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Kapitel 3

Beinahe hätte Alban Berger die Abfahrt zum Hotel Schatzhauser verpasst. Das kleine Schild, das den Weg wies, war nicht gut zu sehen, vor allem nicht bei diesen Lichtverhältnissen in der beginnenden Dämmerung. Die alte Schrift erschwerte zusätzlich das Lesen. Das Hotel schien keine Gäste anlocken zu wollen.

Er war viel zu spät dran. Der Zusammenbruch von Kripochef Winker hatte den ganzen Tagesablauf verändert. Zu Hause hatte er schnell seine Sachen zusammengepackt und Ariane einen Zettel hingelegt, dass er dienstlich für zwei Tage im Hotel Schatzhauser untergebracht sei. Sie führten seit Monaten eine »verzettelte« Beziehung. Wenn etwas zu erledigen oder mitzuteilen war, schrieben sie es auf ein Blatt Papier oder einen ausgedienten Briefumschlag und platzierten die Information mitten auf dem Esstisch.

Berger trat fest auf die Bremse und lenkte in letzter Sekunde den Wagen nach links auf einen Weg. Schotterstraße mit wassergebundener Decke, schoss es ihm durch den Kopf, so hieß dieser Straßenbelag im Fachjargon und wurde nur bei Wegen mit geringer Verkehrsbelastung aufgebracht, zum Beispiel bei Waldwegen. Das hatte Berger von seinem Bruder Harald gelernt, der Spezialist für Geodäsie, Geodateninformation und Berater von Gemeinden und Landkreisen war.

Bergers schnelles Abbiegen und seine kurze Unaufmerksamkeit brachten den Wagen ins Rutschen, aber er konnte ihn rechtzeitig abfangen und zum Stehen bringen. Allerdings würgte er den Motor ab. Er schaltete aus und wieder ein und fuhr vorsichtig weiter. Langsam musste er es angehen lassen, wie überhaupt alles in seinem Leben nach der Rekonvaleszenz. Was hieß denn Rekonvaleszenz? Dass er in der Endphase der Heilung war. Noch nicht gesund und noch nicht wiederhergestellt. In jeder Faser seines Körpers, in jedem Muskel und im Kopf spürte er das. Aber er war auf dem Weg zu seinem ersten Auftrag. Ein leichter Fall für den Wiedereinstieg.

Ein lauter Schlag unter seinem Auto riss ihn aus den Gedanken. Vermutlich war er über einen Stein gefahren. Konzentriere dich auf die Straße und stoppe deine dunklen Gedanken, beschwor er sich. Die Straße war nicht breit, hatte allerdings in regelmäßigen Abständen unterschiedlich große Ausweichbuchten. Sie schlängelte sich durch einen dichten Tannen- und Fichtenwald, der zum Namen »Schatzhauser« passte.

Nach einer weiteren Biegung musste er erneut scharf bremsen und traute seinen Augen kaum. Hatte er einen Tagtraum?

Vor ihm stand mitten auf der Straße ein großer Wolf und machte keine Anstalten, zu fliehen. Noch nie war er einem Wolf so nahegekommen. Nur einmal hatte er aus sicherer Entfernung Wölfe im Bärenpark bei Bad Rippoldsau-Schapbach beobachtet. In den etwas besseren Zeiten der letzten Monate, wenn die alte Leselust wie eine zarte Frühlingsblume leise erwacht war, hatte er sich unter anderem mit der Debatte über die Wiedereingliederung des Wolfes befasst. Wiedereingliederung! Eingliederungsmanagement für Wölfe! Wie viel Zeit bekam der Wolf, um sich wieder einzugliedern? Drei Monate, sechs Monate, ein Jahr, hundert Jahre? War der Wolf auch ein Rekonvaleszent? Seine Krankheit war doch der Mensch, der ihn in Deutschland ausgerottet hatte. Jetzt, da er zurückkam, fand er ganz andere Lebensräume vor, die nicht mehr seiner Natur entsprachen. Berger fragte sich, ob er auch in einen Lebensraum zurückkehrte, der nicht mehr für ihn geschaffen war. Er fand Wölfe wunderschön, hatte aber großes Verständnis für die Landwirte, die um ihre Schafe, Ziegen und Rinder fürchteten. Der Wolf lebte nun einmal nicht vegetarisch.

Während Berger seinen Gedanken freien Lauf ließ, stand der Wolf unbeweglich da, den Schwanz hatte er nach oben gestreckt, sein starrer Blick richtete sich auf das unbekannte Objekt auf der Straße, die Ohren waren nach vorn gestellt. Das Tier strotzte vor Selbstbewusstsein. Handelte es sich um jenen Wolf, der seit längerer Zeit den Nordschwarzwald durchstreifte? Berger zog sein privates Smartphone aus der linken Brusttasche, klappte den schwarzen Schutz auf und ließ vorsichtig das Seitenfenster herunter. Kalte Waldluft wehte ihm entgegen. Langsam streckte er sich aus dem Fenster und drückte mehrfach auf den Auslöser der Kamera. Der Wolf, dem die Kamerablitze nichts auszumachen schienen, neigte kurz seinen Kopf und richtete ihn wieder auf. Berger schätzte, dass das Tier eine Schulterhöhe von mindestens 75 Zentimetern hatte, wenn nicht noch mehr. Die Schulterhöhe der größten Wölfe betrug 80 Zentimeter, sie lebten im Norden Russlands, in Kanada und Alaska. War es wahrscheinlich, dass Wölfe von Russland bis nach Deutschland wanderten? Eher nicht, wenn die Wolfexperten recht hatten. Er schaute auf die Bilder, die er vom Wolf geschossen hatte. Sie waren erstaunlich gut. Eigentlich müsste er den Wolf den zuständigen Behörden melden, wollte sich das aber noch überlegen. Vielleicht leitete er die Fotos im Hotel weiter, wenn er eingecheckt hatte.

Berger klappte sein Smartphone zu und sah auf. Der Wolf war verschwunden – wie eine übernatürliche Erscheinung. Aber seine Fotos bewiesen, dass er sich nicht getäuscht hatte. Um ganz sicherzugehen, schaute er sie noch einmal an. Sie ließen keinen Zweifel zu. Er war einem Wolf begegnet, einem erstaunlich großen Wolf.

Als er weiterfuhr, schloss er das Fenster und versuchte, sich besser als bisher auf die Straße zu konzentrieren. Erst jetzt fiel ihm auf, dass an den Straßenrändern und im Wald noch angetauter Schnee lag. Der Weg zum Hotel zog sich endlos hin. Als er die gefühlt hundertste Kurve hinter sich ließ, staunte er.

In rund 200 Metern Entfernung stand ein riesiges, dreieinhalbgeschossiges Haus. Dezente Außenbeleuchtung machte aus dem Gebäude ein unheimliches Gebilde. Berger steuerte auf den halbrunden Parkplatz zu, der sich links vom Hotel befand. Es waren nicht alle Plätze besetzt. Langsam stieg er aus, holte seine schwarze, lederne Reisetasche mit Bügelverschluss aus dem Kofferraum, schloss den Wagen ab und ging zum Eingang. Über der Holztür stand in kräftigen alten Lettern »Hotel Schatzhauser«. Die Schriftart, die auch den Wegweiser zum Hotel geziert hatte, kam Berger bekannt vor. Sie zeichnete sich durch eckige Buchstaben und einen gebrochenen Schreibfluss aus. Es fiel ihm aber nicht sofort ein, wie sie hieß. Auf jeden Fall zog sie die Aufmerksamkeit auf sich und erinnerte an alte Zeiten. Die Eigentümer schätzten offenbar die Vergangenheit.

Er zog die schwere Tür mit Holzgriff auf, was nicht so einfach war. Gastfreundlich wirkte das nicht. Schwabacher! So hieß die Schriftart! Alte Schwabacher Schrift. Sie passte zu dem Namen »Schatzhauser«. Die Schwabacher war im 15. Jahrhundert entstanden. 1498 hatte sie Albrecht Dürer für seine 15 Holzschnitte zur Offenbarung des Johannes verwendet. Obwohl sie mit der Zeit von anderen Schriftarten verdrängt worden war, hielt sie sich bis ins 20. Jahrhundert. 1941 verboten die Nationalsozialisten die offizielle Verwendung der Schriftart und bezeichneten sie als »Schwabacher Judenlettern«. Berger erinnerte sich, dass er eine alte Ausgabe von Wilhelm Hauffs »Das kalte Herz« in der Schwabacher Schrift gelesen hatte.

Der Empfang im Hotel war so kühl wie die Waldluft in der Dämmerung. An der Rezeption nannte er seinen Namen, legte seinen Dienstausweis vor und sagte, dass für ihn ein Zimmer für zwei Nächte reserviert sei.

Der Mann an der Rezeption schaute ihn misstrauisch an. »Guten Tag, wir wissen Bescheid. Ihr Zimmer befindet sich im zweiten Stock, Nummer 21. Bitte füllen Sie den Meldezettel aus.«

Berger beeilte sich mit der Formalität und überreichte dem Mann wortlos das Papier. Wie um einen bösen Geist abzuwehren, streckte ihm der Mann eine gemaserte Holzkugel entgegen, an der zwei Schlüssel hingen, einer für das Zimmer und einer für die Eingangstür. Berger nahm die Kugel aus einer feuchten und kalten Hand entgegen.

»Sie können auch den Aufzug nehmen.«

»Nein, danke«, sagte Berger, »ich schaffe es über die Treppe«, und machte sich auf den Weg in den zweiten Stock. Trotz des gedämpften Lichts in den Gängen, fand er schnell das richtige Zimmer. Es lag über dem Eingangsbereich. Beim Öffnen der Tür schlug die Holzkugel wild hin und her. Mehrmals traf sie die Zimmertür. Falls er sehr spät in sein Zimmer zurückkehrte, durfte er die Holzkugel nicht so schwingen lassen. Als er sich umblickte, musste er zugeben, dass ihm der Raum gefiel. Auf dem hölzernen Schreibtisch lagen Prospekte, obenauf ein Flyer mit der Überschrift »Das Schatzhauser – ein Hotel aus echter Weißtanne«. Daneben mehrere Informationsblätter gleichen Inhalts, aber in verschiedenen Sprachen. Er schaute sich den deutschen Flyer genauer an.

»Sehr geehrte Gäste, unser Haus fühlt sich dem Erhalt der Schöpfung verpflichtet. Deshalb haben wir uns entschieden, das Hotel ausschließlich mit dem Holz des Schwarzwaldes zu bauen, mit der Weißtanne, der wichtigsten natürlichen Nadelbaumart dieser Region. Sie ist ein Symbol ewiger Lebenskraft, ein Sinnbild für Schönheit, Stärke und Größe und strahlt Achtung und Würde aus.

Unser Haus besteht aus nachwachsenden Rohstoffen. Dübel aus dem Holz der Rotbuche halten alles zusammen. Diese Rohstoffe binden zu 100 Prozent CO2 und schützen so unsere Erde. Das Holz verbreitet in den Innenräumen ein angenehmes Klima und einen wunderbaren Geruch. Es gleicht die Feuchtigkeit aus und ist bei Berührung immer warm. Schindeln der einheimischen Fichte bilden die Außenhaut unseres Hauses. Im Abendlicht strahlt unser Hotel eine ganz besondere Atmosphäre aus.

Den Namen ›Schatzhauser‹ haben wir bewusst gewählt. Schatzhauser ist der gute Geist des Schwarzwaldes, der vor dem Bösen bewahrt und den Tannenwald und seine Bewohner beschützt. Wir haben in diesem naturgerechten Haus alles so eingerichtet, dass Sie entspannen und in sich ruhen können. Wir legen größten Wert darauf, dass Sie sich nicht gestört fühlen, und wünschen Ihnen einen unvergesslichen Aufenthalt.«

Der Flyer war reich bebildert und zeigte das »Schatzhauser« aus unterschiedlichen Perspektiven. Auf der Rückseite befand sich nur ein Foto, das Hotel im Abendlicht. Es strahlte tatsächlich eine besondere Atmosphäre aus. Als wohltuend empfand Berger diese Atmosphäre aber nicht. Sie hatte etwas Unheimliches. Aber vielleicht verstellte ihm seine Skepsis den Blick auf die Ästhetik des Hotels. Er strich langsam mit seiner rechten Hand über die Wand am Nachttisch. Das Holz fühlte sich tatsächlich warm an.

Berger öffnete seine Bügeltasche und räumte seine Sachen in den begehbaren Wandschrank ein. Die Dienstpistole schloss er im Safe ein und bereitete sich auf die Befragung des Personals und der Gäste vor.

Die Befragungen konnte er nur teilweise führen. Einige der Gäste waren noch unterwegs und kamen vermutlich erst spät zurück ins Hotel, hieß es jedenfalls an der Rezeption. Berger konnte immerhin in Erfahrung bringen, dass der Argentinier so gut wie keinen Kontakt mit anderen Gästen hatte, pünktlich morgens um 8 Uhr zum Frühstück erschienen war, um 12.30 Uhr zum Mittagessen und um 19.30 Uhr zum Abendessen. Am Nachmittag hatte er lange Spaziergänge gemacht, niemand wusste, wohin. Wobei Berger dieser Aussage nicht traute. Wenn der Argentinier im Hotel geblieben war, hatte er sich auf seinem Zimmer, in der Bibliothek oder, bei entsprechender Witterung, auf dem Balkon aufgehalten und eine Zigarre geraucht, einen Cognac und meist noch einen doppelten Espresso getrunken.

Die Angestellten verhielten sich bei der Befragung so zurückhaltend, dass man es als Abwehr interpretieren konnte. Berger hätte genauso gut mit den Holzwänden des Hotels sprechen können. Was hatten sie zu verbergen? Alle ausländischen Gäste waren ebenfalls kurz angebunden. Das lag wahrscheinlich nicht an seinem Schulenglisch, vermutete Berger. Auf der Gästeliste standen neben einigen Südamerikanern auch zwei Deutsche und ein Schweizer. Die deutschen Gäste waren angeblich auswärts. Und der Schweizer gab vor, er sei erst vorgestern angereist. Laut Gästeliste war er aber schon vor fünf Tagen angekommen. Warum hatte er ein falsches Datum genannt? Oder hatte er sich einfach vertan?

Die Befragungen erwiesen sich insgesamt als Fehlschlag. Sie waren zwar nicht entscheidend für die eigentliche Untersuchung des Unglücks, warfen aber ein seltsames Licht auf das Hotel, das Personal und die Gäste. Als Berger mit allen, die zur Verfügung standen, gesprochen hatte, wurde ihm an der Rezeption der Zimmerschlüssel des Argentiniers ausgehändigt. Die Geschäftsführung sei nicht zu erreichen, hieß es. Er hätte sich gerne mit der Geschäftsführung unterhalten, wurde aber vertröstet. Erzwingen konnte er einen Gesprächstermin nicht. Er hatte ja nur den Auftrag, zu prüfen, ob beim Sturz des Argentiniers ein Fremdverschulden auszuschließen war. Dazu musste er an den Unglücksort. Den konnte er zusammen mit Tammy erst bei Tageslicht untersuchen.

Also nahm sich Berger zunächst das Zimmer des Toten vor. Zwei große Koffer standen links neben der Tür. Das Bett war frisch bezogen, im Badezimmer alles abgeräumt. Auf dem Schreibtisch im Wohnbereich lagen zahlreiche CDs, obenauf Robert Schumanns Opus 35: »12 Gedichte, Sehnsucht nach der Waldgegend«, ein CD-Spieler, ein Kopfhörer, einige Bücher in deutscher und spanischer Sprache, ein großes Etui, das sich als Zigarrenkiste entpuppte, und ein Behälter, in dem Besteck für Zigarren lag. Berger öffnete beide Koffer, die überwiegend Wäsche enthielten. Er breitete den kompletten Inhalt auf dem Bett aus, fand aber nichts Aufregendes oder Verdächtiges.

Das, worauf es ihm vor allem ankam, entdeckte er nicht: moderne Kommunikationsmittel. Heute reiste doch kaum jemand ohne Smartphone, Notebook oder Tablet! Er untersuchte die Koffer nach Zwischenräumen. Nichts. Berger rief den Zimmerservice und fragte, warum hier alles aufgeräumt sei. Das habe die Geschäftsführung so angeordnet. Auch die Koffer müssten bald weg. An ein Smartphone oder ein Notebook oder ein Tablet erinnerte sich der Mann vom Zimmerservice nicht.

Berger hatte sich für 20.45 Uhr zum Abendessen eintragen lassen, was die Rezeption wegen der späten Uhrzeit missbilligend aufgenommen hatte. Aber die Küche hatte bis 21.30 Uhr geöffnet, so stand es jedenfalls im Prospekt. Bei den Befragungen hatte er von einer Bedienung erfahren, dass der Argentinier einen Tisch in einer Ecke des Speisesaales bevorzugt hatte, von dem aus man alles beobachten konnte. Diesen Tisch ließ er sich reservieren. Die Bedienung hatte in dem Gespräch einen verängstigten Eindruck gemacht. Hatte sich der Argentinier verfolgt gefühlt?

Bis zum Abendessen hatte Berger noch fast eine Stunde Zeit. Die Pause nutzte er, um sich in der Bibliothek umzusehen. Morgen vor dem Frühstück wollte er alle Stockwerke des Hotels anschauen. Die Bibliothek befand sich im Untergeschoss. Mit einer Handbewegung hatte ihm der Mann an der Rezeption den Weg gezeigt. Langsam ging Berger die breite Holztreppe hinunter, die mit einem dicken dunkelgrauen Teppich ausgelegt war, der jedes Geräusch schluckte. Die Betreiber des Hotels, die in ihrem Prospekt die Stille priesen, trieben die Lautlosigkeit auf die Spitze. Am Ende der Treppe befanden sich rechts die Toiletten, gegenüber zwei Privaträume. Ein Stück weiter passierte Berger einen Raum, an dem ein Schild mit der Aufschrift »Meditation« angebracht war. Es folgten links ein Gebetsraum und rechts ein Seminarraum. Der Gang endete an der Bibliothek. Er drückte die Klinke.

Lautlos schwang die Tür auf und gab den Blick frei auf einen riesigen Raum, der an den Wänden voll von Büchern war, vom Boden bis zur Decke. Alles war ausgefüllt mit kerzengerade aneinandergereihten Büchern, die stolz ihren Rücken präsentierten. In jeder Ecke standen ein Sessel und ein Lesetisch mit einer nostalgischen Lampe. An jeder Wand war eine Leiter aus Holz angebracht, die man an einer Stange hin- und herschieben konnte. Zahlreiche Lämpchen leuchteten den Raum so aus, dass man die Bücherrücken gut betrachten konnte. Trotzdem wirkte das Licht unaufdringlich. Auf den ersten Blick schon sah Berger, dass es sich um wertvolle Bücher handelte. Es mussten mehrere Tausend sein. Solch einen ungewöhnlichen und gepflegten Bestand hatte er bisher nur in einem Antiquariat in Freiburg gesehen, in der Salzstraße.

Eine Wand war ausschließlich mit religiösen Werken und Bibelausgaben bestückt. Alle Bücher auf dieser Wandseite zeigten kaum oder gar keine Gebrauchsspuren auf dem Rücken, zumindest auf den ersten Blick. Berger ging die Reihen durch. In der vierten von unten fiel ihm eine Ausgabe besonders auf, die ihm bekannt vorkam. Er zog sie vorsichtig heraus. Kein Wunder, dass sie ihm aufgefallen war: eine Elberfelder Bibel von 1905. Eine solche Ausgabe hatte bei den ChrisTer-Fällen in der Soko Gifiz eine Rolle gespielt. Berger blätterte in dem alten Buch. Es war doch nicht so unversehrt, wie er vermutet hatte. Ein Blatt war herausgetrennt. Berger blätterte weiter und entdeckte, dass ein zweites Blatt fehlte.

»Was tun Sie hier?«, fragte eine scharfe, unangenehme Stimme, die einen leicht schrillen Unterton hatte.

Berger ließ sich nicht anmerken, dass ihn die Stimme erschreckt hatte, und drehte sich langsam um. Eine schlanke, hagere Gestalt, so groß wie er, mit einem strengen Gesicht und angegrauten kurzen Haaren stand vor ihm wie eine Bedrohung. »Sie sehen doch, dass ich mich für die Bücher interessiere. Das ist eine Bibliothek, die für alle Gäste offen ist, nehme ich an. Oder täusche ich mich? Habe ich ein Verbotsschild übersehen?«

Keine Antwort. Berger zog seinen Dienstausweis aus der Hosentasche und zeigte ihn dem Mann in schwarzen Schuhen, schwarzer Leinenhose und einem dicken schwarzen Rollkragenpullover.

»Hat Ihr Aufenthalt hier unten etwas mit Ihren Ermittlungen im Hause zu tun?«

Er war also doch nicht völlig verstummt. Und voll informiert.

»Vielleicht eher mit meinem Interesse für alte Bücher und besondere Ausgaben. Allerdings hat sich, so viel ich erfahren habe, der verunglückte argentinische Gast oft hierher zurückgezogen. Insofern hat mein Besuch auch mit den Ermittlungen zu tun. Aber davon abgesehen: In Bibliotheken entdeckt man immer wieder Neues und ungeahntes Altes. Manche Bücher offenbaren mehr Geheimnisse, als man denkt.«

Ob der Mann die Anspielung verstand?

»Aber ich schaue mich in allen Räumen des Hauses um, in denen sich Ihr verstorbener argentinischer Gast aufgehalten hat. Das ist reine Routine, seien Sie beruhigt. Und wenn ich so wunderbare Bücher sehe, ist es aus mit der Routine. Reicht Ihnen das als Erklärung?«

Der Schwarzgekleidete antwortete nicht, sondern verließ geräuschlos den Raum.

Berger blätterte wieder in der alten Elberfelder Bibel. Fast eine Viertelstunde beschäftigte er sich mit dem Buch. Zu seiner Überraschung blieb es nicht bei den fehlenden zwei Blättern. Insgesamt elf waren fein säuberlich herausgetrennt worden. Warum tat jemand so etwas? Er hasste es, wenn Bücher geschändet wurden. Berger notierte sich die fehlenden Seiten in seinem kleinen Notizbuch. Er fragte sich, warum ausgerechnet elf Blätter aus der alten Bibel gerissen worden waren. Hatte die 11 eine besondere Bedeutung? Wenn er wieder im Präsidium war, wollte er sich mit den fehlenden Blättern und der Zahl Elf beschäftigen, schließlich sollte er wieder in der Soko Gifiz arbeiten.

Auf jedem Lesetisch lag ein Programmheft in der Schwabacher Schrift. Auf der Vorderseite stand nur »Erbaulichkeit«. Auf den zwei Innenseiten waren Seminare und Referate für das erste Halbjahr aufgelistet. Ein Referat fiel Berger besonders auf. »Staat ohne Tapferkeit, Referent: Dr. Theobald Lenzen, ehemaliger Landesbischof.« Was wollte ein ehemaliger Bischof über einen mutlosen Staat erzählen? Das Referat war schon im März gehalten worden. Berger nahm das Programm mit und wollte sich später ausführlich mit den Seminaren und Referaten und vor allem den Referenten beschäftigen. Das Abendessen wartete auf ihn.

Er saß am Lieblingstisch des Argentiniers und blickte in den Raum. Nur die Hälfte der Tische war besetzt. Die Gäste unterhielten sich in ruhigem Ton, der kaum zu den anderen Tischen durchdrang, ganz im Sinne der Hotelleitung. Auf eine Beschallung des Raumes durch Hintergrundmusik wurde verzichtet, was Berger sehr begrüßte. Ein Kellner brachte ihm die Speisekarte. Die Rückseite zeigte das Hotel im Abendlicht, wie auf dem Flyer. Er klappte die großformatige Karte auf. In Spanisch, Portugiesisch, Englisch und Deutsch erklärte das Haus die Philosophie der Küche: »Die Kochkunst des Hotels Schatzhauser beruht auf dem Kreislauf der Schöpfung. Achtsamkeit steht bei uns im Vordergrund. Auf unserem Speiseplan finden Sie natürliche und biologische Produkte der Saison und der Region. Wir bereiten sie liebevoll und mit höchster Wertschätzung der Natur zu. So schaffen wir einen einzigartigen Geschmack, der Körper und Geist stärkt sowie die Kraft und die Einzigartigkeit der Schöpfung zur Geltung bringt.« Berger war erstaunt über das Angebot und gespannt, ob die Küche das Versprechen halten konnte.

Nach dem köstlichen, aber doch gewöhnlichen Abendessen eines guten Restaurants, legte sich Berger auf sein Bett und las die Referentenliste im Programmheft. Auf seinem Tablet recherchierte er nach Dr. Theobald Lenzen, dem ehemaligen Landesbischof. Lenzen hatte sich während seiner Studienzeit journalistisch betätigt, in Zeitschriften der Neurechten. Nach Examen und Doktorarbeit hatte er sich hochgearbeitet bis zum Bischof einer ostdeutschen evangelischen Landeskirche. Er bezeichnete sich als Kontrapunkt zum liberalen Mainstream in der Kirche. Seinen Aufstieg verdankte er unter anderem seinem Redetalent. Obwohl er gegen die Ehe für alle kämpfte, von der Aufweichung des Staates sprach, die offene Gesellschaft infrage stellte, mehr Gottesbezogenheit und mehr Abgrenzung in der Kirche und zu anderen Religionen forderte, war er zum Bischof gewählt worden. Als Artikel aus seiner Vergangenheit aufgetaucht waren, die seine rechte Haltung belegten, und es in der evangelischen Kirche zu rumoren begonnen hatte, war er zurückgetreten. Schuldbewusstsein zeigte er nicht. Er warf seinen Kritikern Hetzkampagnen vor und Feigheit vor der Auseinandersetzung um den richtigen Weg der Kirche. Der Rücktritt war für Lenzen jedoch kein Abschied von der öffentlichen Bühne. Er nutzte seine neu gewonnene Freiheit, trat als Redner und Vordenker eines strengen Protestantismus auf und füllte die Säle. Als habe man auf ihn gewartet. Ein Kommentator schrieb, die Menschen lechzten geradezu nach seinen Worten und Botschaften.

Auch die anderen Referenten auf der Liste, darunter evangelische und katholische Theologen, Politiker und ein Amerikaner, der verschiedene Regierungen beraten hatte, vermittelten in ihren Beiträgen ein ähnliches Welt- und Menschenbild wie der ehemalige Bischof: Stopp der Masseneinwanderung von Muslimen, Kampf gegen die gottlose Gesellschaft der liberalen Eliten auf der Welt, Rückkehr zu den wahren christlichen Werten. Der Amerikaner war als letzter Referent des ersten Halbjahres vorgesehen. Sein Thema: »Gladiatoren einer neuen christlichen Kultur«.

Alle Referenten, die Berger im Netz ausfindig machen konnte, beriefen sich nicht auf jüdisch-christliche Traditionen und Werte des Abendlandes, sondern nur auf christliche. War das »Schatzhauser« eine heimliche Ideologie- und Kaderschmiede? Ihn fröstelte, er klappte das Tablet zu, trank einen Schluck Wasser, machte das Licht aus und schlüpfte unter die Bettdecke. Gleich wurde ihm wieder wärmer.

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Возрастное ограничение:
18+
Дата выхода на Литрес:
25 мая 2021
Объем:
323 стр. 6 иллюстраций
ISBN:
9783839266007
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