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Kapitel 4

Die Balkontür stand offen. Frische Morgenluft zog herein, ein leichter Wind blähte den Vorhang etwas auf. Er hatte überraschend gut geschlafen. Nicht ein einziges Mal war er aufgewacht, bevor der Wecker seines privaten Smartphones ihn aus dem Schlaf holte. An Träume konnte er sich nicht erinnern. War die Nacht der erste Schritt zur allgemeinen Besserung seines Zustandes, nicht nur zur punktuellen? Oder hatte die Waldluft seinen Körper und seinen Geist »gereinigt«? Oder hatte die »achtsame« Kochkunst doch Wirkung gezeigt?

Gleich nach dem Aufstehen sah sich Berger vor und hinter dem Haus um. Der Weg, auf dem er gekommen war, endete am Hotel. Gestern Abend war ihm das nicht aufgefallen. Rechts hinter dem Haus war eine breit angelegte Garage in den Hang gebaut. Sie war verschlossen. Als er wieder zum Eingang zurückgehen wollte, kam ihm der hagere Mann mit der unangenehmen Stimme entgegen, der ihn gestern in der Bibliothek angesprochen hatte.

»Hinter dem Hotel hat sich der argentinische Gast nie aufgehalten«, sagte er.

»Danke für den wichtigen Hinweis«, antwortete Berger und schlenderte an dem Hageren vorbei. Er stand also unter Beobachtung.

Im Hotel ging er Stockwerk für Stockwerk ab. Unter dem Dach befanden sich links und rechts des Flurs Räume, die nicht zugänglich waren. Ein dickes Seil spannte sich am Treppenaufgang von einer Seite zur anderen, an dem ein Schild hing. In vier Sprachen war darauf zu lesen: »Privat! Durchgang nicht gestattet!« Doch auch von hier unten aus sah Berger ein Stück weit in den Flur mit den angrenzenden Zimmern hinein. Er hätte gerne gewusst, wer die Räume nutzte und wozu. Eine Weile blieb er stehen. Es war nichts zu hören, es öffnete sich auch keine Tür.

Enttäuscht ging er zurück auf sein Zimmer, machte sich Notizen und bereitete sich auf das Treffen mit Tammy vor. Währenddessen hörte er ein Motorrad vorfahren. Dem Sound nach konnte es nur die schwere italienische Maschine von Tammy sein. Sie hatten sich auf 9 Uhr im Frühstücksraum verabredet. Er zog den Vorhang ein wenig zurück und sah, wie Tammy auf den Parkplatz neben sein Dienstfahrzeug rollte und den Motor abstellte. Schwungvoll stieg sie ab und bockte die Maschine mit Leichtigkeit auf, schaute sich kurz um, nahm ihren Helm ab und schüttelte ihr Haar. Anschließend schälte sie sich aus ihrer schwarzen Lederkleidung. Diese »Entpuppung« erregte ihn. Er wartete, bis sie die Lederkleidung ausgezogen und sich in ein anderes Wesen verwandelt hatte, dann verließ er sein Zimmer und ging ihr entgegen.

Draußen vor dem Eingang zum Hotel umarmten sie sich. Tammy hatte wieder dieses bezaubernde Parfüm aufgetragen. Sie schulterte ihren Rucksack, folgte Berger an die Rezeption und checkte ein. Der Empfang fiel so frostig aus wie bei Berger. Im Frühstücksraum suchten sie sich einen Platz, an dem sie sich ungestört unterhalten konnten. Das war nicht schwer, denn es saßen nur wenige Gäste im Raum.

Tammy fragte Berger im Flüsterton: »Sag mal, gibt es hier im Hotel nur Männer?«

»Unter den Gästen, die ich gesehen habe, ist keine einzige Frau. Es gibt aber Toiletten für Frauen.«

»Das heißt, ich bin die einzige Frau im Haus?«

»Bei der Befragung gestern hatte ich mit drei Kellnerinnen zu tun. Der Zimmerservice ist männlich. Wie es mit dem Reinigungspersonal aussieht, weiß ich nicht.«

»Das ist ja mehr als komisch.«

»Das ist nicht das einzig Komische in diesem Haus.«

Sie holten am Buffet Brötchen, Käse, Wurst und Marmelade und ließen sich am Tisch Kaffee einschenken, von einer Frau. Erst als sich die Bedienung zurückzog, begannen sie mit ihrem Gespräch, jedoch so leise, dass niemand mithören konnte. Tammy wollte als Erstes wissen, wie es Berger ging.

»Es geht langsam aufwärts. Aber ich merke, dass ich aufpassen muss. In der Nacht habe ich erstaunlich gut geschlafen. Zum ersten Mal seit langer Zeit. Normalerweise wälze ich mich stundenlang hin und her und komme immer wieder ins Grübeln.« Fragen nach seinem Gesundheitszustand schmerzten ihn, körperlich und seelisch, auch nach dieser ruhigen Nacht war es nicht anders. Meistens wich er aus, gab eine oberflächliche Antwort oder wechselte schnell das Gesprächsthema.

»Und wie geht’s deiner Frau?«

»Ariane hat sich gut erholt, sehr gut sogar. Sie hat die Krebsoperation ohne Probleme überstanden. Die Ärzte sagen, sie sei vollständig vom Brustkrebs geheilt. Sie geht wieder voll in ihrer Arbeit auf.« Wegen mir, um mein Elend nicht sehen zu müssen, dachte er, sprach es aber nicht laut aus. »An manchen Tagen sehe ich sie nicht einmal am Abend. Sie ist zur Cheflektorin aufgestiegen, was ihr kaum noch Freizeit lässt. Und wie steht es mit dir?« Tammy sah gut aus, als wäre sie gerade aus dem Urlaub gekommen.

»Ich kann mich nicht beklagen. Mein Leben ist gut ausgefüllt, zum größten Teil natürlich beruflich. Ich mache viele Sondereinsätze oder zusätzliche Dienste. Aber ein bisschen Freizeit bleibt immer – und die genieße ich in vollen Zügen.«

»Im Privatleben also alles in Ordnung?«

»Eigentlich schon.« Das klang nicht sehr überzeugend. Tammy sah es an Bergers fragendem Blick. Sie hätte das Wort »eigentlich« nicht benutzen dürfen. Es verhielt sich wie ein Chamäleon und relativierte je nach Zusammenhang eine Aussage. Aber Tammy meinte, noch etwas anderes zu bemerken. Sie hatte das Gefühl, dass Berger etwas loswerden wollte.

»Ich muss oft daran denken, wie du im vergangenen Jahr am Gedenkstein für Georg Rackert beim Gifizsee in Tränen ausgebrochen bist. Seither haben wir uns nicht mehr gesehen. Erinnerst du dich noch? Wie lange ist das jetzt her?«

»Etwas mehr als ein halbes Jahr.«

»Wir waren alle erschüttert: die Schwester von Georg, ihr Partner, du – natürlich auch ich. Ich hätte dich damals gerne etwas gefragt. Aber ich habe nicht den Mut gehabt.«

»Hast du jetzt den Mut?« Sie konnte sich vorstellen, was er fragen wollte.

»Seid ihr tatsächlich ein Paar gewesen, wie im Dienst gemunkelt wurde?«

Warum wollte er das ausgerechnet jetzt wissen? Waren seine Schuldgefühle der Grund? Sie ließ lange mit der Antwort auf sich warten, schnitt ein dunkles Brötchen auf, bestrich es sorgfältig mit Butter und belegte es mit einer Scheibe Bergkäse, biss hinein und kaute betont langsam, bevor sie aufsah. Ihre Augen hatten einen wässrigen Schimmer.

Er hätte sie nicht so direkt fragen dürfen, warf sich Berger vor. Das war kein gelungener Beginn ihres ersten Treffens nach so langer Zeit. Was hatte ihn geritten, eine so intime Frage zu stellen? Gerade wollte er sich entschuldigen, doch da hob sie zu einer Antwort an.

»Das hat dich wohl sehr beschäftigt. Wenn du mich siehst, kommt dir gleich Georg in den Sinn? Du verknüpfst Ereignisse und Menschen und kannst sie nicht mehr trennen. Ist es so?« Sie klang etwas spitz und aufgeregt. »Ja, wir waren ein Paar, wie es viele im Präsidium vermutet hatten. Aber wir haben uns nicht getrennt, denn auch das machte wohl die Runde. So viel zu deiner Frage.« Sie biss wieder in ihr Brötchen und sagte mit vollem Mund: »Wir haben nicht die einfachste Beziehung gehabt. Und wir haben auch nicht zusammengelebt, wie man es von einem normalen Paar erwartet. Jeder hat seine Wohnung gehabt. Seine und meine Eltern haben von unserer Beziehung nichts gewusst. Wir haben uns Zeit lassen wollen. Viel Zeit. Manchmal haben wir uns tagelang nicht gesehen. Und manchmal sogar Wochen. Wie in der Zeit vor seinem Tod.« Sie aß ihr Brötchen vollends auf und wischte sich mit der Serviette den Mund ab.

Berger saß still und geduldig da und wartete ab. Er wollte nichts sagen. Der Schaden, den er soeben angerichtet hatte, war schon groß genug.

»Wenn sich Georg in etwas vergraben hat wie in den Fall der christlichen Terroristen, hat er nichts anderes mehr wahrgenommen. Er hat auf keine Anrufe reagiert, auf keine Mails, auf keine WhatsApp-Nachricht. Nur ein Ziel hat er im Auge gehabt: die Terroristen fassen. Ich habe damals verzweifelt versucht, ihn zu erreichen. Keine Chance. Auch im Präsidium hat er sich in Luft aufgelöst. Auf seine Art ist er ein Fanatiker gewesen. Du hast ihn ja ein Stück weit so erlebt.«

»Ein bisschen. Ich habe ihn aber nicht für fanatisch gehalten, sondern für hartnäckig. Ziemlich hartnäckig sogar. Allerdings habe ich nicht viel von ihm gewusst. Im Dienst haben wir wenig über Privates gesprochen.«

»Als Partner ist er ein faszinierender und liebevoller Mensch gewesen.«

»Entschuldigung.«

»Du musst dich nicht entschuldigen.« Sie wischte sich mit der Serviette die Tränen aus den Augen. Warum hatte Berger ihr diese Frage gestellt, die sie so aufwühlte? Sie verstand sein Verhalten nicht ganz. Fragte er, weil sie nicht zu Georgs Beisetzung eingeladen war? Seine Eltern hatten nichts von ihr gewusst. Oder weil sie damals am Gedenkstein so geweint hatte und beinahe zusammengebrochen wäre? Weil sie beim Blick auf den toten Georg im Amphitheater am Gifizsee scheinbar keine Regung gezeigt hatte? Der Anblick hatte sie geschockt, mechanisch hatte sie ihre Arbeit verrichtet. Zu Hause hatte sie sich auf ihr Bett geworfen und auf das Kopfkissen eingeschlagen, bis es geplatzt war. Sie vermisste Georg. Manchmal schwor sie den Tätern Rache. Solche Gedanken hatte sie früher nie gehabt. Das hätte ihrer Berufsauffassung und ihrem Ethos widersprochen. Aber seit Georgs Tod hatte sich vieles geändert, auch ihre Einstellung zur Rache. Sie wusste, dass Rache nichts anderes war als die bittere Tatsache einer offenen Wunde. Und die Wunde heilte nicht, solange sie an Rache dachte. Aber auch ohne diese Gedanken würde sie sich nicht schließen. Ihr Verstand sagte ihr, dass vollendete Rache vor Gericht als niedriger Beweggrund gewertet wurde. Trotzdem ließ sie die Gedanken immer mehr zu, weil ihre Gefühle etwas anderes sagten. Und ihre Gefühle wurden immer stärker.

Schweigend saßen sich zwei verletzte Menschen gegenüber, aßen ihre Brötchen und tranken ihren Kaffee. Berger kannte diese stummen Szenen von zu Hause. »Stille Messe« nannte das seine Mutter, wenn in der Partnerschaft das Gespräch verstummte.

Nach dem zweiten Brötchen schien sich Tammy gefasst zu haben. Sie erzählte Berger, dass man im Präsidium voller Bewunderung von seiner schnellen Reaktion sprach, nachdem Winker zusammengebrochen war.

»Aber das hätte doch jeder getan«, beschwichtigte Berger.

»Das bezweifle ich. Ich weiß nicht, ob ich das Gerät hätte richtig bedienen können.«

»So schwer ist das nicht. Es erklärt sich fast von selbst. Ich muss jedoch zugeben, dass ich in der Reha Erste Hilfe und die Bedienung des Defibrillators geübt habe.«

»Das hätte ich auch nötig. Jedenfalls sind alle froh, dass Winker durch deine schnelle Hilfe keinen schweren Schaden davongetragen hat. Hoffen wir, dass nichts nachkommt.«

»Wer übernimmt jetzt seine Aufgaben?«

»Vorerst kommissarisch Firner. Übrigens: Zwischen Firner und Winker muss es neulich fürchterlich gekracht haben.« Tammy sprach so, als belaste sie nichts, als hätten sie sich nicht über schmerzhafte Dinge unterhalten. »Winker hat in einer Morgenbesprechung angedeutet, dass er vielleicht bis zu seinem 63. Geburtstag im Dienst bleibt – entgegen seiner ursprünglichen Aussage, vorzeitig mit dem 60. Lebensjahr aufzuhören. Und jetzt will er nichts mehr davon wissen. Da ist Firner wohl der Kamm geschwollen. Alle wissen ja, dass er Kripochef werden will, und zwar möglichst bald. Als dann Winker noch mitgeteilt hat, dass im Offenburger Polizeipräsidium vermutlich in nächster Zeit eine Cold-Case-Gruppe aufgebaut wird, ist Firner geplatzt und hat geschrien, das könne nicht sein in einer Zeit, in der man wenig Personal habe und schwierige Fälle nicht gelöst seien. Und überhaupt frage er sich, wie viele alte Fälle es im Bereich des Polizeipräsidiums Offenburg gebe und ob man die unbedingt in dieser prekären Situation aufklären müsse, in der der Druck auf die Soko so groß sei. Das war natürlich nicht sehr klug. Keiner hätte das von Firner erwartet. Winker hat anscheinend ganz ruhig reagiert und Firner entgegengehalten, dass man alle schwierigen Fälle lösen müsse, auch die der Vergangenheit. Darauf hätten die Angehörigen von Opfern und der Rechtsstaat Anspruch. Es sei gerade für die Angehörigen ungeheuer wichtig, zu wissen, dass der Fall gelöst sei. Das bedeute für sie, Frieden finden zu können. Dutzende schwere Verbrechen im Bereich des Polizeipräsidiums seien bis heute nicht geklärt. Das müsse Firner doch wissen. Dummerweise hat Winker noch einen draufgesetzt und mitgeteilt, dass er in Absprache mit dem Polizeipräsidenten dich zum Chef der Cold-Case-Gruppe machen will.«

»Das hat er mir auch gesagt.«

»Das hat Firner noch mehr in Rage gebracht. Man brauche jeden. Und dass du auf Wiedereingliederung bestehst, hat er überhaupt nicht verstanden. Später hat er wohl in kleinerem Kreis gesagt, wer in dieser schwierigen Zeit nicht auf die Wiedereingliederung verzichte, sei unkollegial und ein Weichei.«

Das war ein Schlag in die Magengrube. Erzählte ihm Tammy das jetzt, weil er vorhin so ungeschickt nach ihrer Beziehung zu Georg gefragt hatte? Sie war doch kein Mensch, der sich mit einer Gegenattacke revanchierte. War das überhaupt eine Attacke? Vielleicht wollte sie ihn nur darüber in Kenntnis setzen, was Firner von ihm dachte. Firner! Sie waren nie Freunde gewesen, sich aber immer mit größtem Respekt begegnet. Warum diese Wende?

»Alban, hörst du mir zu?«

»Ja.«

»Das habe ich alles aufgeschnappt. Ich bin nicht bei der Besprechung gewesen, als Firner und Winker aneinandergeraten sind, sondern bei einer Prüfung.«

»Bei was für einer Prüfung?«

»Super-Recognizer.«

»Super-Recognizer?« Berger konnte es nicht glauben. Er hatte schon öfter von diesen Spezialisten gehört und einiges über sie gelesen, aber nicht viel behalten. Bisher war ihm an Tammy diese seltene Begabung nicht aufgefallen. Aber das hatte nichts zu sagen. »Wie kommst du auf Super-Recognizer?«

»Reiner Zufall. Ich habe gehört, dass auf Landesebene geplant ist, nach dem Beispiel der Münchner Polizei eine Projektgruppe Super-Recognizer aufzustellen. Tja, dann habe ich nachgefragt und mich beworben.«

»Mir ist nur nicht klar, wie du entdeckt hast, dass du für dieses Projekt geeignet sein könntest.«

»Ich habe ein sehr gutes Personengedächtnis und kann Gesichter speichern, um es vorsichtig zu formulieren. Aber so richtig bewusst geworden ist mir das erst jetzt mit dieser Projektgruppe.«

»Hast du ein Training absolvieren müssen?«

»Nein. Trainieren kann man so etwas nicht, ist uns erklärt worden. Aber es gibt Versuchsreihen, Kurz- und Langzeiterinnerungstests, um festzustellen, ob man wirklich diese Begabung besitzt. Ein Psychologe hat uns gesagt, dass nur zwei Prozent der Bevölkerung diese Fähigkeit haben.«

»Und wie läuft so etwas genau ab? Ich meine die Wiedererkennung von Menschen.«

»Also ich hoffe, ich bekomme das noch zusammen, was wir gelernt haben. Das menschliche Gehirn besteht aus Regionen. Bei der Gesichtserkennung arbeiten mehrere Regionen zusammen. Das eigentliche Sehzentrum befindet sich im Hinterhauptlappen. Der Sehnerv im Auge nimmt Informationen auf, das Sehzentrum im Hinterhauptlappen verarbeitet sie und leitet sie an die nachrangigen Sehzentren weiter. Und die wiederum setzen sie so zusammen, dass sich daraus ein dreidimensionales Bild entwickelt. Und mit diesem Bild kannst du vertraute Gesichter wiedererkennen. Selbst aus verschiedenen Blickwinkeln. Besonders wichtig dabei ist der Gyrus fusiformis. Wenn der geschädigt wird, sieht es schlimm aus. Dann kannst du zwar jedes Gesicht als Gesicht erkennen, aber du kannst es nicht mehr dem Menschen X oder Y zuordnen. Und dieser Gyrus fusiformis –«

»Hört sich an wie eine griechische Mahlzeit.«

Tammy ließ sich von Bergers Versuch, witzig zu sein, nicht aus der Ruhe bringen. »… scheint bei Super-Recognizern sehr stark vernetzt zu sein. Aber so ganz genau kennt man die Zusammenhänge noch nicht. Nach den ersten Versuchsreihen haben sie uns erst einmal die Illusion genommen, ein ganz besonderer Menschenschlag zu sein. Wir haben keine übernatürlichen Fähigkeiten. Aber wir sind besser als die Software zur Gesichtserkennung. Das Pech ist, dass unsere Erkenntnisse vor Gericht nicht gelten.«

»Aber euer Beitrag ist entscheidend beim Aufspüren von Verdächtigen.«

»Und genau deshalb will man eine solche Gruppe aufbauen. Die Trefferquote der Münchner Spezialisten ist mit rund 90 Prozent nämlich sehr hoch. Die Erfahrungen in London, dort ist vor zehn Jahren die erste Recognizer-Einheit aufgebaut worden, und in München zeigen, wie effektiv diese Spezialisten sind. Sie können Menschen wiedererkennen, die sie nur ein einziges Mal gesehen haben, zum Beispiel im Vorübergehen. Selbst wenn sich das Aussehen des Betreffenden deutlich verändert hat, können Super-Recognizer ihn nach langen Jahren identifizieren. Sogar spärliche visuelle Informationen wie alte unscharfe Fotos oder Filme und Bilder mit schlechter Auflösung sind kein Hindernis. Nach der Silvesternacht von 2015 hat die Kölner Polizei britische Spezialisten geholt, um übergriffige Täter zu fassen. Und in Hamburg helfen bayerische Recognizer bei der Aufklärung von Straftaten, die während des G20-Gipfels 2017 begangen worden sind. Allerdings: Wenn die Algorithmen für Gesichtserkennung sich weiter verbessern, werden wir wahrscheinlich schnell überflüssig. Dann sind wir nicht mehr weit vom Überwachungsstaat entfernt. Aber so weit ist es noch nicht. Jetzt warte ich die Endausscheidung ab, dann werden wir über unsere Einsätze aufgeklärt. Da bin ich mal gespannt. Möglicherweise werden wir zunächst bei Bundesligaspielen gegen Hooligans eingesetzt.«

»Tammy, ich bin sprachlos!«

»Ich auch, ich kann es noch gar nicht richtig fassen. Ich hätte nie gedacht, dass ich in die Endauswahl komme. Und außerdem: Ich werde wieder studieren. Kriminalpsychologie. Eigentlich ist es ja Rechtspsychologie.«

Warum versetzte ihm das einen Stich? »Gehst du weg?«

»Nein. Das läuft nebenbei, in Heidelberg. Ich pendle hin und her. Das Studium dauert nicht so lange, weil mir die fünf Semester Psychologie angerechnet werden.«

»Und was ist der Grund dafür, dass du doch weitermachst mit Psychologie?«

»Irgendwann habe ich mich gefragt, warum ich das Studium aufgegeben habe.«

Eine Frage, die sich Berger in den letzten Monaten auch gestellt, aber gleich wieder verworfen hatte. Was hätte er mit Germanistik anfangen können?

»Aber die Entscheidung damals war richtig, denn die Polizeiarbeit fesselt mich nach wie vor. Ich will jedoch mehr über Täter und ihre Motive erfahren. Wichtig ist mir auch die Opferforschung. Und die Beziehung zwischen Opfer und Täter.«

»Da kommt ja einiges auf dich zu. Wie sieht es denn in Zukunft mit der Freizeit aus? Du wirst sicher auf vieles verzichten müssen.«

»Am meisten schmerzt mich, dass ich etliche Motorradausflüge streichen muss.«

»Das glaube ich gerne. Aber sag mal, können wir noch mal auf Firner zurückkommen?« Es brannte ihm unter den Nägeln, mehr über Firner zu erfahren. »Nach Winkers Zusammenbruch ist doch davon auszugehen, dass die Nachfolge rascher geklärt wird, als wir denken. Glaubst du, dass Firner Chancen hat?« Firner als Kripochef – diese Vorstellung konnte Berger nicht ertragen.

»Noch steht ja nicht fest, wieso Winker zusammengebrochen ist. Aber ein Warnzeichen ist das allemal. Ich glaube, dass er in den Ruhestand geht. Ob Firner Chancen hat? Sein missglückter Auftritt neulich hat sich rumgesprochen. Ich denke, bis nach ganz oben. Da hat er sich keinen Gefallen getan, auch nicht mit seinen Äußerungen über die Cold-Case-Pläne. Die stammen von Winker und werden vom Polizeipräsidenten voll unterstützt. Manchmal habe ich das Gefühl, dass sich Firner als den geborenen Nachfolger von Winker sieht und alles andere ausblendet. Er muss aufpassen, dass ihm nicht einer oder eine von außen vor die Nase gesetzt wird. Von innen hat er wohl keine Konkurrenz zu befürchten. Ich kenne jedenfalls niemanden aus unseren Reihen, der ihm die Nachfolge streitig machen will. Zu seiner Ehrenrettung muss man natürlich sagen, dass er als Soko-Leiter wahnsinnig unter Druck steht. Er ist ohne Zweifel ein sehr guter Kriminalist. Dass die Soko Gifiz keinen Erfolg hat, wird in erster Linie ihm angekreidet. Er und Winker stehen im Blickpunkt der Presse, wenn es um die ChrisTer-Fälle geht. Nicht jeder würde den Druck aushalten.«

Berger kam ein weiterer Gedanke. »Tammy, mir fällt noch etwas ein. Winker hat mir gesagt, dass es im Gifiz-Fall beziehungsweise in den ChrisTer-Fällen etwas Merkwürdiges gebe, über das er mit mir unter vier Augen reden müsse. In dem Augenblick ist er zusammengesackt. Kannst du dir erklären, was er damit gemeint hat? Ich habe bisher keine Gelegenheit gehabt, die Unterlagen zu den Gifiz-Morden zu studieren. Ich meine, zu den ChrisTer-Fällen, wie ihr sie jetzt nennt. Das Wort will nicht in meinen Schädel. Hast du etwas Auffälliges entdeckt? Ich überlege schon die ganze Zeit, was an den Fällen so merkwürdig sein kann – außer dass wir keinen einzigen Täter gefasst haben.«

»Ich kann mich an nichts Besonderes erinnern. Abgesehen davon, dass diese Fälle an sich etwas Besonderes sind. Die Unterlagen füllen inzwischen etliche Aktenordner. Und die Datensammlung wächst noch immer. Außerdem kenne ich nicht jedes Detail. Wenn ich an die Felder denke, die ich beackere, fällt mir spontan nichts ein. Das will natürlich nichts heißen. Ich bin nicht bei allen Besprechungen gewesen in den letzten Monaten. Oft haben sie mich im Kriminaldauerdienst eingesetzt, das habe ich dir ja schon erzählt. Alles, was ich mitbekommen habe, wirkt nicht merkwürdig. So, und hier sollten wir einen Punkt machen, Alban. Denn wir wollen eigentlich den Fall hier beleuchten. Wenn es überhaupt einer ist. Was hast du denn bisher herausgefunden?« Jetzt war es Tammy, die eine thematische Kehrtwende vollzog.

Berger zog sein Notizbuch, das er immer bei sich hatte, aus der Jacke, die über der Rückenlehne des Stuhls hing, und blätterte darin. »Viel ist es nicht. Die Bergwacht und der zuständige Polizeiposten gehen von einem Unglück aus. Eine Fremdeinwirkung halten sie für nahezu unmöglich. Aber sie wundern sich, dass man an der Unglücksstelle abstürzen kann. Das hast du sicher auch auf deinem Tablet. Was mich etwas stutzig macht, ist die Tatsache, dass weder im Zimmer des Argentiniers noch in seiner Kleidung, die er zum Zeitpunkt des Unglücks getragen hat, ein Smartphone zu finden ist.«

»Und Notebook oder Tablet? Du hast doch sicher sein Zimmer gründlich untersucht.«

»Auch nichts. Aber ein hochwertiges Abspielgerät für CDs. Er hat anscheinend ein Faible für Musik gehabt. Mindestens 40 CDs sind auf seinem Schreibtisch gestapelt. Darunter viel Tangomusik, zum Beispiel Werke von Astor Piazzolla. Zu seinen Hinterlassenschaften zählen außerdem teure Zigarren. Er ist nicht der Ärmste gewesen. Das sieht man auch an seiner Kleidung. Die anderen Gäste machen ebenfalls den Eindruck, dass sie nicht am Hungertuch nagen, eher am Hummertuch.«

»Sehr witzig, Alban. Mich interessieren nicht die anderen Gäste, sondern das Zimmer von diesem Borges. Was ist dir noch aufgefallen?«

»Alles ist sauber aufgeräumt. Ich würde mal sagen: zu sauber. Was auch sehr komisch ist: Die Angestellten sind sehr zurückhaltend. Die sagen nur das Nötigste, wenn überhaupt. Feststeht, dass der Argentinier zu anderen Gästen so gut wie keinen Kontakt gehabt hat. Einmal hat ihn angeblich ein anderer Gast bedrängt. Behauptet eine der Bedienungen. Herr Borges habe sich bei der Hotelleitung beschwert, sagt sie. Dieser Gast sei nicht mehr aufgetaucht. Ihre Aussage hat mir niemand sonst bestätigt. Außerdem habe er sich immer an einen Einzeltisch im hintersten Eck gesetzt mit Blick auf Tür und Buffet. Das hat mir die Bedienung auch noch erzählt. Sie heißt Orsolja und ist die Gesprächigste von allen. Heute Morgen habe ich nach ihr gefragt. Da hat es geheißen, sie habe Urlaub genommen. Möglicherweise hat sie mir zu viel gesagt. Das Personal macht den Eindruck, als stehe es unter besonderem Druck. Ich habe auch versucht, Gäste zu befragen. Alle haben gesagt, sie wüssten nichts. Möglicherweise sind sie von der Hotelleitung aufgefordert worden, den Mund zu halten. Es sind zurzeit überwiegend ausländische Gäste hier, viele aus Südamerika. Ich habe mir die Gästeliste zeigen lassen. Ich wundere mich, wie das hier mit der Werbung läuft. Offenbar legt die Leitung des Hotels keinen Wert auf einheimische Gäste. Es sind nur wenige Deutsche darunter. Das Hotel macht seinen Gästen ein umfangreiches Angebot an Kultur, Fahrten zum Festspielhaus Baden-Baden, Ausflüge. Und viele Vorträge. Religiöse und politische Themen sind der Schwerpunkt. Die Referenten sind ebenfalls international.«

»Ich habe gestern Abend noch die Homepage des Hotels aufgerufen. Da steht, dass sie im Aufbau ist. Sonst nichts.«

»Das ist mir auch passiert. Das passt nicht zu einem internationalen Hotel. Aus dem Prospekt wird man auch nicht schlau. Es geht nicht daraus hervor, wer das Haus führt. Ein Familienbetrieb scheint es nicht zu sein. Und es gehört vermutlich auch nicht zu einer Hotelkette. Dafür ist es zu individuell gestaltet. Was hat den Argentinier nur bewogen, in dieses abgelegene Hotel zu kommen? Wie hat er von ihm erfahren? Vielleicht durch einen Bekannten aus Südamerika, der ihm das Programmheft zukommen ließ? Selbst wenn, ich kann mir nicht vorstellen, dass ihn das Programm gereizt hat. Eines ist übrigens interessant. Das hätte ich jetzt fast übergangen. Borges hat sich aller Wahrscheinlichkeit nach mit jemandem von außerhalb getroffen.«

»Hier im Hotel? Weißt du schon, mit wem?«

»Ja. Der Polizeiposten, der den Absturz untersucht hat, hat mir heute Morgen mitgeteilt, dass in der rechten Manteltasche des Argentiniers eine zerknüllte Visitenkarte gefunden worden ist. Die haben sie erst jetzt entdeckt. Er hat sich entschuldigt, dass sie die Visitenkarte übersehen haben. Hoffen wir, dass das der einzige Fehler in diesem Fall ist. Es handelt sich um einen Dr. Falco Gmeiner. Falco mit ›c‹. Und das ›c‹ sei unterstrichen. Dieser Dr. Falco Gmeiner wohnt in Oppenau. Die Visitenkarte sei etwas abgerieben und aufgeweicht, aber gerade noch leserlich. Die muss der Argentinier also schon vor längerer Zeit in seine Manteltasche gesteckt haben. Wo und ob überhaupt die zwei sich getroffen haben, kann ich nicht sagen. Als Beruf gibt dieser Falco Gmeiner auf der Visitenkarte ›Dozent für Volkskunde‹ an. Die Handynummer habe ich. Den müssen wir noch anrufen.«

»Das können wir doch gleich machen.«

»Wie du meinst.« Berger nahm sein Dienst-Smartphone und tippte die Nummer ein. Es dauerte eine Weile, bis sich jemand meldete.

Eine sympathische Stimme sagte: »Dr. Falco Gmeiner, Falco mit ›c‹. Wer ist da, bitte?«

»Berger. Alban Berger. Kriminalpolizei Offenburg.«

Noch bevor Berger sein Anliegen vorbringen konnte, fragte Gmeiner: »Habe ich etwas verbrochen?« Er klang nicht erschrocken, eher neugierig.

»Nein. Es geht um einen Gast im Hotel Schatzhauser, einen argentinischen Staatsbürger. Wir haben in seinen Unterlagen eine Visitenkarte von Ihnen gefunden. Haben Sie mit ihm Kontakt gehabt?«

»Ich habe mit einem Argentinier Kontakt gehabt, stimmt. Mit Señor Borges. Was ist mit ihm?«

»Er ist vermutlich tödlich verunglückt. Mehr kann ich nicht sagen.«

Gmeiner ließ Berger wieder nicht weiterreden. »Das Wort ›vermutlich‹ lässt einiges offen. Das heißt, Sie sind nicht hundertprozentig davon überzeugt, dass er verunglückt ist.«

»Ich spreche vermutlich mit einem Sprachwissenschaftler oder Semantiker. Die Sache ist ganz einfach. Der Fall ist überschaubar, aber wir müssen routinemäßig Fragen klären. Das ist unser Job. Zu Ihrer Beruhigung: Zum jetzigen Zeitpunkt gehen wir nicht von Fremdeinwirkung aus. Wir wollen das allerdings mit Ihnen nicht am Handy besprechen. Können wir uns heute Nachmittag treffen?«

»Bin ich zu einem Treffen verpflichtet?«

»Nein. Zum Erscheinen verpflichtet sind Sie nur, wenn Sie eine schriftliche Vorladung bekommen, von der Staatsanwaltschaft. Es geht um ein paar Fragen. Sicher können Sie uns weiterhelfen.«

»Und wo wollen Sie sich mit mir treffen?«

»Im Hotel Schatzhauser, wenn Ihnen das recht ist?«

»Das ist mir überhaupt nicht recht. Da gehe ich auf keinen Fall hin.«

»Und warum nicht?«

»Das sage ich Ihnen am Handy nicht.«

»Dann machen Sie einen Vorschlag.«

»Oppenau, das Café gegenüber der Weinbrenner-Kirche in der Stadtmitte. Es ist nicht zu verfehlen. 14.30 Uhr. Auf der Terrasse. Das Wetter wird heute Nachmittag gut.«

»Prima, dann um 14.30 Uhr in Oppenau. Ich danke Ihnen für Ihre Bereitschaft, mit uns zu sprechen.«

»Macht er Schwierigkeiten?«, fragte Tammy, nachdem Berger das Gespräch beendet hatte.

»Nein. Aber auf den Mann bin ich gespannt. Mal sehen, was bei dem Gespräch herauskommt.«

»Wir müssen aufpassen. Eigentlich darf es keine offizielle Befragung sein.«

»Das ist mir schon klar. Aber es bleibt uns nichts anderes übrig, als so zu verfahren. Wenn wir den offiziellen Weg gehen, müssen wir eine sehr gute Begründung liefern, dass bei dem Fall etwas nicht stimmt. Dann ufert zeitlich alles aus. Wir sitzen hier in einem sonderbaren Hotel und sollen letztlich bestätigen, dass ein Gast unterwegs ohne fremde Einwirkung abgestürzt ist. Auf dieses Ergebnis hoffen alle. Mehr verlangt man von uns nicht.«

»Warst du schon an der Absturzstelle?«

»Nein, gestern Abend ist es zu spät gewesen. Ich habe ohnehin vorgehabt, dass wir die Strecke zu zweit abgehen. Vier-Augen-Prinzip.«

»Vier Augen übersehen mehr als zwei. Das hat mir mal ein Ausbilder gesagt und mir eingetrichtert, dass man sich nicht zu sehr auf den anderen verlassen darf. Das führe zu nachlässigem Verhalten.«

Berger ging nicht auf die Belehrung ein.

»Kennst du den Weg?«

»Wir müssen etwa 200 Meter auf der Straße gehen, bis die Kurve beginnt. Danach zweigt ein Pfad links ab. Man kann ihn gut erkennen, weil ihn die Suchtrupps ziemlich zertrampelt haben. Nimm dein Tablet und dein Smartphone mit.«

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Возрастное ограничение:
18+
Дата выхода на Литрес:
25 мая 2021
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323 стр. 6 иллюстраций
ISBN:
9783839266007
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