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*

Auf der Autobahn ignorierte er so manche Geschwindigkeitsbegrenzung. Beschwingt trällerte er das Lied aus dem Autoradio mit.

Das kaum merkbare Vibrieren, das er seit dem Morgen im Lenkrad vernahm, verstärkte sich mit jedem Kilometer.

›Die Kiste gehört zum Service‹, dachte er und ignorierte das Flattern. Die Silhouette, die er auf der Brücke erspähte, half ihm dabei. Sie rief Vorfälle in sein Gedächtnis, bei denen Pflastersteine auf Fahrzeuge geworfen wurden.

Er beugte seinen Oberkörper vor, den Blick so lange wie möglich auf die Gestalt gerichtet, während er unter der Brücke hindurchraste.

›Du wirst paranoid‹, dachte er und schüttelte indigniert den Kopf.

Unbewusst suchte er die folgenden Brücken nach Personen ab, erspähte jedoch niemanden.

Mit zwei Fingern steuerte er der Überholspur entlang. Die Vibrationen des Volants massierten seine Hand.

Plötzlich verdrehte sich das Lenkrad.

Adrenalin jagte seinen Puls in astronomische Höhen.

Er benötigte zwei Fahrspuren, um das Auto in der Spur zu halten. Klug drehte wie verrückt am Volant, aber sein Gegenlenken verstärkte das Schleudern, anstatt es zu mindern. Die Musik im Inneren überdeckte das Wimmern der Reifen.

Sein Wagen prallte gegen die Mittelleitplanke, hob ab und rollte um die Längsachse.

Alles schien ab diesem Moment in Zeitlupe abzulaufen.

Hatte seine letzte Stunde geschlagen?

Wenn ja, dann müsste doch sein ganzes Leben im Geiste vorüberziehen.

Im Gegenteil: Mit schreckgeweiteten Augen sah er die Leitschiene über ihm vorüberjagen.

Kopfüber flog er auf den Brückenpfeiler zu.

Plötzlich umgab ihn unendliche Stille.

2

Der Mann humpelte im Intercity an den Sitzreihen vorüber. Wiederholt stützte er sich auf seinen Gehstock. Als er zwei freie, gegenüberliegende Sitzplätze fand, klemmte er den Stock hinter die Lehne und bedeutete seiner Begleiterin, Platz zu nehmen. Er unterdrückte ein Stöhnen und ließ sich auf den Sitz gleiten.

»Schmerzen?«, erkundigte sich Sarah Mutes fürsorglich.

»Danke der Nachfrage – es geht«, erwiderte Peter Holzinger mit leidender Miene und nahm beide Hände zur Hilfe, um sein Bein in den Fußraum zu ziehen.

»Du hast nie erzählt, wie es zu dem Unfall kam.«

»Sarah, ich spreche nicht gerne darüber. – Na schön, wenn du es unbedingt wissen möchtest: Im Jänner war ich am Penkenjoch. Es war ein idealer Tag, um mit dem Gleitschirm zu fliegen. Ich startete mit angeschnallten Skiern, fand schnell den von mir erhofften Aufwind und drehte einige Runden über der Bergstation. Ich flog hinunter zur Mittelstation, wo mir die Gäste aus der Schirmbar zuwinkten. War lustig. – Nach einer Stunde steuerte ich die Wiese vor Mayrhofen an, um zu landen. Wie es der Teufel haben wollte, verkantete ich bei der Landung mit den Schiern im Tiefschnee und das rechte Bein wurde plötzlich festgehalten. Mein Körper verdrehte sich und die Zugkraft des Schirmes ließ mir keine Chance. Ich konnte hören, wie die Kreuzbänder mit einem lauten Schnalzen rissen. Wie sich später herausstellte, fädelte ich unter der obersten Drahtverspannung eines Weidezaunes ein. Im Krankenhaus stellte man die Ruptur sämtlicher Bandstrukturen mit knöchernen Ausriss fest und einen Bruch des Knöchels. Während der mehrstündigen Operation nähten sie den zerfetzten Meniskus wieder zusammen, fixierten das Knie mit fünf Titanschrauben und die restlichen stecken im Fußgelenk.«

Nachdenklich kratzte er an seinem Vollbart.

»Oh Gott! – So detailliert wollte ich das nicht wissen. Wirst du in Zukunft deinen Schirm an den Nagel hängen?«

»Sarah – wo denkst du hin?!« Peter massierte sich das Knie.

»Der Unfall hat mehr mit Skifahren zu tun, als mit dem Gleitschirmfliegen. – Es ist zum aus der Haut fahren.«

Er schaute aus dem Fenster.

»Bald bin ich die Schrauben los, und dann wird alles wieder gut. – Schau, wir sind gleich am Flughafen Schiphol.«

»Von welchem Terminal fliegen wir ab?«

»Vom Pier B starten wir Richtung Heimat.«

Dumpf erklang die Melodie des River-Kwai-Marsches. Peter fingerte sein Mobile aus dem Sakko hervor und warf einen Blick auf das Display, auf dem der Name ›RICHARD‹ blinkte.

»Hallo. Das ist eine Überraschung: der Rentner, Oberst Tomacic. Wie geht es dir?! Angelst du noch immer ohne Köder?«

»Natürlich. Ein Wurm hat auf meinem Haken nichts verloren. Ich verletze doch kein Fischerl. Oder glaubst du, dass Fische schmerzunempfindlich sind, weil sie nicht schreien können? Lassen wir das … ich gratuliere dir zur Beförderung zum Verbindungsoffizier im Rahmen der Europol. Deine Karriere gefällt mir – bin mächtig stolz auf meinen ehemaligen Schützling. – Ich habe gehört, dass ihr ein neues Büro bezieht?«

»Danke, danke. Unsere Abteilung ist ab sofort direkt dem Innenministerium – inklusive Sonderbefugnissen – unterstellt. Zudem haben sie mir zusätzlich die Koordination von Central-South-Europe umgehängt. Wir haben den Antrittsbesuch absolviert und das Briefing für unseren ersten Fall erhalten. – Übrigens, Sarah sitzt mir gegenüber. Ich soll liebe Grüße ausrichten. Wir fahren im Intercity von Den Haag zum Amsterdamer Flughafen. – Ich hoffe, du besuchst uns bald in den neuen Räumlichkeiten.«

»Sicherlich, Herr Oberstleutnant. Hast du schon ein Team zusammengestellt?«

»Meine Crew besteht im Augenblick aus drei Personen. Sarah, Perez und mir … «

»… Perez? Du meinst doch nicht Oberleutnant Lucas Perez, diesen jungen, vielsprachigen Latino-Computer-Fuzzi, der uns seinerzeit geholfen hat?«

»Ja, von dem spreche ich. – Er ist mittlerweile Hauptmann.«

»Der ist nett, aber auch ein wenig eigenartig. Bewarb er sich nicht bei der Europol in Den Haag?! Wieso ist er in deinem Team?«

»Du kennst ihn ja. Was du ihm seinerzeit prophezeit hattest, ist eingetreten. Er wollte nicht mehr länger im Headquarter bleiben, um an einer Verdächtigen-Datei zu Analysezwecken zu arbeiten, die das Prinzip der Unschuldsvermutung umkehrt. Er hat von dieser Stadt die Schnauze voll und nahm – ohne viel nachzudenken – mein Angebot an.«

»Na ja, dann sind die Bärtigen unter sich. Trägt er noch immer Nickelbrille und sein komisches Baseballkapperl?«

»Yepp. Die Kappe noch immer verkehrt herum.«

»Manche ändern sich nie. Er ist zwar ein hervorragender Analytiker, aber ich warne dich: Er verlässt gerne ausgetretene Pfade. Viel früher als du. Daher mein Rat, seid auf der Hut.«

»Danke. Ich kenne ihn nur zu gut. Wir haben gemeinsam die Ausbildung für leitende Beamte an der FH Wiener Neustadt absolviert. – Außerdem: Du weißt, auf deinen Ratschlag höre ich immer …«

»… seit wann?«, fiel ihm Richard amüsiert ins Wort.

»Bitte keine Geschichten aus vergangenen Zeiten aufwärmen. Apropos Lucas: Er sucht eine Absteige in Wien, denn die elterliche Wohnung ist vermietet …«

»… Ach ja, stimmt. Seine Alten übersiedelten zurück nach Barcelona. Ich hätte das Obergeschoss frei – wenn er will, kann er bei mir einziehen. Ich sage es aber gleich: Mit dem Internetanschluss hapert es: Glasfaserkabel gibt es bei mir nicht.«

»Wir treffen ihn am Flughafen. Ich werde dein Angebot weiterleiten. – Richard wir rollen in Kürze in die Station ein. Ich melde mich, wenn wir in Wien sind.«

»Okay. Mach das. Ich wünsche euch viel Erfolg und einen angenehmen Flug.«

»Danke. Ciao.«

Peter steckte sein Telefon weg und stieß dabei an seinen Gehstock. Mit einem lauten Poltern fiel er zu Boden und blockierte den Mittelgang. Eine junge Frau sah das Hindernis zu spät und stolperte darüber.

Im letzten Augenblick stützte sie sich auf der freien Sitzfläche neben Sarah ab. Peter griff instinktiv nach ihrem Unterarm. Das Bettelarmband, das zahlreiche Anhänger zierten, stach ihm ins Auge. Er erkannte den Pariser Eiffelturm, das Wiener Riesenrad mit roten Gondeln und einen Halbmond.

»Entschuldigung«, presste er schuldbewusst hervor, griff nach seinem Stock und zog ihn zu sich.

Die attraktive Frau bedachte ihn mit fuchsteufelswilden Blicken, rappelte sich auf und klemmte entrüstet eine Haarsträhne hinter das Ohr.

»Verdomme! Kann niet voorzichtiger zijn!«

Verdattert starrte Holzinger in ihr makelloses Gesicht, das von einem rotblonden Pony umrahmt wurde. Die Stupsnase, die vollen Lippen und die grünen Augen ließen ihn fragen: »Claudia?«.

»Nee, mijn naam is niet Claudia«, zischte die junge Frau und eilte Richtung Ausgang davon.

In Peters Kopf herrschte heilloses Durcheinander. Erstaunt schaute er ihr nach, bis ihn Sarahs Stimme in die Gegenwart zurückholte.

»Peterle, du siehst aus, als wärst du einem Geist begegnet. Hab´ ich richtig gehört? Du sagtest soeben ›Claudia‹?«

Peter nickte.

»… Du hast geglaubt, deiner Exfreundin zu begegnen?«

»Ja, für einen Moment dachte ich, dass es sie gewesen wäre.«

»Ich erinnere mich. War sie nicht Redakteurin beim ›KURIER‹? Das muss gut zwei Jahre her sein … Weißt du, wie es ihr geht?«

»Nehme an: gut. Sie hat die Leitung des neuen KURIER-TV-Senders übernommen. – Wir sind da. Komm, lass´ uns aussteigen. Beeile dich, wir sind spät dran!«

»Soll ich dir deinen Kofferrolli abnehmen?«, bot ihm Sarah an, während sie zum Ausstieg drängten.

»Nein, geht schon. Möchtest du vorlaufen?«

»Wir bleiben zusammen … «

»Raus hier …«

*

Sarah legte ein beachtliches Tempo vor. Wie ein weidwund geschossenes Tier humpelte Holzinger seiner Kollegin hinterher.

Routiniert checkten sie am nächstgelegenen Automaten ein. Von Perez keine Spur. Sie hasteten an den zahlreichen Duty-Free-Shops vorüber und passierten die Sicherheitskontrolle, die Peter die erste Verschnaufpause bot. Am Gate war das Boarding voll im Gange.

»Hast du Lucas schon entdeckt?«, wollte Sarah wissen und blickte sich um.

»Nein. Vielleicht ist er bereits in der Maschine«, presste er zwischen den Zähnen hervor und massierte sich sein Bein. »Er weiß, dass ich den Flug umgebucht habe. Wenn nicht, dann muss er schauen, wie er nach Wien kommt.«

Peters unrhythmischer Schritt dröhnte in der Fluggastbrücke. Kurz vor dem Einstieg in den Airbus A321 stauten sich die Passagiere. Holzinger klopfte fortwährend mit dem Gehstock auf den Boden, wofür ihn einige Fluggäste mit verächtlichen Blicken und indigniertem Kopfschütteln straften. Er holte tief Luft, unterdrückte ein Augenrollen und stützte sich auf seine Krücke.

»Ruhig Brauner, ruhig«, raunte ihm Sarah zu und strich besänftigend seinen Rücken entlang.

»Wir haben Reihe 25 – A, B, C. Beim Emergency-Exit«, murmelte er zurück.

Beim Umbuchen der Tickets bestand Peter auf eine Sitzreihe bei den Notausgängen, weil sie mehr Beinfreiheit bieten. Eine wesentliche Erleichterung während eines zweistündigen Fluges nach Wien.

An der Kabinentür begrüßte sie eine Stewardess in rotem Outfit.

»Soll ich ihn in den Stauraum stellen?«, fragte die Flugbegleiterin und deutete auf den Gehstock. Mit einem breiten Lächeln auf den Lippen reichte Peter ihn ihr.

Sitzreihe um Sitzreihe hantelte sich Holzinger durch die Business-Class. Plötzlich entdeckte er auf der rechten Seite das hübsche Gesicht aus dem Intercity. Eine Sekunde lang trafen sich ihre Blicke. Indigniert wendete sich die junge Frau ab, beugte sich vor und starrte durch das Fenster auf den Vorplatz, wo die Fluggastbrücke zum Abdocken vorbereitet wurde.

Peter legte seine Stirn in Falten. Das war nicht Claudia, denn die hätte zumindest zurückgelächelt. Doch der Mond, zwischen dem Riesenrad und dem Eiffelturm an ihrem Handgelenk faszinierte ihn.

*

Lucas saß auf seinem Sitzplatz, vertieft in die Bordbroschüre. Er zog seine Mundwinkel nach oben, als er seinen Chef auf sich zu humpeln sah.

»Se … Servus. Darf ich dir helfen«, grüßte Perez stotternd, sprang auf, schnappte sich Peters Koffer und wuchtete ihn in die Ablage. »Wo willst du sitzen?«

»Ich setze mich in die Mitte. Sei nett und hilf Sarah.«

Holzinger ließ sich stöhnend wie ein Greis auf den mittleren Sitzplatz fallen.

Noch bevor der Flieger zur Startbahn rollte, waren sie in ihren Small Talk vertieft.

Lucas erzählte, dass er in nur drei Stunden seine Habseligkeiten in sechs Kartons verpackt hatte. Am schwierigsten gestaltete sich das Verstauen seines geliebten Computers. Die Spedition markierte diese Kiste mit einem roten Verpackungsband, auf dem das Wort ›FRAGILE‹ und ein Trinkglas aufgedruckt waren.

Lucas ergänzte mit einem dicken Filzstift: ›VORSICHT: MEIN LEBEN!‹

»Übrigens, ich habe vorhin mit Richard Tomacic telefoniert. Sein Obergeschoss steht nach wie vor leer. Wenn du willst, kannst du bei ihm einziehen.«

»Da … Das ist ein tolles Angebot.«

»Er lässt dir jedoch ausrichten, dass er über keinen Glasfaseranschluss für das Internet verfügt.«

»Strea … Streaming ist zwar nicht meine Welt, aber für Suchläufe in umfangreichen Datenbanken könnte es ebenfalls zu wenig sein – Schick mir bitte seine Nummer.«

Die Triebwerke heulten auf. Die Beschleunigung des Flugzeuges drückte sie in die Sitze. Bei 280 km/h hob der Flieger ab und zog polternd das Fahrwerk ein.

»Lucas, hör zu, ich informiere dich kurz über unseren ersten Auftrag.« Peter holte tief Luft. »Am kommenden Wochenende veranstaltet der Economy-Club einen Kongress in Laxenburg bei Wien. Wir sind mit der Personenschutzabteilung für die Sicherheit der Besucher verantwortlich. Prinzipiell ein Routinejob …«

»E … Economy-Club?«

»Der EC ist ein Verband von Wirtschaftsbossen aus der ganzen Welt. Von Wirtschaftsprognosen über Trendforschung bis hin zu Netzwerkbildung.«

»Ve … Verstehe.«

Peter blätterte in den Unterlagen. »Aber: Vor einem halben Jahr verschwand im Mittelmeer ein Vorstandsmitglied des Clubs bei einem Segeltörn. Seine verlassene Jacht fand man unversehrt zwischen Korsika und Mallorca im Meer treibend. Ihn hat man bis heute nicht gefunden. – Vor zwei Monaten kam ein weiterer in Deutschland bei einem Verkehrsunfall ums Leben. Der Wagen hat sich bei hohem Tempo auf der Autobahn aus unerfindlichen Gründen überschlagen. Nachdem beide diesem ›Economy-Club‹ angehörten und sich die mysteriösen Unfälle in zwei verschiedenen Ländern der Europäischen Union ereignet haben, ist der Fall bei der Europol gelandet. Sonst ergaben sich keine Gemeinsamkeiten, aus denen sich eine brauchbare Theorie ableiten ließe …«

Holzinger schloss die Luftdüse, die ihm ins Gesicht blies.

»… Jetzt kommt`s: Deine Aufgabe ist es, die Teilnehmer zu durchleuchten. Vielleicht finden wir neue Anhaltspunkte. Wenn nicht, gehen die Fälle zurück an die örtlichen Behörden. Schau dir die Lebensumstände der Mitglieder an. Inoffiziell vermutet man, dass es sich bei beiden Unfällen um keine Zufälle handelt. Ich nehme an, dass du nichts Neues entdecken wirst, aber man weiß nie ...«

Lucas hatte aufmerksam zugehört, kratzte sich am Bart, lüftete seine New-York-Yankee-Kappe und zog sie tiefer in die Stirn. Tausend Fragen lagen ihm auf der Zunge.

»Du ... Du sprichst von einem Routinejob. Wie kreativ darf ich meine Recherche anlegen?«

Holzinger erahnte sofort den Hintergedanken des IT-Spezialisten. »Routinejob! – Halte dich an die gesetzlichen Vorgaben. Kein Hacken!«, erstickte er mit harschem Unterton Lucas' aufkeimende Einwände. »Lass die Kirche im Dorf. Analysiere die Akten, aber handle keinesfalls eigenmächtig. Haben wir uns verstanden?«

»Vo … Von wem bekomme ich die gesammelten Unterlagen? Und vor allem: Auf welche Datenbanken werde ich autorisierten Zugriff haben?«, lotete er indigniert die Grenzen aus. »Nur auf die der Behörden oder auch auf die der Unternehmen?«

»Ein Großteil der Protokolle liegt bereits auf dem Server in Wien.« Peter kratzte sich an seinem Bart. »Die Freigaben erhältst du morgen in der Früh. Man hat mir versprochen, dass wir uneingeschränkten Zugriff auf alle relevanten Daten haben. Von den Firmen haben wir keine Erlaubnis, unser Material mit dem ihren zu vergleichen. Ich benötige deinen Bericht sobald wie möglich.«

»O … Okay, Chef.« Lucas schüttelte den Kopf und schob die Nickelbrille zur Nasenwurzel hinauf. »Habe kapiert – Nachtarbeit.« Die Enttäuschung war ihm ins Gesicht geschrieben.

»Ach ja, beinahe hätte ich es vergessen: Morgen um zehn Uhr ist das Meeting mit dem Vorstand des Clubs angesetzt: Voss, Morrison und Costa. Seid bitte pünktlich ...« Peter beugte sich vor und massierte sein Knie. Er verzog sein Gesicht. Mit beiden Händen hob er seinen Oberschenkel an, um den Kniewinkel zu verringern.

»Schmerzen?«, erkundigte sich Sarah.

»Es geht …« Holzinger atmete tief ein. »… Wenn ich das Bein längere Zeit nicht bewege, dann pocht es unaufhörlich. Das nervt.«

»Was sagt dein Physiotherapeut?«

»Der ist zufrieden«, presste Peter mit leidender Stimme hervor. »Er meint, meine Fortschritte sind größer als bei manch anderen mit der gleichen Verletzung. Die Chance lebt, dass ich das Knie bald wieder vollends abbiegen kann. Bis dahin wird mich der Gehstock begleiten.«

Mutes sah ihn mit zusammengekniffenen Augenbrauen von der Seite an und klopfte ihm fürsorglich auf den Oberschenkel.

»Wie ich dich kenne, wirst du den Stock bald nicht mehr benötigen.«

»Ich arbeite daran. Wie erwähnt, alles wird besser – im Anschluss an die OP.«

Sarah wechselte das Thema und erkundigte sich, wie sich ihr Chef den genauen Zeitplan für die nächsten Tage vorstellte.

»Keine Sorge, die Konferenz findet am Donnerstag und Freitag statt.« Peter lächelte. »Die Chancen stehen gut, dass du das komplette Weekend mit deiner Familie verbringen wirst.« Er hatte die Hintergedanken seiner Mitarbeiterin erraten und tätschelte ihre Hand.

»Klingt gut …« Sie wandte sich nickend dem Fenster zu.

Fasziniert verfolgte sie die bizarre Jagd der Nebelschwaden, die mit enormer Geschwindigkeit über die beleuchtete Tragfläche hinwegschossen. Die unentwegten Turbulenzen versetzten dem Flugzeug harte Stöße. Der Flug glich einer Busfahrt entlang desolater Gemeindestraßen.

Der Gong riss sie aus den Gedanken. Der Kapitän teilte seinen Passagieren mit, dass sie soeben Linz überflogen haben.

»… wir landen planmäßig in 25 Minuten. Das Wetter in Wien: Die Außentemperatur beträgt minus 1°, es ist bedeckt mit leichtem Schneegriesel«, tönte es aus den Lautsprechern.

»Gut, dass du unsere Flüge umbuchen konntest. Jetzt sind wir vier Stunden früher als geplant in Wien«, bemerkte Sarah rhetorisch und starrte weiter in die Dunkelheit hinaus.

*

Unterhalb der Wolkendecke ließen die Turbulenzen nach. Die Landschaft war nicht zu erkennen, aber vereinzelt erspähte sie die Lichter verstreuter Dörfer. Das Flugzeug rumpelte und ächzte, als das Fahrwerk ausgefahren wurde. Die ersten Straßenzüge, der in ein rötlich flirrendes Lichtermeer getauchten Großstadt, schoben sich langsam in ihr Blickfeld.

Sarah wollte gerade Peter die hell erleuchtete Raffinerie Schwechat unter ihnen zeigen, als ein Knall das gleichmäßige Surren im Inneren des Flugzeuges verschluckte. Im nächsten Augenblick sackte die Maschine ab.

Die Aufschreie aus zahlreichen Kehlen ließen die Flugzeugkabine erbeben. Der Flieger war extrem zur Seite gerollt. Der linke Flügel zeigte steil nach unten.

Sarah umklammerte die Armlehnen mit all ihrer Kraft; presste sich in den Sitz.

Mit schreckgeweiteten Blicken sah sie, wie sich die Landeklappen hoben und senkten. Schließlich stabilisierte sich die Fluglage. Ab diesem Moment beutelten heftige Vibrationen den Airbus A 321 und ließen die Tragflächen zitternd auf und ab schlagen.

Ihr Puls raste. Mit vor Angst aufgerissenen Augen starrte sie aus dem Fenster. Funken sprühten aus dem linken Triebwerk, einem Kometenschweif gleich. Sie tauchten den nahen Boden in ein gespenstisch flackerndes Licht.

Sarah schnappte sich Peters Hand, und drückte so fest zu, dass ihre Knöchel weiß hervortraten. Sie wies mit ihrem Kopf erschrocken auf den Flügel hinaus.

Holzinger beugte sich gerade zum Fenster, als die Stimme des Flugkapitäns seinen Passagieren befahl, die Sicherheitsstellung für eine Notlandung einzunehmen. Geschockt hielt Peter das schadhafte Triebwerk im Blickfeld, aus dem bereits meterlange Flammen schlugen. Beißender Kerosingeruch stieg ihm in die Nase.

Plötzlich erschütterte ein vehementer Schlag den Flieger.

Wieder schrien die Fluggäste auf.

Der Touchdown war hart. Das schwere Flugzeug schlingerte die Rollbahn entlang. Die Bremswirkung ohne Schubumkehr war nicht so fulminant wie von früheren Landungen gewohnt.

Bevor die Maschine zum Stillstand kam, ertönte bereits die angespannte Stimme des Stewards. Er wies die Passagiere an, ausschließlich die vier Fluchtwege auf der rechten Seite zu benützen.

Knapp vor dem Ende der Landebahn kam der Flieger zu stehen. Die Flugbegleiterinnen stürzten durch den Gang und rissen die Notausgänge auf. Mit einem Knall öffneten sich die Notrutschen. Der Mittelgang füllte sich in Sekunden mit ängstlich brüllenden Passagieren, die rücksichtslos zu den Luken drängten.

»Lassen Sie Ihr Gepäck liegen!«, mischte sich die Ansage aus den Lautsprechern wiederholt in den Lärm. »Geen Bagage! No Luggage!«

Holzinger und seine beiden Mitarbeiter waren bei den Ersten, die das Flugzeug verließen. Peter zog Sarah an sich vorüber, versetzte ihr an der Luke einen Stoß. Er sprang hinterher. Am Ende der Notrutsche landeten sie unsanft im nasskalten Gras.

Sirenen heulten aus allen Richtungen. Mit ohrenbetäubendem Getöse traf ein Einsatzwagen nach dem anderen ein. Die Besatzungen bedeuteten händeringend den Flüchtenden, sich im Laufschritt von der Unglücksmaschine zu entfernen.

»Lauft! Lauft!«, riefen die Helfer durcheinander. »Hierher! Schnell! Schneller! This way! Hurry! Sneller daar!«

Peter ruderte mit den Armen, humpelte – ohne seinen Gehstock, mehr hüpfend als laufend – hinter Sarah her, die trotz ein paar Kilos zu viel auf ihren Hüften ein beachtenswertes Tempo vorlegte. In sicherer Entfernung blieben sie stehen, drehten sich um und schauten zurück zum Unglücksort, am Ende der Landebahn.

Über die vier Notausgängen ließen sich die Passagiere, wie Tropfen aus einem undichten Wasserhahn, auf die Rutschen fallen.

»Was ist passiert?«, hörte Holzinger die zitternde Stimme seiner Kollegin.

»Keine Ahnung. Hast du Lucas gesehen?«

»Nein. War er vor oder hinter uns?«

Das emporlodernde Feuer auf der linken Seite des Fliegers schwoll an und tauchte die Silhouette des Wracks in ein beklemmendes Licht.

Die Menschen schrien vor Angst.

Immer mehr Hilfskräfte trafen ein. Feuerwehrleute stießen die Türen der Seitenwände ihrer Fahrzeuge auf und zogen schier endlos lange Schläuche hervor.

Peters Instinkt befahl ihm, zu helfen. Er wollte losstürmen, doch Sarah und ein Sicherheitsbeamter rissen ihn zurück.

Gerade rechtzeitig!

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