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Читать книгу: «Die Pyrenäenträumer - Band 2», страница 8

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Bei Wind ist es besser, den Sonnenschirm zu schließen oder gut festzuhalten! Nichts ist vorteilhafter für einen Markt, als gelöste Stimmung. Warum nicht die Nachbarn zu einem Frühstück einladen? Jeder bringt dann automatisch was mit, man öffnet eine Flasche, quatscht miteinander, besser kann ein Markttag gar nicht beginnen!

*

Bei Regen war das alles anders. Wer seine Käufe aufschieben konnte, tat es. Oder die Leute trafen sich in den Kneipen. Davon gab es genügend in Castillon. Am Platz vor der Schule, wo auch die neue Käserei ihre Aktivität aufgenommen hatte, befand sich das ‚Chai‘, ein Weinhandel, geführt von Georges, dem ‚Griechen‘. Dieser Name hing ihm noch an, obwohl er in Paris geboren war. Dort war er auch zur Schule gegangen. Zum Abitur hatten die Eltern ihm eine Fahrt nach Griechenland, das Land seiner Großeltern geschenkt. Als er dort angekommen war, brach gerade die Revolution aus und man integrierte ihn in die Armee, ihn, der kein Wort Griechisch sprach und einen französischen Pass hatte! Er landete sogar im Gefängnis, weil man ihm unterstellte, mit falschen Papieren dem Dienst fürs Vaterland entkommen zu wollen! Es dauerte eine Weile, bis er endlich wieder zurückkam. Seitdem hält er nichts mehr von Auslandsreisen… Später lernte er in den Ferien hier seine Frau kennen und übernahm deren familiären Weinhandel.

Sein Laden war ein hoher Kellerraum, in dessen Hintergrund Plastik- und Holzfässer herumstanden, in denen sich Weiß-, Rot- und Rosé-Wein befand, den er mit einem Schlauch ansaugte und in die untergehaltenen Kanister oder Korbflaschen der Käufer laufen ließ. Auch machte er regelmäßig Fahrten durch die Weiler und Dörfer, um die Leute mit dem lebensnotwendigen Treibstoff zu versorgen. Er hatte einen alten Peugeot-Lieferwagen, der vorne mit Schiebetüren ausgestattet war, die aber oft rausfielen. Dann diente eine Kordel mit Karabinerhaken dazu, einen eventuellen Insassen, meist ein angetrunkener Marktkunde, nicht zu verlieren. Manchmal durften auch seine Enkel mitfahren. Für die schien das jedes Mal ein Abenteuer zu sein. Ansonsten kamen diese, wie die anderen Lausebengel des Dorfes so oft es ging an meinem Stand vorbei, um eine Scheibe Käse als Kostprobe zu ergattern.


War ein trüber Regentag oder es fiel Schnee, gingen die Bauern, die Tiere mitgebracht hatten, nicht weiter als bis zu ihm. Dort konnten sie ihren Durst wecken und später löschen und hatten zugleich ihre Tiere auf dem Platz im Auge. Auch ich kehrte dort ein. „Hast du Käse dabei?“, fragte der erste. Und plötzlich wollten alle ein Stück haben. Ich öffnete die Heckklappe und machte mich ans Abschneiden und Wiegen. Später dann hatte ich schon auf dem Markt auf gut Glück meine Pakete abgewogen. Mit einem Blatt Papier, gut bestückt mit Aperitif-Portionen, kam ich gegen Mittag da rein. Und jedes Mal stand ein Bier vor mir, ohne, dass ich zahlen brauchte. Das wurde so eine Tradition.

Meist waren das dieselben Bauern, die sich hier trafen. Einige kannte ich schon von der Alm, als wir noch die Schafe auf dem Berg hatten. Da war Jean-Pierre, der außer seiner Korpulenz immer sein Scheckheft zur Schau stellte, das ihm hinten aus der Jeanstasche baumelte. Auch die Viehhändler verbrachten hier den Vormittag, ebenso wie mancher Marktverkäufer, der hier seinen Stand und seine Sorgen für einen Moment vergaß. Denn die Geschäfte gingen nicht mehr so wie früher. „Wenn du das erlebt hättest“, meinte Georges mit einer weitausholenden Geste, „Stände überall, die Häuser bestanden im Erdgeschoss aus Butiken, die Kühe standen unter den Platanen, wo die Tankstelle ist, bis hoch, wo jetzt das Foyer Rural, der Festsaal, steht! Und all die Leute, die Käse verkauften! Damals hättest du noch Konkurrenz gehabt, aber jetzt!“ „Da ist doch die neue Käserei auf dem Platz!“, warf ich ein. „Das ist doch kein Käse, was die machen! Die Milch kommt noch nicht mal von hier. Das ist ein Zeug, um an die Städter zu verkaufen, die keine Ahnung haben!“

So ging es da zu. Rauch schwärzte nicht nur die Decke, sondern hüllte bei geschlossenen Türen den Keller in einen bläulichen Nebel. Draußen, neben der Tür hatte Georges ein Barbecue errichtet, worin er mit Abfällen gegen Mittag ein Feuer entzündete. Dann ein paar Schaufeln Holzkohle drauf und er grillte das Fleisch, was die Zecher gekauft hatten, vielleicht für zu Hause. Stolz stellte er eines Tages eine Flasche Franziskaner Weißbier vor mir auf den eichenen Tresen. Das nächste Mal brachte ich ihm das dazugehörige Glas mit, von denen ich eine Sammlung zu Hause hatte. Darin schmeckte das Weizen noch besser! Er erzählte mir, dass er das Bier in Spanien gefunden hatte. Und ich dachte, es käme aus München! Ich schaute mir daraufhin die Flasche genauer an. Darauf stand, dass es in Athen hergestellt war! Man sah, Europa war dabei, sich zu gestalten! Das Dumme mit den Weizengläsern ist, dass sie sich schlecht reinigen lassen. Als das Bier bald darauf beim Einschenken nicht mehr schäumte schaute ich mal genauer hin. Unten drin war ein Rand Schmodder von eingetrockneten Bier und Hefe, der sich durch normales Nachfüllen von frischem Bier nicht mehr entfernen ließ. Da wäre Waschen das Einfachste! Hefebier ohne Schaum? Nein Danke! Als seine Kiste dann leer war, meinte ich, dass Kronenburg auch trinkbar sei, und nur wegen meiner Nostalgie bräuchte er das Bier nicht mehr hertun! Denn außer mir trank es niemand. Schade um das gute Bier!

*

Auf dem Markt hatte mich der Knecht eines Viehhändlers aus Galey angesprochen. Anfangs verstand ich gar nichts, da er nuschelte und nur ‚Patois‘, den Dialekt sprach. Nach einer Weile des Nichtverstehens griff er zu einem von meinen Honiggläsern, zeigte darauf und machte das Summgeräusch der Bienen nach. Nachdem er eine Weile gestikuliert hatte, wurde mir klar, dass er mir erklären wollte, dass irgendwo in einem umgefallenen Baum ein Bienenschwarm versteckt war und die Leute gestochen hatte. Als er dann auf mich zeigte, kapierte ich, dass ich diesen beseitigen sollte. Zum Glück kamen dann noch andere Bauern an den Stand, die mir übersetzten, wo dieser zu holen war. Nach dem Markt fuhr ich mit dem Knecht zu besagter Stelle und schaute mir die Sache an, um die richtige Strategie zu entwickeln. Der Schwarm, wohl schon eine Kolonie aus dem Vorjahr, hatte sich in einem Wildkirschen-Baum eingenistet. Dieser Baum war umgefallen und lag oberhalb der Straßenböschung. Zusammen mit Doris hatten wir ihn bald herausgeschnitten und in einen Kasten gesetzt. Am Tag darauf waren alle umherirrenden Bienen drinnen, und wir holten ihn am folgenden Morgen, ziemlich früh, wo alle Bienen noch leicht erstarrt waren, zu uns.

Bei der nächsten Käsetour hielt ich in der Kneipe von Galey an und traf dort auf den Wiesenbesitzer. Wie es in Deutschland Brauch ist, gab ich ihm ein Kilo Honig für den Schwarm. Er war etwas verwundert darüber, nahm ihn aber gerne. Er hatte wohl befürchtet, dass ich ihn für das Entfernen bezahlen lassen wollte. Dann schien er eine Idee zu haben. „Du hast mir den Honig gegeben. Dann sind das jetzt deine Bienen?“, meinte er. „Kann man wohl sagen“, antwortete ich, nicht schlüssig, worauf er hinauswollte. „Also gibst du zu, dass es deine Bienen sind?“ Wollte er mehr Honig herausschlagen, oder warum diese blöde Frage? Ich bejahte wieder. „Letztes Jahr haben sie ein Fohlen von mir in der Wiese angegriffen, was an den Stichen eingegangen ist. Das musst du mir bezahlen!“ Ich glaubte, schlecht gehört zu haben. „Ich kapiere nicht ganz, was du meinst!“, sagte ich etwas diplomatisch, denn gegenüber den angesäuselten Anwesenden musste ich vorsichtig sein. „Na ja, du hast doch eine Versicherung!“, führte er aus. „Die kann doch zumindest den Schaden, den deine Bienen gemacht haben, ersetzen!“ „Weißt du was?“, fragte ich ihn, „das nächste Mal holst du deine Bienen selber heraus! Pass nur gut auf, sonst geht es dir so wie deinem Fohlen!“ Ich lieferte dem Wirt die Bestellung ab und verließ die Kneipe, bevor denen noch was Neues einfiel.

ZUWANDERER

Wenn wir das Tal hochfuhren, sahen wir hier und da an den Hängen kleine weiße Pyramiden aufragen. Auch in Ebocal fand ich zwei, als ich die nächste Käsetour machte. Es waren Tipis, Indianerzelte der neuen Einwanderer-Generation! Dort oben hatte sich eine Gruppe Deutscher niedergelassen, die Leder verarbeitete. Zu Klamotten, Taschen, selbst die Zelte hatten sie selber genäht und fertigten sie auf Bestellung. Bei den „Luxusmodellen“ befand sich unten drunter eine Holzplattform, oft auch des abfallenden Geländes wegen, mit einer Feuerstelle in der Mitte. Eine neue Lebensweise, mit dem Feuer als Zentrum! In der Stadt sah man neuerdings viele Lieferwagen mit langen Stangen auf dem Dach, die manchmal das Fahrzeug überragten. Eine Parzelle Land war einfacher und billiger zu finden, als eine Scheune! Auch waren inzwischen die meisten Scheunen und Ruinen verkauft. Manche hatten im Sommer ihre Scheune gekauft, und nicht daran gedacht, dass die Sonne im Winter eine andere Bahn geht. Nach den ersten sechs Monaten in Schnee und Eis versuchten sie, diese wieder zu verkaufen und gaben den Traum vom einfachen Leben auf, denn sie hatten ihr ganzes Geld für den Kauf ausgegeben. Mit einem Tipi hätten sie schon früher weiterziehen können!

In Ebocal, einem Seitental neben uns, fand eine Fete statt, auf der wir die Hebamme wiedertrafen, die auch unserer Lucia auf die Welt geholfen hatte, denn in den Tipis sollte bald Nachwuchs zur Welt kommen! Alles wurde vorbereitet, und wer Babysachen zu vergeben hatte, brachte sie hin. Hier oben wohnten inzwischen fünf Familien oder Paare, auch standen drei Zirkuswagen vorrübergehend da oben, die zeitweise bewohnt waren. Man kann sagen, dass zumindest hier oben die gleiche Einwohnerzahl wie vor 100 Jahren erreicht war!

Ein anderes Tipi stand im Garten des alten Pfarrhauses von Illartein. Das war von einer Kommune gemietet, die sich zeitweise um zwei behinderte Jugendliche kümmerte. Im Sommer veranstalteten sie Kinderfreizeiten. Dazu diente dann das Zelt. Waren keine Kinder da, so wohnten die Leute oder deren Besucher darin. Gar manche Friedenspfeife wurde da geraucht, auch ohne dass vorher Krieg gewesen war! Als ich erfuhr, dass ein Hof in der Nähe zu verkaufen war, teilte ich es ihnen mit und sie kauften das Anwesen und weitere Häuser in dessen Nachbarschaft. Bald kamen die ersten eigenen Kinder. Das gab ihnen den Anlass, in verschiedenen Familie zu leben. Die einen bauten einen Reiterhof auf und hielten Bienen und Ziegen, andere arbeiteten für die Almgenossenschaft und die Gemeinde und taten gerne auch mal gar nichts. Das konnte noch nicht mal ich ihnen verübeln!

*

Bei uns im Tal hatte der Canadien beschlossen, seine Ruine, die er verkaufen wollte, herzurichten, um einen besseren Preis dafür zu bekommen. Nur, wie sollte er da hochkommen und das Material transportieren, war doch die Piste, die hochführte, zu steil für ein Auto! Seine Lösung war ein Rasenmähertraktor, von dem er das Mähwerk abgebaut hatte und stattdessen einen kleinen Anhänger hinten anhängte. Nachdem er ihn zweimal umgeworfen hatte, gab er sein Unternehmen schließlich auf. Denn in seinem Alter hatte er Schwierigkeiten, selber wieder auf die Beine zu kommen, geschweige denn, den Traktor wieder aufzustellen! Somit verarbeitete er den schon gekauften Zement mit seinen Formen zu Bänken, Blumenkästen und Tierstatuen.

Da das Dach seines Hauses inzwischen ganz eingefallen war und beim Zusammenbruch die Mauern auseinandergedrückt hatte, war das Ganze nicht mehr viel wert. Als Joey und Monika im nächsten Jahr kamen und kaufen wollten, riet ich ihnen, nur ein Drittel des anfangs genannten Preises zu zahlen. Und der Canadien war froh, dass sie es nahmen! Sie verbrachten die Ferien da oben mit ihrem Buben in einem Zelt. In der Zeit richtete Joey ein Zimmer her, installierte einen Ofen, Badeofen und Bad. Als Frau und Kinder zurückfuhren, Arbeit und Schule warteten auf sie, blieb er alleine hier, um den Wiederaufbau vorzubereiten.

Wir sahen uns manchmal. Er machte Autostopp, um in der Stadt das Notwendigste zu kaufen. Ich nahm ihn mit und brachte ihn bis unten an seinen Weg. Bisweilen besuchte ich ihn auch. War es die Einsamkeit? Ich glaube eher, es waren seine alten, vergessen geglaubten Dämonen, die ihn hier aufgespürt hatten. Im und um das Haus herum sammelten sich leere Flaschen, die Baustelle stand still. Nach einem Jahr fuhr er wieder nach Deutschland und wir vergaßen ihn fast.

Eines Tages stand er vor unserer Tür. Er brauchte meine Hilfe. Er brauchte vor allem 2000 Francs, um wieder nach Deutschland zu kommen und ein anderes Auto zu besorgen! Vor Lyon war er am Steuer eingeschlafen und hatte einen Totalschaden gebaut. Er war erst im Krankenhaus wieder zu sich gekommen. Als er festgestellt hatte, dass ihm nichts fehlte, war er da heimlich abgehauen und weitergetrampt. In seinem Auto, unten im Sitzpolster, hatte er angeblich 6000 Francs versteckt gehabt. Er wollte, dass ich herausfinde, wo er sein Auto wiederfinden könnte… Ehrlich gesagt glaubte ich ihm nicht mal die Hälfte von seinem Gerede. Ich gab ihm das Geld, welches er mir doppelt zurückzahlen wollte. Ich sagte ihm, „einfach genügt völlig!“ Dann machte ich mich ans Telefonieren. Über die Straßenmeisterei und die Autobahn-Polizei fand ich wirklich heraus, auf welchem Schrottplatz sein Auto gelandet war und erreichte, dass man das Fahrzeug nicht beseitigte, sondern es auf die Seite stellte, um ihn seine restlichen Sachen herausholen zu lassen.

Nach drei Monaten war er wieder da. Mit einem lädierten Mercedes. Er war irgendwo am Mittelmeer eingeschlafen und in eine Leitplanke bei einer Mautstelle gefahren. Natürlich stand zufällig die Polizei da. Dummerweise hatte er schon seit einem Jahr keinen Führerschein mehr, der war ihm wegen mehrfachen Alkohols am Steuer entzogen worden. Auch hatte er keine Versicherung für sein Auto und keinen Kfz-Schein, da das Auto nicht angemeldet war. Er konnte der Polizei also keine Papiere geben. Da er so gut wie kein Französisch sprach, begnügten sich die Polizisten, ihm ein paar Hundert Francs abzuknöpfen wegen fehlender Papiere und zu sagen, dass er das Auto zur nächsten Werkstatt abschleppen lassen sollte. Auch müsse er innerhalb einer Woche die Papiere in Carcassonne vorlegen. Er wartete ab, bis die Bullen wieder weg waren, bog die Bleche etwas raus und fuhr weiter. Die restliche Reparatur sollte ich ihm machen. Auf jeden Fall hatte ich mein Geld wieder! „Nur, wie kann ich das mit den Papieren machen, ich hab ja keine!“, wollte er wissen. „Um in eine Scheiße hineinzugeraten, bist du geschickter, als da wieder rauszukommen!“, gab ich etwas sauer zurück. „Dauernd kommst du zu mir und ich soll mich kümmern! Ruf mich das nächste Mal an, wenn du Scheiße bauen willst, dann kann ich dir sagen, wie du sie verhindern kannst! Das ist bestimmt einfacher! Ich glaube, in diesem Fall ist es besser, du fährst nicht mehr mit dem Auto und parkst es irgendwo unsichtbar von der Straße. Da gehst du nicht das Risiko ein, dass sie dich mal anhalten und riskierst auch keine weiteren Unfälle!“ Und das tat er wenigstens!

Wie ich erfuhr, hatte seine Frau die Scheidung eingereicht, wegen seinem Dauersuff. Das gab ihn einen zusätzlichen Grund zum Trinken. Natürlich war dann auch bald das Geld aus. Ich gab ihm die notwendigen Tipps, zeigte ihm die Ämter und er schaffte es, Arbeitslosen- und Sozialgeld zu beantragen. Manchmal schickte ihm seine Ex etwas Geld, weil sie nicht schuld sein wollte, wenn er im Elend lebte. Auch hatte sie ihr Haus verkauft und überwies ihm ab und zu kleinere Beträge, denn das Haus war ihr eigenes Erbteil gewesen. So wollte sie verhindern, dass er alles auf einmal verschleudert.

Er wollte mit allen abrechnen. Der Gesellschaft, den Nachbarn, den Kapitalisten und den Katholiken. Eines Abends kotzte er mir sein ganzes Leid und seinen Hass vor die Füße. Wir waren auf seinem kleinen, hölzernen Balkon gesessen, hatten jeder ein Bier in der Hand und schauten auf die ganz hohen Berge, die sich in der Ferne hinter einem Einschnitt in den Vorbergen abzeichneten. Die Abenddämmerung mit ihren Farben und Klängen trug dazu bei, dem Ort etwas Magisches zu verleihen! Wenn er einmal sein Gift über die Gesellschaft verspritzt hatte, wurde er ruhiger und neigte eher zur Selbstbemitleidung.

Er war in Sibirien aufgewachsen von deutschen Eltern, deren Vorfahren dorthin ausgewandert waren. Dort bildeten sie, obwohl arm, eine bessere Bevölkerungsklasse. Doch wurden sie von den Russen gehasst. Als dann die Ostverträge unterzeichnet wurden, welche das Rückkehren der Deutschstämmigen aus Russland ermöglichten, nutzten die Eltern die Gelegenheit, mit den Kindern nach Deutschland auszuwandern. Doch wenn sie geglaubt hatten, dort mit offenen Händen empfangen zu werden, hatten sie sich getäuscht! Hier wurden sie als Russenpack behandelt, während sie hinter dem Ural als Deutsche verachtet worden waren! Das bekam er auch in der Schule zu spüren. Daher stammte wohl sein Hass auf alles Eingebürgerte!

An der Ruine hatte er schon lange nicht mehr gearbeitet. Dafür hatte er andere Pläne: Kleine Hütten bauen, für die versprengte Familie und für seine Freunde, und diese zu vermieten an Leute, die Abenteuerurlaub machen wollten… Er hatte ein ganzes Buch voller detaillierter Skizzen, wie das Land bald aussehen würde, schaffte es aber nicht, den Anfang zu machen. Und arbeiten konnte er! Er hatte Schreiner und Zimmermann gelernt und trug auch noch stolz die schwarze Cordhose und Jacke! Hatte er Geld, verschwand er manchmal in der Junk-Szene von St. Girons. Hatte er kein Geld mehr, war er in seiner Ruine. Er wurde immer schwieriger zu ertragen, und wir sahen uns immer seltener. Bei meinem letzten Besuch hatte er gesagt, bevor er hier neu beginnen könne, müsse er zuerst in Deutschland ein paar Dinge regeln, vor allem vom Alkohol und den Drogen runterkommen! Das konnte ich nur befürworten!

*

Eines Tages rief mich sein Nachbar an, auch ein ziemlich abgefahrener Freak, der wieder mal seine Karre in den Graben gesetzt hatte. Er war ein ziemlicher Raser, und ich war froh, dass er nicht mehr auf unserer Talseite wohnte, wie in der Vergangenheit. Er wohnte jetzt etwas unterhalb von ihm. Als ich ihn wieder raus hatte, fragte er: „Hast du Neuigkeiten von Joey? Unser gemeinsamer Postkasten ist am Überlaufen. Kannst du nicht seine Post herausnehmen und ihm zuschicken?“ Ich fuhr also hinter ihm die andere Seite des Tales hoch, um die Post zu holen. „Weißt du, wo er ist?“, fragte ich. „Das letzte Mal, als ich ihn gesehen habe, liegt schon leicht zwei Monate zurück. Da war er nicht gut beieinander. Das heißt, so beschissen wie immer! Dass du ihn am liebsten rausschmeißen würdest, weil er dir dermaßen auf den Keks geht mit seinem andauernden Geschimpfe über die Gesellschaft und so!“ „Und dann immer so hackedicht, dass er eh nicht mehr weiß, was er sagt!“, erwiderte ich.

„Das war ja das Komische, am Abend, wo er reingeschaut hatte, sagte er, er hätte schon zwei Wochen nicht mehr getrunken!“, gab Alain zurück. „Das hatte er mir auch schon öfters erzählt, und beim nächsten Mal war er wieder so voll, dass er nicht mal mehr kriechen konnte und ich ihn bis oben gefahren hatte!“, meinte ich. „Nein, diesmal war das anders! Ich hatte gar nicht daran gedacht und ihm wie üblich ein Bier hingestellt. ‚Scheiße, das hätte ich nicht tun sollen!‘, kam es mir plötzlich, aber zu spät! Doch er hatte es mir zurückgeschoben und bekräftigt, dass er jetzt mit dem Trinken aufgehört hat. Vielleicht war er deshalb auch so schlecht drauf, dass er immer nur von Selbstmord quatschte. Ich hätte ihn ja am liebsten rausgeschmissen. Doch wollte ich nicht daran schuld sein, wenn er sich dann doch noch das Leben nähme! Also ertrug ich ihn die halbe Nacht und nach ein paar Joints ging es ihm zum Glück besser. ‚Mach keinen Mist!‘ Sagte ich ihm, als er ging. ‚Mach dir keine Sorgen!‘, gab er zurück, ich habe mich anderes entschlossen. Morgen fahre ich nach Deutschland zurück und regle erst mal meine dortigen Probleme!‘ Dann ging er zu sich hoch.“

Er machte den Postkasten auf. Ein Schwall von Post und Prospekten rutschte uns entgegen. Ich sortierte aus und überflog die Daten der Poststempel. Ab einem bestimmten Tag, zwei Monate zurück, hatte sich seine Post angehäuft. Das muss der Tag seines Abreisens gewesen sein! „Ich werde ihm die Post irgendwohin legen, gehen wir hoch!“, sagte ich zu Alain und wir liefen den ziemlich steilen, von Regenwasser und durchdrehenden Autorädern ausgehöhlten Weg hoch. In einer Kurve stand Joeys verbeulter Mercedes, halb von Brombeeren bedeckt. Einmal war er bei mir gewesen, um zu fragen, wie er an neue Schlüssel kommen könnte, denn er fand die alten nicht mehr. „Ist doch besser so,“ sagte ich, „dann baust du wenigstens keine Unfälle mehr!“ „Ich hab noch ein Gerät im Kofferraum, das ich jetzt dringend bräuchte!“, hatte er geantwortet. „Hier, nimm das Brecheisen, das ist billiger und schneller als neue Schlüssel!“, hatte ich ihm geantwortet.

„Komm mit mir!“, sagte ich zu Alain, „mir ist lieber, wir gehen zu zweit hin! Irgendwas stimmt hier nicht!“ Etwas widerstrebend folgte er mir. Vor der Ruine war der gleiche Verhau wie immer. Es war mehr ein Hürdenlauf, bis wir an der einzigen noch teilweise stehenden Wand vorbei an die Westseite kamen. Am Badezimmer vorbei stiegen wir den Hang hoch zum ersten Stock, wo sich das einzige bewohnbare Zimmer befand, aus Brettern, aber gut isoliert, erreichbar über den schmalen, es in einem rechten Winkel umgebenden Balkon. Was mir ins Auge fiel, waren seine drei Motorsägen, die auf der Balkonbrüstung standen. Mich überkam etwas wie eine Vorahnung, wie ein Schauder! Anscheinend ging es Alain ebenso, denn er wollte sich aus dem Staub machen. „Bleib hier! Als Zeuge, hier stimmt was nicht!“ Denn niemals hätte Joey seine Maschinen dort stehen lassen und wäre nach Deutschland getrampt!

Ich stieß die Tür auf. Drinnen lag sein Portemonnaie auf dem kleinen Tisch, daneben sein Ausweis. Ich öffnete den Geldbeutel. Es waren fünfzig Francs darin. Da war mir klar, dass er noch in der Nähe sein musste, dass er seine Andeutungen wahrgemacht haben musste! Mit Alain schritten wir die Umgebung ab. Folgten den kleinen Pfaden zu den entlegeneren Parzellen, wo er Bäume gefällt hatte, um Bauholz für die Hütten zu haben. Doch waren die Brombeeren inzwischen auch nicht untätig gewesen und hatten ihre Tentakel ausgesandt. Wir fanden ihn nicht. Gut, es bestand immer noch die Möglichkeit, dass er trotzdem nach Deutschland getrampt war. Da gab es nur eine Möglichkeit, Gewissheit zu bekommen: Bei seiner Ex anzurufen!

Alain war froh, den Ort zu verlassen. Ihm war aufgefallen, dass es manchmal nach Kadaver gerochen hatte, aber bei den Schäfern der Umgebung war das ja eher normal! Ich nahm die Post mit und fuhr zurück. Ich suchte gerade in meinem Adressbuch nach der Nummer seiner Ex, als das Telefon klingelte. Ich hob ab und war kaum überrascht, dass sie es war, die anrief. Sie war beunruhigt, da sie lange nichts von Joey gehört hatte und wollte wissen, ob er noch in Frankreich sei. Als ich ihr sagte, ich wäre gerade dabei gewesen, ihre Nummer zu suchen, um sie zu fragen, ob er in Deutschland sei, war uns beiden klar, dass er nicht mehr lebte. Ich rief die Gendarmerie an. Diesmal kamen sie gleich. Wir fuhren rüber und ich erklärte ihnen die Sachlage. Dann machten sie sich ans Suchen. Am Abend hatten sie ihn gefunden. Eigentlich zuerst nur eine umgefallene Leiter im Gestrüpp. Er hing weit oben in einem der riesigen Kastanienbäume. Besser gesagt, das, was die Krähen und die Maden noch übrig gelassen hatten…

Ich fand sein Skizzenbuch. Zwischen den Zeichnungen hatte er hier und da Kommentare gemacht über die Welt und über sich selbst. Auch über mich. Irgendwie beneidete er unsere Schaffenskraft und wünschte sich, auch bald ein Haus inmitten grüner Wiesen zu haben. Doch zuerst mussten die Bäume weg… Von seinem Platz aus konnte er ja jede Bewegung verfolgen, die wir machten. Auf den letzten Seiten wurden die Worte verzweifelt. Da stand, dass er die Schnauze voll hat, nichts läuft, wie er will, wenn er überhaupt noch wüsste, was er eigentlich will! Er sei völlig pleite, und er wolle nicht mehr länger bei seiner Exfrau betteln gehen… Armer Joey, du hast es zu eilig gehabt! Hättest du noch einen Tag gewartet, hättest du all die Unterlagen in den Händen gehabt, die ich jetzt durchlese! Da schreiben die Ämter, dass du deine Aufenthaltsgenehmigung in der Präfektur abholen kannst und dass die Sozialhilfe bewilligt ist, sogar mit einer Nachzahlung für die letzten drei Monate, schon auf dein Konto überwiesen!

Ich kümmerte mich um die Einäscherung und schickte die Urne per Postpaket zu seiner Familie. Diese kamen ein paar Monate später in den Schulferien, die restliche Habe zu holen. Ich war zuvor noch rübergefahren um alles von Wert bei uns unterzustellen und auch den Strick zu entfernen, den die Gendarmen auf den Balkon geworfen hatten…

*

François und Françoise von Rouech, aus der früheren Kommune, wollten mit ihren Kindern auswandern. Auf eine der Inseln. Seitdem unsere Kinder in die Schule gingen, hatten wir gelernt, dass Frankreich noch viele Kolonien besitzt, heute ‚Übersee-Departements‘ genannt, von denen die bekanntesten die Réunion-Inselgruppe ist, Tahiti, Neukaledonien und Guyana. Sie wollten alles, was sie nicht mitnehmen konnten, verkaufen. Wir besuchten sie, um zu sehen, was das alles sei. Da war zuerst mal ein dicker Stapel Langspielplatten mit all der Rock-Musik, die wir gerne hörten, aber nie das Geld gehabt hatten, welche zu kaufen. Auch besaßen wir keinen Plattenspieler. Ich suchte die mir bekannten raus und wir einigten uns schnell auf den Preis. Am Ende gaben sie uns noch den Rest so dazu. Weiterhin verkauften sie eine riesige Saftpresse und den dazugehörenden Zerkleinerer. Diese interessierte uns am meisten, boten uns doch die Bauern im Herbst immer an, die Äpfel aus den Wiesen zu sammeln, damit die Kühe nicht daran ersticken könnten. Doch wie das vielleicht 150 Kilo schwere Teil hinunter bekommen? Sie hatten seit kurzer Zeit eine Art Weg baggern lassen, von ihrem Land auf einen öffentlichen Weg, sehr steil, aber gerade noch befahrbar mit ihrem Hürlimann-Traktor, mit dem sie von Savoyen bis hierher gefahren waren. Wir entfernten die Spindel aus der Bodenplatte der Presse und banden sie der Länge nach unter den Traktor. Die Bodenplatte und den Muser befestigten wir im Heckhubwerk.

Es war ein schöner Sommernachmittag und wir saßen vor ihrem Haus, dessen Läden und Türen mit einem so grellen Hellblau gestrichen waren, dass man das Haus oben am Hang von weit entfernt sehen konnte. Unter uns breitete sich das Tal von St. Lary mit seinen kleinen Seitentälern aus, am Grund die Wiesen, an den Hängen der Tannenwald, darüber die Almen, schimmernd in verschiedenen Schattierungen von Grün. Zwischendrin die Farbtupfen der kleinen Höfe, untereinander verbunden durch die schlangenförmigen grauen Bänder der Straßen. Weiter rechts der Einschnitt des Col de Portet d’Aspet, wo das ‚Schöne Lange‘, wie unser Tal genannt wird, endet. Wir rauchten eine Friedenspfeife und redeten über die Gegend und die Leute. Als sie mit ihrem Traktor hier angekommen waren, waren sie damit über die Wiesen zu sich hochgefahren. Das hatte einigen Nachbarn nicht gefallen, und sie hatten ihnen das Darüberfahren verboten. Also konnten sie auch nicht mehr mit dem Traktor hinunter…

Doch hatten sie eine Parzelle vorm Haus, die ziemlich steil bis zu einem Gemeindeweg hinabführte. Da sie kaum Wald besaßen heizten sie mit Öl. Um ihr Öl hoch zu schaffen, befestigten sie eine Rolle an einem Baum und ließen mit dem Traktor an einem Seil einen Anhänger hinunter, auf dem sich ein Tank befand. Als der Tank vom Lieferfahrzeug gefüllt war, zogen sie ihn hinauf. Fast oben, riss das Seil und der Wagen raste auf die Siedlung zu. Bevor er jedoch die Häuser erreichte, stellte er sich, wie durch ein Wunder, auf einem flacheren Stück Land quer und kam zum Stehen. Sie wollten ebenfalls ihren Allradtraktor verkaufen. Dieser war sehr alt und zudem ziemlich hoch. Ich war unentschlossen, ich wollte keinen Schrotthaufen kaufen. Beim Transport der Saftpresse fuhr ich hinterher. Dabei fielen mir so manche Schwachstellen daran auf: Er verlor Öl und das Heckhubwerk sackte dauernd ab. Es waren Reparaturen angesagt! Ich lehnte ab. Das Auswandern verschoben sie bald darauf auf das nächste Jahr. Vorerst waren die großen Ferien angesagt.

*

Isabelle, das Mädchen aus Portet d’Aspet, ging im neuen Schuljahr ins College nach St. Girons und wohnte im Internat. Es fehlte also ein Kind, um die Mindestzahl von fünf Schülern zu haben, die garantierten, dass die Schule erhalten blieb. Wir waren mit unseren Kindern an der Schule, ebenfalls die Lehrerin mit ihren zwei schulpflichtigen. Langsam wurde sie unruhig. Keine Alice in Sicht, obwohl die Eltern gesagt hatten, dass sie kommen würde! Am Mittag wollte der Inspektor vorbeikommen. Und bei nur vier Kindern bedeutete dieses das Aus!

Die Schule ist eines der grundlegenden Dinge, die ein Dorf lebendig halten. Und ein Gasthaus. Früher war zusätzlich die Kirche gewesen. Doch dahin ging niemand mehr, außer zu Beerdigungen! Die Einwohner waren geteilter Meinung. Die einen schlossen sich dem Bürgermeister an, der sagte, die Schule mache nur Unkosten, vor allem im Winter. Er weigerte sich, den Heizöltank voll zu machen, mit der Begründung, wo er klein war, mussten alle Kinder ein Holzscheit mit in die Schule bringen, sonst saßen sie im Kalten! Aber jetzt war noch nicht einmal der Holzofen mehr da! Und eine Schule nur für die Kinder der Hippies zu unterhalten, von denen die meisten ja nicht mal in der Gemeinde wohnten? Das einzige einheimische Kind des Dorfes wurde von seinen Eltern jeden Morgen nach Argein gefahren, damit es nicht mit den Hippiebälgern in einem Raum sitzen musste. Die Gemeinde weigerte sich außerdem, den Strom zu bezahlen. Oder einen Schultransport zu organisieren. Oder eine Kantine zu machen, oder nur eine Person anzustellen, die die Kinder beim Essen überwachte… Alleine durfte man die Kinder nicht lassen. Also organisierten wir das alles selber.

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9783750216471
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