gedrückten Händen drang ein Seufzer hervor. Hana nickte.

»Und warum seufzt du dann?«, fragte ich.

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