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Читать книгу: «Adams Söhne», страница 21

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»Von wem reden Sie?« fragte Wittekind.

»Von Gotthold Ephraim Lessing. Den nennen Sie doch wohl nicht einen Phantasten; wie? Den wirft doch wohl niemand zu den trüben, hirndumpfen Schwärmen, die aus den Blasen in ihrem Kopf eine zweite Welt machen? Ich denke, das war ein Mann, hell und lauter wie das Sonnenlicht; ein Kopf, in dessen durchsichtig klarem Geist man sich gesund baden kann. Und wie dachte der über dieses ›Märchen‹? Seine ›Erziehung des Menschengeschlechts‹ – haben Sie die gelesen?«

»Es ist lange her«, sagte Wittekind, die Achseln zuckend.

»Ich will sie Ihnen holen«, erwiderte der Alte; ging in ein Nebenzimmer, wo seine Bücher in mehreren mächtigen Gestellen fast bis an die Decke standen, und kam mit einem stark zerlesenen Buch in altem Einband zurück. Darauf rückte er unmittelbar ans Feuer, schlug eine Seite auf, ohne viel zu suchen, und überflog sie bei diesem flackernden Licht mit seinen gesegneten Augen, die noch immer ohne Brille lasen, ob große oder kleine Schrift.

»Sehen Sie, da kommt es«, sagte er, auf die Buchseite deutend. »Am Ende dieser kleinen Abhandlung, in der so manches Gold ist, kommt das Goldenste; nachdem er von der Erziehung gesprochen, die nach seinem Dafürhalten in der Geschichte der Menschheit wahrzunehmen und sie zur Vollendung zu führen offenbar bestimmt ist. Denn, sagt er eine Seite vorher« – der Alte blätterte um —: »›die Erziehung hat ihr Ziel, bei dem Geschlechte nicht weniger als bei dem Einzelnen. Was erzogen wird, wird zu Etwas erzogen.‹ Und wenn es langsam, für unser Auge unendlich langsam geht, das beirrt ihn nicht; denn – nun kommt es, seh’n Sie —: ›Geh’ deinen unmerklichen Schritt, ewige Vorsehung! Lass’ mich an dir nicht verzweifeln, wenn selbst deine Schritte mir scheinen sollten, zurück zu gehen! – Es ist nicht wahr, dass die kürzeste Linie immer die gerade ist. Du hast auf deinem Wege so viel mitzunehmen, so viel Seitenschritte zu tun! Und wie? Wenn es nun gar so gut als ausgemacht wäre, dass das große, langsame Rad, welches das Geschlecht seiner Vollkommenheit näher bringt, nur durch kleinere schnellere Räder in Bewegung gesetzt würde, deren jedes ein Einzelnes eben dahin liefert? – Nicht anders! Eben die – Bahn, auf welcher das Geschlecht zu seiner Vollkommenheit gelangt, muss jeder einzelne Mensch, der früher, der später, erst durchlaufen haben. Warum könnte jeder einzelne Mensch auch nicht mehr als einmal auf dieser Welt vorhanden gewesen sein? Ist diese Hypothese darum so lächerlich, weil sie die älteste ist? Weil der menschliche Verstand, ehe ihn die Sophisterei der Schule zerstreut und geschwächt hatte, sogleich darauf verfiel? … Warum sollte ich nicht so oft wiederkommen, als ich neue Kenntnisse, neue Fertigkeiten zu erlangen geschickt bin? Bringe ich auf einmal so viel weg, dass es der Mühe wiederzukommen etwa nicht lohnt? Darum nicht? – Oder, weil ich es vergesse, dass ich schon dagewesen? Wohl mir, dass ich das vergesse. Die Erinnerung meiner vorigen Zustände würde mir nur einen schlechten Gebrauch des gegenwärtigen zu machen erlauben. Und was ich auf jetzt vergessen muss, habe ich denn das auf ewig vergessen? – Oder, weil so zu viel Zeit für mich verloren gehen würde? – Verloren? – Und was habe ich denn zu versäumen? Ist nicht die ganze Ewigkeit mein?‹«

Saltner hatte ohne Kunst, aber mit einem eigen ergreifenden ruhigen Nachdruck gelesen; er schloss jetzt das Buch und ließ es auf seinen Knien liegen.

»Das steht alles im Lessing?« fragte Marie verwundert. —

»O ja; Wort für Wort.«

»Und ist wirklich von ihm?«

»Gewiss. – Man hat einmal versucht, ihm diese ganze Schrift abzustreiten und sie einem andern Verfasser anzuhängen; aber man ist damit in den Sumpf gefallen. – Übrigens, wenn das kein echter Lessing ist, dann bin ich die Kathi!«

»Und Sie glauben, so ist es? Jeder von uns war schon, und wird wieder sein? Jede Menschenseele fängt auf der untersten Stufe an und soll die höchste erreichen? Jede?«

»Ja, meine liebe Marie; das ist meine Meinung. Unser Dasein hat einen Sinn, die Welt hat einen Zweck; daran zweifl’ ich nicht. Und diese verspottete Seelenwanderung – ist sie nicht das Ei des Kolumbus? Sagen Sie doch selbst! Alles Begonnene kommt so auch zum Ende; verloren geht nichts, denn jede einmal entstandene Seelenform muss sich fortentwickeln, sie muss, – ob auch noch so zäh und langsam und tierhaft, sie muss, denn in einem andern Kleid, in andrer Luft kommt sie immer wieder; und die Zeit ist da! Man darf sie ja nur nehmen! – All unser Leiden aber, alles Elend, was tut das? Geht es nicht vorüber? Erfüllt es nicht seinen Zweck? Arbeitet es nicht an uns, damit wir weiterkommen? Und wenn es zu hart, zu grausam, gar unerträglich wird, wenn es mich in dieser meiner Gestalt etwa zu Boden drückt – komm’ ich nicht in einer andern wieder aus? Und da find’ ich vielleicht eine so leichte Luft, wie die andre schwer war. Eines Tages aber, denk’ ich, lichtet sich der Schleier, unsres Geistes Augen, in dieser langen Schule endlich klar geworden, sehen den hellen Tag, sehen den ganzen Weg zurück, den wir gekommen sind, und mit diesem Rätsel der Welt mit diesem, sag’ ich; denn wer weiß, wie viele dann noch kommen, mit dem sind sie fertig!«

»Mir schwindelt«, sagte Marie, vor sich niederblickend. »Ach, so lange zu leben! Wünschen Sie sich das?«

»Ich habe nicht zu wünschen, Kind«, erwiderte der Alte, mit tiefstem Ernst im Gesicht. »Wenn es so ist, hab’ ich so zu sein.«

»Aber wie denn ›zu sein‹?« fragte Wittekind. »Denken Sie, der ›Schöpfer‹ habe uns geschaffen und nun ausgesetzt wie Forellen- oder Karpfenbrut, die gezüchtet wird, die man von einem Teich in den andern bringt, bis sie ausgereift ist? Entwickeln wir uns selbst? Abgelöst vom Schöpfer? Sagten Sie nicht neulich: wir für uns sind nichts, Gott lebt in uns allen?«

»Freilich; wie denn anders? Sie können sagen: wir alle sind nur Atemzüge Gottes … Aber er will doch etwas mit uns; jeder Hauch, der von ihm ausgeht, ist ein neues Leben – das sich selber fühlt, das sich selber lebt. Und nur im Werden lebt es. Und so werden wir, denk’ ich, in immer neuen Gestalten; bis wir unsre Tierheit besiegt, bis wir das grobe Erdenkleid abgeschüttelt haben, bis wir in einem geistigen Äther leben können, den wir jetzt nur ahnen. Hab’ ich das erträumt? O nein. Lange vor dem Ulrich Saltner – und lange vor dem Lessing – haben das weise Männer gedacht, die vermutlich ›im Walde‹ lebten: denn so lange einem die Welt so recht um die Ohren lärmt, hört man wohl diese zarten Geisterstimmen nicht. Bei den Buddhisten gibt es eine Geheimlehre – für die Denker, nicht für das Volk – die sagt das alles, und so rein und lauter, Lessing kann’s nicht besser. Viele Ringe von Geisterwelten, sozusagen, kreisen um den Urgeist, um Gott; in dem fernsten Ring – immer sozusagen – ringen die derben Geister, solche wie wir Erdenmenschen, durch unzählige Leben hindurch, in Freud’ und Leid, nach der Läuterung, die sie endlich weiter und dem Göttlichen näher führt. Was denken Sie wohl, Marie? Wer von uns kann sagen, ob William Shakespeare von Stratford nicht schon eine Form war, die auf dieser Erde nicht wieder zukommen brauchte? Die in einer Geistigkeit, einer Klarheit lebt – freilich weit, weit von Gott, aber doch weit vor uns?«

»Verzeih’n Sie, lieber Vater«, antwortete die junge Frau, die ihn fast beängstigt ansah, – »mir graut noch vor alle dem. Aber – und wär’s auch so – mit dem Shakespeare, mein’ ich – was soll aus den Letzten werden? Aus den Hottentotten, aus den Menschenfressern?«

»Und aus den Gemeinen, den Schlechten, den Ungeheuern?« setzte Wittekind hinzu.

»Aus den Menschenfressern?« entgegnete der Alte. »Das waren Shakespeares Ahnen auch, glauben Sie mir; und doch kam endlich Shakespeare. ›Was habe ich zu versäumen?‹ sagt Lessing; ›ist nicht die ganze Ewigkeit mein?‹ – Was aber die ›Schlechten‹, die ›Ungeheuer‹ betrifft«, fuhr Saltner fort, indem er sich zu Wittekind wandte, – »sagen Sie’s doch nur gleich: Sie dachten an Waldenburg. Seh’n Sie wohl, Sie nicken! – Waldenburg … Warum sollten wir nicht offen über ihn reden; diese Form ist ja tot. Sie haben ihn gut gekannt, ich nicht; Sie sagten dieser Tage einmal, etwas Teuflisches sei in ihm gewesen … Nun ja. Was bedeutet das? Dass er verführen und verderben konnte, weil er große, glänzende Gaben hatte; und dass diese großen Gaben einem Willen als Knechte dienten, der noch weiter nichts wollte, als nehmen und genießen. Ein richtiger, roher, zutappender Kinderwille; also doch eigentlich auch nur ein ›Menschenfresser‹, aus dem mit der langen Zeit ein Shakespeare, ein Spinoza, ein Lessing werden kann – nur müssen ihm erst die ›großen Gaben‹ abgenommen werden, mit denen er so viel Unheil stiften konnte. Das ist nun gescheh’n; er ist tot. Vielleicht kam in diesen Waldenburg – den erzeugten, vererbten, mein’ ich, den, sozusagen, ›bürgerlichen Menschen‹ – eine wandernde Seele von schon leidlich entwickelten nicht gemeiner Art, die aber in diesem Käfig einen noch ungebändigten, tierischen Willen vorfand, der ihr zu mächtig war, vor dem sie kriechen musste, bei dem sie ihre Zeit verlor. – — Aber was für Zeit? ›Ist nicht die Ewigkeit meins‹. Vielleicht war es auch umgekehrt: eine noch rohe, unerzogene, kraftstrotzende Seele kam in einen trefflich begabten ›bürgerlichen Menschen‹ … Ich phantasiere nur so; ich sag’s halt so hin. Wo’s die Geburt verfehlt, wird der Tod schon kommen. Verspielt ist da nichts, verloren geht nichts. Auf tausend und abertausend Umwegen – die wir Menschen so nennen – geht es doch zum Ziel. Wie sagt Lessing? ›Es ist nicht wahr, dass die kürzeste Linie immer die gradeste ist.‹ Lasst ihr Gott nur machen!«

»Verzeihen Sie noch einmal, lieber Vater«, sagte Marie mit halber Stimme, »wenn ich eine Frage tue – die vielleicht – — aber sagen muss ich’s. Sie sprachen von so einer ›Seele‹, die in einen erschaffenen Menschen kommt … Wie kann sie das? Ich fass’ es nicht. Der Mensch ist da, er hat Vater und Mutter, er hat von ihnen geerbt und von Ahnen und Urahnen – er ist sich selber genug. Wo wäre da Platz für die fremde Seele? Durch was für eine Tür tritt sie ein? Was ist sie? Wie kann sie ihr Wesen, ihr Leben mit diesem anderen mischen?«

Der Alte hob den gesenkten Kopf und bewegte sich, sodass ihm das Buch von den Knien glitt; er heftete dann seine tiefblickenden, feststehenden Seher-Augen auf das junge Gesicht.

»Das kann ich Ihnen nicht sagen, meine liebe Marie«, antwortete er ruhig. »Das ist Sein Geheimnis; von unserm Verstand ist das nicht zu fassen. Ich bescheide mich auch, such’ es nicht zu fassen. Wir sind hier, um zu leben, und ein wenig zu ahnen; nicht um zu wissen. Ich will euch ja nicht überreden; glaubt, was ihr wollt. Eben das tu’ ich auch. Kinder, ich bin alt; und andre für meinen Glauben zu werben war ich nie geschaffen. Ich hab’ nur einmal sagen wollen, eh’ ich euch davongehe, wie der Saltner gedacht hat; und das ist gescheh’n!«

Er stand auf. Während dieses Gesprächs hatte seine Stimme mehr und mehr ihren mundartlichen Klang, seine Rede ihre gemütliche Lässigkeit verloren; er hatte mit einer Klarheit und Feinheit gesprochen, die an ihm überraschte. Auf die Uhr blickend, die auf dem Kamin stand, wiegte er verwundert den Kopf; »hm!« sagte er, »ich hatte gedacht, es müsse später sein. Will nun aber doch geh’n; möchte nicht mehr sprechen. Nur noch ein Wort, liebes Kind. Sie finden so viele Rätsel in dieser mystischen Seelenwanderung; Sie haben auch Recht – und könnten noch manche dazufinden. Aber wo finden Sie keine? Die Welt ist ja voll davon, wie die Luft von Staub. Wie kommt so eine wandernde Seele, fragen Sie, in einen erschaffenen Menschen. Wie kommt in Ihre Hand ein Gefühl? In Ihr Gehirn ein Gedanke? Leben in die ›Atome‹? Das alles werden Menschen nicht wissen, eh’ sie nicht in eine reinere Geistersphäre treten. Wird das gescheh’n? Ich glaub’ es. Und seit ich es glaube, hab’ ich darauf hin gelebt. Seh’n Sie, mein Leben war nicht groß, hat nicht viel geschaffen; aber ein bisschen Arbeit, denk’ ich, hab’ ich doch gemacht für den Saltner, der kommen wird; für seine neue Gestalt, für seine Fortsetzung, mein’ ich. Ich hab’ mich bemüht, meine Fehler zu büßen, meine Schwächen zu unterdrücken, meine Kräfte zu stärken; kurz, die liebe Seele unverzagt und unentwegt bergan zu führen, so gut ich’s vermochte, dass sie dann, wenn die Stunde kommt, von einem höheren Stand, in etwas reinerer Luft von neuem aufstiegen mag. ›Reif sein ist alles‹, sagt derselbe Shakespeare in demselben König Lear. So möcht ich denen, die ich liebe, nur sagen: glaubt es oder nicht, aber denkt, es sei möglich, und lebt so, als wär’s gewiss! Lebt, euch reif zu machen! Sodass ihr euch sagen könnt in der letzten Stunde: meine arme Seele – was ihr geschehen wird, ich weiß es nicht; soll sie weiterleben, so hab’ ich das Meine getan, ihr den Weg zu bereiten. Ich hab’ nicht verzagt, wenn mich das Leben bedrängte, ich hab’ mein Gewehr nicht in den Graben geworfen, wenn es in den Kampf ging, bin nicht müde worden: meine Seele war mir wert genug, dass ich für ihr Heil, ihr Wachsen, ihre Läuterung kämpfte. Nun mag ihr gescheh’n, was da will; ich hab’ tapfer gelebt!«

Er hatte die Augen, während er dies sagte, nicht auf Marie gerichtet; jetzt aber sah er sie an, mit einem liebevoll lächelnden Blick. Sie verstand auch wohl, dass er vor allem für sie gesprochen hatte. Gerührt schaute sie zu ihm auf, und dann bewegt, beklommen vor sich hin.

»Gute Nacht, Marie!« sagte der Alte sanft und gab ihr die Hand.

Sie nahm sie, und während sie irgendwas daran zu betrachten schien, zog sie sie ein wenig empor, neigte sich und küsste sie.

»Gute Nacht!« sagte sie dann leise.

Er nickte allen zu und ging.

V. Kapitel

Der Tag nach diesem Gespräch verstrich nachdenklich still; jeder schien mit den Gedanken beschäftigt, die ein so geheimnisreicher, beinahe unerschöpflicher Stoff in ihm in Bewegung setzte, und jeder schien sie am liebsten für sich allein zu durchdenken. Der Alte selbst blieb fast den ganzen Tag auf seinem Zimmer, mit alten Papieren beschäftigt, aus denen er allerlei Erinnerungen ausgraben mochte. In Berthold war ein Phantasieren erwacht, wie er es seit den Knabenjahren nicht mehr gekannt hatte; sein junger Kopf spielte mehr mit dem Märchenhaften, das in der Theorie der Seelenwanderung gleichsam auf Schritt und Tritt aufzukeimen scheint, als dass er sich in ihre letzten Folgerungen zu vertiefen gesucht hätte. Zuletzt führten ihn diese Phantasien wieder zu seinem gegenwärtigen Lieblingsdichter, zu Turgenjew zurück, von dem er eine sonderbare Erzählung ›Visionen‹ gelesen hatte, worin zwar die Seele – eines Mannes – nur in nächtlichen Stunden abenteuerlich ›wandert‹ und wieder in ihre Hülle zurückkehrt, aber ein rätselhafter Spuk, der Geist eines Weibes, der sich ›Ellis‹ nennt, wie eine beunruhigte, liebesuchende, zuletzt vom grauenhaften Gespenst des Todes geängstigte und verfolgte Seele jenen Mann umgaukelt, umherführt, fast um Sinn und Vernunft , bringt, endlich scheinbar zu Fleisch und Bein wird und danach verschwindet. Dem Mann aber, der über sie grübelt, kommt es vor, als sei sie ein weibliches Wesen, das er vor Zeiten gekannt; zuweilen ist ihm, als sollte ihm gleich, im nächsten Augenblick einfallen, wo er sie schon geseh’n; jetzt – und jetzt – aber es kommt nicht – und alles zerstiebt wieder wie ein Traum. ›Ob auch Turgenjew‹, dachte Berthold, ›dabei die Seelenwanderung im Sinne hatte? Deutlich wird es nicht. Das Ganze versteh’ ich nicht.‹ Endlich verlor er die Ruhe, er lief mit dem Buch hinab, und da er Frau Marie in der ›Halle‹ fand, fragte er sie mit dem leichten Erröten, das ihn so oft in ihrer Gegenwart befiel, ob er ihr eine Geschichte vorlesen dürfe, die sehr wunderbar sei und über die er gerne mit ihr sprechen möchte.

Es war Nachmittag geworden und die schattigen Stunden kamen; auch Wittekind erschien jetzt, mit Hut und Stock, und richtete etwas befangen an Marie die Frage, ob ihr ein Spaziergang mit ihm und Berthold erwünscht sei.

»Ich danke Ihnen«, antwortete sie ohne Zögern; »der Morgen im Garten und das Umhergehen dort ist mir für heute genug. Ich will lieber anhören, was Ihr Sohn mir vorlesen möchte; er ist sehr brav, er ›bildet‹ mich!« setzte sie lächelnd hinzu.

Wittekind erschien dieses Lächeln so leicht, so froh, wie er es in diesen Tagen noch nicht an ihr gesehen hatte. Er suchte sich darüber zu freuen; stattdessen kam eine Art von Trübsinn über ihn, dessen er sich schämte und den zu verscheuchen ihm doch nicht gelingen wollte.

»So geh’ ich allein«, sagte er, sich äußerlich fassend und über die beiden hinblickend. »Meine Glieder verlangen noch nach Bewegung und Luft!« –

Er hörte einen Nebenklang in seiner Stimme, der die innere Bewegung zu verraten drohte, und eilte, hinauszukommen.

»Also auf Wiederseh’n!« rief er nur noch zurück, machte eine winkende Gebärde mit der Hand, deren Heiterkeit in ihrer zuckenden Unruhe unterging, und schritt aus der Tür.

Berthold glaubte zu fühlen, dass irgendeine Verstimmung seinen Vater drücke; er ahnte nicht, was es sein möge, aber es legte sich ihm selber auf die Brust. Nachdenkend trat er ans Fenster, und sah dem Davongehenden nach.

Die noch so schlanke, jugendlich kraftvolle Gestalt ging der Salzach zu, über die Karolinenbrücke, dann aber nicht zur Stadt, sondern nach links, stromaufwärts, neben dem Ufer hin. Es war derselbe Weg, den Berthold heute, wenn es dunkel ward, noch zu gehen hatte. Dieses Stelldichein mit Riedau und seinen Genossen war ihm über all den neuen Gedanken fast entfallen. Auf einmal kam es ihm nun in den Sinn, sodass er fast erschrak; als rührte sich zugleich eine böse Ahnung in ihm, ein Vorwurf gegen sich selbst – ein Missgefühl – irgendwas. Er drückte die Stirn an eine Fensterscheibe, wie um dieses Gefühl zu verdrängen, und vergaß, sonderbar genug, wo er sich befand.

»Nun? Sie wollten ja vorlesen!« sagte Marie endlich.

Berthold fuhr erschrocken herum. Er bat um Entschuldigung, setzte sich, und begann zu lesen. Es waren eben die ›Visionen‹, mit denen er gekommen war. Marie, in ihren Stuhl zurückgelehnt, die Augen fast immer auf den erregten Vorleser gerichtet, hörte aufmerksam zu.

Die Erzählung war lang; länger, als er gedacht hatte. Er erstaunte selbst, während er sie vortrug, wie sehr sie sich dehnte, und wie wenig ihre phantastische Verworrenheit sich entwirrte. Zuletzt las er nur noch mit Mühe und ohne Feuer, ohne Begeisterung. Als er das Ende erreicht hatte, holte er tief Atem und wischte sich über die Stirn.

Marie blieb noch eine Weile still.

»Ihr Vater hat Recht«, sagte sie dann plötzlich, ohne aufzublicken.

»Wie meinen Sie das?« fragte er betroffen.

Sie antwortete nicht sogleich, sondern deutete auf das Buch und sagte in anderem Ton:

»Diese Geschichte gefällt mir nicht, muss ich Ihnen sagen! Sie ist wieder geistvoll, merkwürdig, – gewiss, wie alles von Turgenjew; aber was ich nicht versteh’n kann, das bringt mich in eine gewisse Wut – verzeihen Sie – in eine Art von Empörung, mein’ ich; und diese ›Visionen‹ kann ich nicht versteh’n. Wie wunderbar verschwommen – wie slawisch. Finden Sie nicht auch?«

»Ich find’ es jetzt beinahe auch«, antwortete er verlegen.

»Wer ist Ellis? Was will sie?«

Er zuckte die Achseln und erwiderte:

»Ich weiß es nicht. – Ich dachte nur …«

Er sprach nicht zu Ende. Nach einem gedrückten Schweigen ermannte er sich, zu fragen:

»Erlauben Sie – warum sagten Sie denn vorhin: Ihr Vater hat Recht?«

Marie lächelte. Ihre Augen leuchteten liebenswürdig mild. —

»Muss ich Ihnen das sagen? – Es wird sich so ›belehrend‹ ausnehmen, als wär’ ich Herr Saltner.«

»Bitte, sagen Sie’s! dennoch!«

»Ach, ich wollte nur – — Lieber Herr Wittekind, warum vergraben Sie sich so sehr in diesen russischen Poeten? Ich bewundere ihn ja wie Sie; er ist nicht nur ein bezaubernder Menschenschilderer, auch ein feiner, ein edler Mensch. Ja, man muss ihn lieb haben! Aber die Welt, die er schildert, ist so unerfreulich; man sehnt sich nach frischen, gesunden, kernigen Menschen – nach Männern.« … Sie lächelte. – »Ich denke, Sie versteh’n mich nicht falsch. Übrigens, was ich da sage, gilt nicht dem Turgenjew, nur Ihnen. Lieben Sie denn die Dichter nicht, die so recht gewaltige Männer sind? Shakespeare? Schiller? Goethe?«

»Gewiss – natürlich – ich liebe sie«, stammelte Berthold, der seine heißen Wangen fühlte, ihre Röte zu sehen meinte. »Wie sollte ich denn nicht? – Aber eben jetzt lebe ich besonders in —«

»Eben jetzt – verzeihen Sie – sollten Sie das nicht tun!« —

Sie faltete die Hände und sah ihn bittend an, sodass er ihr durchaus nicht widerstehen konnte.

»Verzeihen Sie!« wiederholte sie. »Was tu’ ich da? Ich halte Ihnen auch eine ›Vorlesung‹ – ich Ihnen. Aber es will nun einmal heraus. Eben jetzt sollten Sie das nicht tun! In Ihren Jahren – — Alles, was kräftig, was groß, mannhaft, meinetwegen auch toll ist, das sollte Ihnen jetzt vor allem – — Ich tu’ Ihnen aber nicht gut. Sie sind furchtbar ernst geworden. Sie denken wohl: was will dieses Frauenzimmer? – — Grollen Sie mir nicht. Es kam nur so, weil ich Ihren Vater – — weil Sie – — weil ich Ihnen herzlich gut bin. Seien Sie so großmütig, so ›männlich‹, dass Sie mir verzeih’n!«

Im nächsten Augenblick erschrak sie sehr, denn Berthold, von einer jugendlichen Verrücktheit fortgerissen, warf sich vor ihr auf ein Knie und griff nach ihrer Hand, um sie an die Lippen zu drücken.

»Ich Ihnen verzeih’n!« stammelte er. »Wie könnte ich Ihnen zürnen! – Nein, ich danke Ihnen. Eine Frau – für die ich nur Verehrung – —«

Er hatte eine Hand auf sein Herz gelegt, wie um auszudrücken, dass da kein Groll zu finden, dass nur andre, ganz andre Gefühle da anzutreffen seien. Das Wort für diese Gefühle, schien es, schwebte ihm auf den Lippen. Sie legte ihm aber ihre Hand, die sie ihm entzogen hatte, auf den Mund und stand auf.

»Schon gut, schon gut!« sagte sie rasch. »Also Sie grollen mir nicht … Aber steh’n Sie auf. Ich glaub’ Ihnen auch so, dass Sie mir nicht grollen. Schwur oder Kniefall braucht es dazu nicht!«

Sie war errötet, sie suchte aber zu lächeln. Berthold erhob sich langsam; unklar, ob er in unwürdiger Weise lächerlich geworden, oder ob er im Recht gewesen sei, vor so einer Frau zu knien. Eh’ er noch ein Wort der Erwiderung fand, schlug hinter ihm auf dem Kamin die Uhr. Er sah auch, dass die Nacht hereinbrach. ›Ich muss fort!‹ dachte er bestürzt. ›Riedau hat mein Wort!‹

»Sind Sie böse?« fragte er.

»O nein!« antwortete sie harmlos offenherzig; mit einer ihr entschlüpfenden Heiterkeit, die zu sagen schien: mich freut wenigstens, dass du doch auch so toll sein kannst! – »Nur bei einem zweiten Mal«, fuhr sie fort, »würd’ ich böse werden; und dann so, dass es aus wäre. Aber ein zweites Mal werden Sie’s ja nicht tun. – Warum nehmen Sie Ihren Hut?«

»Ich muss noch fort«, entgegnete er, in die Luft blickend. »Ich hab’ jemand versprochen – — Zum Nachtmahl komm’ ich wohl etwas spät zurück.«

»Sie wissen ja, in diesem Haus herrscht Freiheit«, erwiderte sie.

»Ja freilich.«

Er sah auf seine Füße; dann wandte er sich, um zu geh’n; es zog ihn aber noch einmal herum, und mit einem treuherzigen, reinen Feuer sahen seine hellen Augen sie an.

»Verzeihen Sie nur noch ein Wort«, sagte er mit einer Anstrengung, die ihm das Blut in die Wangen trieb. »Alles, was groß und mannhaft ist, sagten Sie … Ich fühle sehr gut, was Sie meinen. Sie haben mir einen Messerstich in die Brust gegeben … Aber darauf kommt es nicht an; von Ihrer Hand – — Das ist es auch nicht, was ich sagen will. Ich wollte Ihnen nur versichern–«

Stolz oder Scham machte ihn wieder stumm. Marie, die eine Hand auf die andre gelegt hatte, wartete eine Weile.

»Sprechen Sie doch«, sagte sie dann herzlich.

»Ja – das will ich auch tun. ›Mannhaft‹ … Ich glaube gern – das heißt, nicht gern – es fehlt mir noch manches zu einem rechten Mann; glauben Sie mir, ich fühle das selbst. Ich fühlte es auch gestern Abend, als dieser herrliche Mann – den ich nach meinem Vater am meisten verehre – der Herr Saltner – als er von der großen Aufgabe unsres Lebens sprach: ›unverzagt‹ – ›unentwegt‹ – dass man kämpfen soll und nicht müde werden – und ›ich habe tapfer gelebt!‹ – O, ich fühl’ es oft, ich lebe noch nicht, wie ich soll; man muss mich verachten … Schütteln Sie nicht den Kopf. Man muss mich verachten. Streiten Sie mir das nicht ab. Aber nur für jetzt; – ich werde doch noch ein Mann! Und wenn die Stunde kommt, werd’ ich es beweisen; werde unverzagt – — Aber nur nicht prahlen!« unterbrach er sich plötzlich und zerdrückte seinen weichen Hut. »Ich meinte nur – — Also das wollte ich nur sagen. Und so leben Sie wohl!«

Er kam mit gutem Glück aus der Tür, obwohl ihm seine Glieder kaum gehorchen wollten, und blickte nicht mehr zurück. Draußen sog er begierig die frische Luft in sich ein, und begann sogleich mit großen Schritten zu geh’n. Es belebte ihn das Gefühl, dass er sich ausgesprochen, die Worte gefunden hatte; dass er sich nicht unwürdig benommen, dass nun die schöne Frau doch wohl denken musste: ja, er wird noch ein Mann! – Die abendliche Kühle, die von der Salzach und von den Bergen kam, erfrischte ihn bis ins Herz; ihm schienen Schwingen zu wachsen, am Körper und an der Seele; ein Tatendurst überfiel ihn, ein anschwellendes Verlangen nach etwas Unerhörtem, das noch kein Mensch erlebt hatte, das nur Berthold Wittekind erleben konnte.

Etwas Gewaltiges, bei dem Weiberseelen schaudern; aber ein Jüngling, den die Ehre treibt – den, niemand mehr belächeln oder verachten soll – der tritt diesem ungeheuren Schicksal, oder was es sein mag, unverzagt, unentwegt entgegen und bietet ihm die nackte Brust. ›Ja, Marie! Marie!‹ dachte er, ›du sollst mich noch achten, meinen Mut bewundern! Vater, du sollst noch sagen, er ist doch ein Mann! Und dieser weißbärtige Moses soll mir noch freundlich zu nicken: du hast tapfer gelebt!‹

Über solchen Gedanken vergaß er ganz, was ihn auf diesen nächtlichen Spaziergang hinausgetrieben hatte; er ging immer weiter, wie von seinen Flügeln getragen, in die völlige Nacht hinein. Der noch wachsende, fast gefüllte Mond stand hoch, hier und da schimmerten große Sterne, die kleinen erschienen nicht; zuweilen, wenn der Wald sich öffnete, in dem er dahinging, stiegen rechts in den nachtblauen Himmel bleiche Silberwellen auf, die fernen Schneegebirge, die das waldige, schwärzliche Bergland überragten. Berthold hatte sie schon mehr als einmal gedankenlos angestaunt und seine Wanderung fortgesetzt; als er endlich wie aus einem Rausch erwachte, blieb er betroffen steh’n. ›Wo bin ich denn?‹ dachte er. ›Ich will ja an die Salzach.‹ … Der Fluss hatte ihn verlassen, oder er den Fluss; der Pfad war durch den Wald mehr landein gegangen, die Stelle, wo Berthold ihn verlassen und am Ufer fort stroman geh’n sollte, lag offenbar schon hinter ihm. Wie weit, ahnte er nicht. Er wusste nur, zur Linken strömte der Fluss; und gar entfernt konnte er nicht sein. ›Wenn ich quer durch den Wald zur Salzach gehe‹, dachte er, ›so ist wohl nicht viel versäumt; ich gehe dann von da stromab, statt stromauf, und komme so von rückwärts an den bestimmten Platz. Vielleicht hab’ ich ihn bald!‹ Er verließ den Weg, den der Mond erhellte, und trat in den dunkleren Wald. Hier musste er langsam geh’n; denn der weiche, mit Nadeln und Moos bedeckte Boden war uneben, und die eingestreuten Lichter des Mondes, mit den schwärzlichen Schattenflecken wechselnd, verwirrten das Auge mehr, als sie es leiteten. Vorsichtig, beinahe geräuschlos wand er sich zwischen den Bäumen durch, die bald enger, bald weiter standen und zwischen denen allerlei Gebüsch emporwucherte. Auf einmal sah er den Fluss, auf dessen bleich grauem, ölig fließendem Wasser hier und da ein blassgoldenes Mondflämmchen huschte. Er war ganz nahe am Ufer, das ihm bisher das Unterholz verdeckt hatte. ›Nun wend’ ich mich links‹, dachte er, ›und gehe mit dem Strom!‹ – Da hörte er eine leise Stimme, so nahe, dass er erschrak. Hinter dem nächsten Busch, über der tiefer fließenden Salzach, schien sie zu sprechen; nicht flüsternd, aber tonlos, in tiefem Bass. Jetzt erkannte er sie auch schon: es war Metzners Stimme.

»Länger wart’ ich nicht!« brummte dieser harte ›Wachtmeisterbass‹, bei aller Gedämpftheit vernehmlich. »Kommen wir zur Sache!«

»Riedau kommt noch«, flüsterte eine andere Stimme.

Es musste die des Afinger sein.

»Geh’ mir mit dem Mohrengesicht!« brummte Metzner wieder. »Dem trau’ ich nicht! Dem trau’ ich nicht! Ich sag’ dir’s zum letzten Mal! Lass’ mir den aus dem Spiel!«

›Was ist das?‹ dachte Berthold überrascht, verblüfft, und der Fuß, den er schon bewegen wollte, blieb steh’n. ›Die sagen das, was ich selber dachte? – Was sagt denn Afinger?‹ – Er stand und horchte, ohne sich zu regen.

»Du bist verrückt«, flüsterte Afingers etwas erregte Stimme.

»Ich bin durchaus nicht verrückt«, entgegnete der andre. »Frag’ Grabowski: dem hat einer erzählt, dass Riedau neulich abends spät vom Polizeidirektor herausgekommen ist. Was hat er da zu tun? – Wovon lebt er jetzt? Von seinen ›Ersparnissen‹? Unsinn! Die sind längst verraucht und vertrunken. Was sollen wir mit diesem Mulatten und seinen Schakalsaugen? Wozu hast du uns den gebracht? Weil er dir immer nach dem Munde spricht; weil er sein wulstiges Maul nicht auftut, ohne dich zu bewundern. Hab’ ich Recht, Grabowski?«

»Hast Recht«, sagte eine dritte Stimme, etwas lauter. »Er ist ein V—V—Verräter!«

»Ein Verräter«, flüsterte Afinger, dem Stotterer nachäffend. »Ihr gönnt ihm seine guten Kleider und mir seine gute Meinung nicht. Darum gehört er zur Polizei!«

»Zum Teufel, so streitet doch nicht!« murmelte eine vierte Stimme, die Berthold nicht kannte. »So kommen wir nicht vom Fleck. Darum bin ich nicht nach Salzburg gezogen, um zu hören, wie ihr euch selber verkeilt, statt den andern zu Kleid’ zu geh’n. Wollen wir die allerhöchste Herrschaft nun anfassen oder nicht?«

Berthold rauschte es auf einmal in den Ohren. ›Was heißt das?‹ dachte er. Er konnte sich nicht rühren.

»Nu, das sag’ ich ja!« rief Metzner aus; er fuhr aber, auf ein leises Zischen der andern, wieder tonlos fort. »Geh’n wir doch nicht länger um den Brei herum; mir ekelt schon vor uns selbst. Die Bomben sind lange da, alles ist besprochen, alles ist abgemacht; – wer zögert denn noch immer? Dieser Afinger! – Warum? Weil’s ein ›braver Herr‹ ist? Das geht doch uns nichts an. Die gekrönten Häupter müssen alle herunter, sonst kann uns in dieser Welt nicht geholfen werden. Mit dem fangen wir an, weil er der Nächste ist. Hab’ ich Recht, Grabowski?«

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Дата выхода на Литрес:
04 декабря 2019
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440 стр. 1 иллюстрация
Правообладатель:
Public Domain

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