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Wildis Streng

Die letzte Kurve

Kriminalroman


Zum Buch

Blut im Benzin Ein idyllischer Frühlingstag lockt die Biker der Motorradfreunde Hohenlohe auf die Straßen. Richard Wengert ahnt nicht, dass die Tour nach Langenburg zum Ostermarkt seine letzte sein wird. In einer Kurve verliert er die Kontrolle über sein Motorrad und prallt gegen einen Luxemburger Bratbirnenbaum, der ihm das Genick bricht. Schnell kommen Zweifel auf, ob es sich wirklich um einen Unfall gehandelt hat, denn der hinzugerufene Polizist bemerkt einen seltsamen Geruch, der aus dem Helm des Toten aufsteigt. Das hohenlohisch-westfälische Ermittlerduo Lisa Luft und Heiko Wüst nimmt die Ermittlungen auf. Bald wird klar, dass Richard Wengert kein Kind von Traurigkeit war. Sowohl in seinem direkten Umfeld als auch unter den Bikern hat er sich einige Feinde gemacht, die ihm nach dem Leben hätten trachten können. Auch einige Mitglieder der „Tarantel“, einer berüchtigten Crailsheimer Motorradgang, waren nicht gut auf ihn zu sprechen. Und jeder weiß, dass man sich mit der „Tarantel“ besser nicht anlegen sollte …

Wildis Streng ist in Crailsheim geboren und aufgewachsen. Nach dem Abitur studierte sie in Karlsruhe Germanistik und Malerei, seit 2006 arbeitet sie als Gymnasiallehrerin. Nach längerem Aufenthalt im Badischen lebt sie heute wieder in ihrer Heimat und unterrichtet in Crailsheim Deutsch und Bildende Kunst. In ihrer Freizeit widmet sich die überzeugte Hohenloherin der Malerei, der Fotografie und dem Schreiben. Aus ihrer Feder stammen bereits mehrere Kriminalromane rund um das sympathische hohenlohisch-westfälische Ermittlerduo Lisa Luft und Heiko Wüst. www.wildisstreng.de

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

3. Auflage 2020

Lektorat: Daniel Abt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © christels / Pixabay

und © PRILL / shutterstock.com

ISBN 978-3-8392-6612-0

Widmung

Für Anke.

Danke, dass Du meine Freundin bist!

Prolog

Ein knallblauer Himmel spannte sich über die majestätische Kulisse des Haller Marktplatzes. Gut, streng genommen müsste man »des Schwäbisch Haller Marktplatzes« sagen, aber das Wort »schwäbisch« wird hier in Hohenlohe nicht gern gehört. Also verzichtet der Hohenloher meistens auf das »Schwäbisch«, es weiß ja sowieso jeder sofort, dass die Stadt in Süddeutschland gemeint ist. Jedenfalls war wunderschönes Wetter an diesem Sonntag kurz vor Ostern, und der Marktplatz, auf dem normalerweise keine Fahrzeuge erlaubt sind, war zugestellt mit Motorrädern. Denn heute fand der Motorradgottesdienst vor der Michaelskirche statt, jenem majestätischen Bauwerk, auf dessen Freitreppe alljährlich die Freilichtspiele aufgeführt werden. Allerdings wurden die 72 Stufen heute nicht von gut trainierten Schauspielern bevölkert, sondern von einigen Männern in Uniform und einem im Talar. Pfarrer Frieder Vogt aus Gammesfeld, der Sohn des berühmten Bankiers der kleinsten Bank Deutschlands, war es, der von der improvisierten Kanzel auf den unteren Stufen der Treppe die Motorradfahrer und – wie er betonte, auch die Motorradfahrerinnen – gemahnte, öfters mal in den Rückspiegel zu sehen, nach dem Nächsten. Der Wind bauschte sein schwarzes Gewand, als der Pfarrrer mahnend einen Finger hob und mit deutlichem hohenlohischen Einschlag erklärte, dass nur Gott allein sich legitimerweise nicht an den vorgeschriebenen Sicherheitsabstand halte, denn er verlange von uns Menschen geradezu rücksichtslos, Rücksicht zu nehmen, und komme uns dabei gefährlich nahe. Bereits vorher hatte der Polizeimeister Werner in seinem Grußwort von den Verkehrstoten in Hohenlohe berichtet und gemeint, dass das wirklich kein schöner Anblick sei, niemals. Und dass das schon auch belastend sei für ihn und seine Kollegen. Die etwa 200 Motorradfahrerinnen und Motorradfahrer saßen mit andächtig gefalteten Händen auf den Sitzen ihrer Maschinen oder standen daneben und lauschten den weisen Worten. Sie alle gaben dem Herrn Pfarrer und dem Polizeimeister natürlich ganz recht, innerlich. Und trotzdem wussten alle, dass es auch dieses Jahr wieder irgendeinen von ihnen erwischen würde. Nur konnte niemand ahnen, wie schnell das geschehen sollte.

Friedlich lag der Burgbergwald im mittäglichen Sonnenlicht da. Das Grün sprosste eifrig, der Frühling war in vollem Gange. Das Surren der neuen Windkraftanlage, die die Hohenloher spaltete, war hier, an einer der tiefsten, dunkelsten Waldstellen, nicht zu hören. Fernab des Weges streifte das Sonnenlicht eher spärlich den Boden, drang nur ab und zu durch die dichten Wipfel des Hohenloher Mischwaldes. Feuchtigkeit stieg vom Grund auf, hier und da lagen noch Tautropfen auf den Anemonen und dem wuchernden grünen Buschwerk. Die Erde roch würzig und war von einem tiefen, satten Braun. Irgendein Vogel rief, aber das irritierte den kleinen rostroten Waldbewohner mit dem buschigen Schwanz und den Pinselohren nicht. Das Eichhörnchen war längst aus seiner Winterruhe erwacht, huschte geschäftig über den Waldboden, stets auf der Suche nach Insekten und Nüssen vom Vorjahr. Immer weiter sprang es, fand ab und zu Beute, blieb in Bewegung. Dann entdeckte es unter einer Kiefer etwas, was es noch niemals zuvor gesehen hatte. Einen Pilz. Allerdings hatte er eine seltsame Form. Unten hatte der Pilz einen glatten, hellen Stiel. Aber sein Hut war dunkler, geformt wie ein Badeschwamm, unregelmäßig, mit großen Kratern, die an erstarrte Lava denken ließen. Das Eichhörnchen kam näher, vorsichtig, tastete sich heran. Schnupperte. Noch einmal. Schließlich stieß es ein kurzes missbilligendes Pfeifen aus, drehte sich um und sprang in die entgegengesetzte Richtung davon.

Christine Wengert kochte, und das tat sie wirklich, wirklich gern. Und sie war stolz darauf, dass man ihr das Hobby nicht ansah – sie achtete penibel auf ihre Figur und trieb Sport. Ihr war wichtig, gut auszusehen, hübsch zu sein. Und das nicht nur wegen Richard, nein, sie wollte mit sich selbst zufrieden sein. Ab und zu gab es trotzdem Kalorienbomben, so wie heute die selbstgemachten Serviettenknödel mit Rahmpilzen. Christine betrachtete den Korb mit den frischen Pilzen, die sie gesammelt hatte, und sog den erdig-würzigen Waldduft ein, die sie verströmten. Sie ging gern in den Wald zum Pilze sammeln, und sie kannte sich echt gut aus. Deshalb konnte sie einen Champignon von einem Knollenblätterpilz und einen Parasol vom giftigen Riesenschirmling unterscheiden. Und genau deshalb waren ihre Hände jetzt, als sie die Pilze vorsichtig mit der Bürste säuberte, ganz ruhig. Man durfte sie nicht abwaschen, denn auf diese Weise büßten sie auf jeden Fall Geschmack ein, und das wollte man ja nicht. Ganz ruhig war Christine, weil sie sich nicht im Mindesten fürchtete, weil sie keine Angst hatte, einen Fehler zu machen. Die Ausbeute war heute besonders groß und vielfältig gewesen, ihr langer Waldspaziergang hatte sich gelohnt. Sorgfältig bürstete sie einen Pilz nach dem anderen ab, Maipilze, Morcheln, Stockschwämmchen und viele mehr. Dann schnitt sie sie mit einem scharfen Messer in Scheiben, um sie anschließend in einer Pfanne mit zerlassener guter Butter anzubraten und schließlich zu einem würzigen Pilzgericht für sich und ihren Mann zu verarbeiten.

Ostermontag

Kriminalkommissarin Lisa Luft blätterte in der Samstagsausgabe des »Hohenloher Tagblatts«. Sie und ihr Kollege Heiko Wüst hatten sich inzwischen gut eingelebt in dem kleinen Einfamilienhäuschen in Tiefenbach bei Crailsheim mit schönem Garten, das sie zur Miete bewohnten. Heiko biss in sein Erdbeermarmeladenbrot – in Hohenlohe »Breschdlingsxälzbrood« genannt.

»In Langenburg ist Ostermarkt«, erklärte Lisa und nahm einen Schluck aus der Kaffeetasse, während sie sich eine Strähne ihres langen blonden Haares aus dem Gesicht strich.

Garfield, ihre rotgetigerte Katze, sprang auf ihren Schoß, richtete sich schnurrend dort ein und taxierte Heiko mit einem bösen Blick. Gedankenverloren streichelte Lisa die zuckenden Katzenohren. Sita, Heikos Rauhaardackel, bettelte winselnd um ein Stück Xälzbrood. Im Gehege in einer Ecke des Raumes scharrte Alfred, der Deutsche Riesenschecke, den sie bei ihrem ersten gemeinsamen Fall vom Sohn des Mordopfers bekommen hatten, energisch in der Einstreu. Er war heute schon ausgiebig gestreichelt worden, dabei legte er die eleganten nachtschwarzen Ohren immer eng an und duckte sich, um möglichst lang zu sein und viel Streichelfläche abzugeben. Inzwischen hatten Lisa und Heiko einige Mordfälle zusammen gelöst, und die Westfälin Lisa hatte die Hohenloher kennen und lieben gelernt – vor allem Heiko, mit dem sie seit zwei Jahren zusammenwohnte. »Und, was meinst du?«, hakte sie nach.

Heiko, der immer noch kaute, ließ sein charakteristisches »Hm« vernehmen, ein Laut, der je nach Intonation wirklich alles ausdrücken konnte. Inzwischen war Lisa recht geübt im Verstehen der tatsächlichen Bedeutung dieser Lautäußerung, und dieses »Hm« klang wenig begeistert.

»Ach, Bärchen, da ist es doch immer schön in Langenburg! Denk doch nur mal an die Gartentage!«, erklärte Lisa nun mit einem kleinen Lächeln.

Heiko seufzte schwer. »Für Frauen vielleicht. Da kann man ja so gut einkaufen!« Heiko dachte mit Schaudern an seine Muswiesen-Erlebnisse, wo Lisa ihn zu stundenlangen Shopping-Exzessen gezwungen hatte. Anschließend hatte man tütenweise Zeugs mit heimgeschleift, das kein Mensch brauchte – die Krönung war eine Schaufel gewesen, die doppelt nutzlos war, weil jemand in ihr Blatt ein bezauberndes Gartenmotiv gelasert hatte und sie zudem völlig verrostet war. Das hässliche Ding steckte seit der letzten Muswiese in ihrem Beet und rostete fröhlich weiter vor sich hin. Witzigerweise fiel ihm gerade das Lied des Hohenloher Mundartsängers Kurt Klawitter ein, in dem er die Qualen der Männer während der »Langenburger Gartentage« besang. Wie überaus passend!

»Wir müssen ja nichts kaufen!«, schlug Lisa vor, aber alles, was sie Heiko damit entlockte, war ein missbilligendes Schnauben. Ihr Zugeständnis war ganz einfach unglaubwürdig.

»Ach komm schon, Bärchen.«

Heiko aß den letzten Bissen seines Brotes, nicht ohne zuvor ein Stück in Sitas begeistert klappendes Hundemaul zu werfen. Er streichelte den glücklich kauenden Hund, dann gab er sich geschlagen: »Wenn es sein muss.«

»Oder willst du lieber nach Bartenstein? Da ist auch Ostermarkt.«

Heikos Miene hellte sich auf. »Ja, da ist Flohmarkt, das finde ich viel besser!«

»Also gut, dann gehen wir nach Bartenstein«, zeigte sich Lisa kompromissbereit.

»Bardastoa«, korrigierte Heiko.

»Ja. Bahrtastooh.«

Und keiner der beiden hätte gedacht, dass sie an diesem Tag letztendlich doch in Langenburg landen würden.

Während Lisa und Heiko nach einer Weile auf der Landstraße durch Rot am See, Blaufelden und dann weiter in Richtung Schrozberg unterwegs waren, cruiste eine Gruppe Motorradfahrer, die zu den MFHC – den Motorradfreunden Hohenlohe-Crailsheim – gehörten, gerade auf der schmalen Landstraße, die sich an der Jagst entlangschlängelte. Sie ließen es ruhig angehen, keiner raste. Viel zu groß war die Euphorie über das wunderschöne Wetter, zu überwältigend die Landschaft. Sattgelb leuchtete der Löwenzahn auf den Uferwiesen, die Zweige der Weiden strahlten in grellem Hellgrün. Sie passierten Obstbaumwiesen, in Hohenlohe »Booma­ländle« genannt. Einige der knorrigen Baumbestände trugen nur zartgrüne Blätter, andere hingegen waren von Blüten überzogen wie von federleichten großen Schneekristallen. Einzelne dieser Blütenblätter regneten dann und wann auf die Motorradfahrer herab. Allerdings spürten sie die zarten Berührungen nicht, denn sie alle trugen Schutzkleidung, einige stylische Lederkluft, je nach Philosophie. Sie passierten die kleine Wirtschaft in Elpershofen, bogen rechts ab in Richtung Hürden und dann weiter nach Großforst, wo sie sich kein bisschen über die auf der angrenzenden Weide umherstolzierenden Strauße und die weidenden Lamas wunderten – die »Jagsttalranch« war einer ihrer beliebten Treffpunkte, und auch heute machten sie hier eine Pause, um einen Kaffee zu trinken und hervorragende Straußeneiwaffeln zu verzehren.

»Unglaublich, jetzt wohne ich seit vier Jahren in Hohenlohe, aber hier war ich noch nie«, stellte Lisa fest, als sie dem BMW M3 entstieg, den Heiko entgegen aller Bedenken ihres Chefs Schorsch auch als Dienstwagen nutzte.

Sita hüpfte begeistert aus dem Wagen, auch der Rauhaardackel schien sich über das schöne Wetter zu freuen. Heiko hatte das Auto an einer Straße geparkt, die zwar offiziell eine Landstraße war, auf der jedoch keine zwei Fahrzeuge aneinander vorbeikämen – beide mussten bei einer Begegnung auf das Bankett der von Obstbäumen gesäumten Straße ausweichen. Sie ließen die Scheunen eines Hofs links liegen und wanderten die Straße entlang, bis sie nach etwa 200 Metern zum Ortseingang gelangten. Leute kamen ihnen entgegen, die bereits auf dem Rückweg waren und die die typische Flohmarktbeute trugen – alte Bilder, Kleinmöbel, Lampen, Gruscht aller Art.

»Wir waren schon ewig nicht mehr auf einem Flohmarkt«, fiel Heiko ein, als er seine Hand in Lisas schob. Es fühlte sich gut an, er war gern mit ihr zusammen. Und erst neulich hatte seine Mutter ihn wieder gefragt, wann er seine Lisa, diese Traumfrau, denn endlich heiraten würde. Aber Heiko war der Meinung, dass man das gar nicht unbedingt musste. Er liebte sie, und sie liebte ihn. Und zusammen mit den Tieren waren sie doch bereits jetzt eine kleine Familie. Das reichte vollkommen aus, dazu brauchte es keinen solchen Romantikkram. Und Lisa selbst verlor kein Wort darüber, deshalb nahm er an … Verdammt, jetzt hatte er nicht aufgepasst, und Lisa hatte ihn zu einem Tisch mit Schmuck gezogen, den sie ausgiebig studierte. Heiko wechselte einen Blick mit Sita, die dem Graffel wohl ebenso wenig abgewinnen konnte wie er.

Lisas blaue Augen streiften hingegen die Art-Déco-Broschen. »Hübsch«, fand sie und langte nach einer, die ungefähr die Farbe ihrer blonden Haare hatte. »Was soll die denn kosten?«, fragte sie den Mann hinter dem Tapeziertisch. Dem Verkäufer fehlten vorne zwei Zähne und trotz der relativen Wärme trug er einen blauroten Fleecepulli mit Rollkragen. Seine grauen Haarsträhnen wackelten, als er antwortete. »Für Sie, meine Hübsche, nur einen Zehner!«

Lisa schenkte dem Mann ein Lächeln und bot an: »Für einen Achter nehme ich sie mit!«

Der Mann grinste. »Aber nur, weil Sie es sind!«

Nach einer knappen Stunde war die Gruppe der Motorradfreunde Hohenlohe-Crailsheim wieder aufgesessen und folgte der Straße weiter, passierte die »Mosesmühle«, ein hervorragendes Restaurant an der kleinen Jagstinsel in Bächlingen, und bog endlich in die Serpentinenstraße ein, die der legendäre Walter Röhrl bei den »Langenburg Classics« einst unzählige Male in atemberaubender Geschwindigkeit bezwungen hatte. Endlich gelangten sie nach Langenburg, wo sie zu ihrer Verwunderung alle einen Parkplatz vor dem Schloss des Fürsten Philipp bekamen. Philipp zu Hohenlohe-Langenburg war nun, da Meghan ihr erstes Kind bekommen hatte, nur noch auf Platz 190 in der englischen Thronfolge – das bedeutete, dass man 189 Leute umbringen müsste, damit ein Hohenloher den englischen Thron besteigen könnte. Das wäre womöglich vernünftig, denn Hohenloher waren einfach vernünftige Leute. Allerdings dachte Richard Wengert nicht im Geringsten daran, irgendjemanden umzubringen; im Gegenteil, er freute sich einfach über den schönen Tag mit seiner Motorradtruppe und mit seiner Frau, und auch darüber, dass die Susi mit ihrer langen schwarzen Mähne heute mal wieder besonders scharf aussah. Für einen Moment dachte er daran, wie ihn diese Mähne neulich gekitzelt hatte, als sie sich mit ihrem gertenschlanken Körper auf ihm gewunden hatte. Dann schob er seine Hand in die von Christine.

In der Zwischenzeit wanderten Lisa und Heiko durch den Flohmarkt in der Bartensteiner Hauptstraße und erreichten endlich das Schloss.

»Das ist schon faszinierend, dass hier in jedem Dörflein ein Schloss steht, einfach so«, wunderte sich Lisa, als sie neben Heiko vor dem gelben Barockgebäude stand. »Da würde ich auch gern wohnen«, setzte sie hinzu und warf einen sehnsüchtigen Blick auf den opulenten Bau.

»Und dann würdest du gern so Prinzessinnenkleider anziehen wie alle kleinen Mädchen, oder?«, grinste Heiko und zupfte neckisch an einer von Lisas blonden Haarsträhnen.

»Aber natürlich!«, versicherte Lisa grinsend. »Das würde ja absolut dazugehören! Und du könntest dann so ein Königskostüm aus blauem Samt mit weißen Hermelin-Puffärmeln anziehen, eine Krone tragen und auf einem weißen Pferd herumreiten.«

»So weit kommt’s noch!«, wiegelte Heiko ab.

»Des Schloss können Sie fai mieten«, meldete sich plötzlich jemand neben ihnen.

Lisa entdeckte einen älteren Mann mit Spazierstock und Hut, der sie anerkennend musterte. »Ach, tatsächlich?«, vergewisserte sie sich, und Heiko runzelte die Stirn. So ein Quatsch, sie hatten doch ein schönes Häuschen in Tiefenbach, das war vollkommen ausreichend!

»Der Fürst Maximilian von Hohenlohe-Bartenstein vermietet eine der Wohnungen«, informierte der Mann weiter und deutete mit seinem Stock unbestimmt in Richtung des Schlosses. »Also ii briiechds etz net, weil ii wouhn ja in Bardastaa. Aber wenn mer etz net in Bardastaa wouhnt, noa wär des also eine Möglichkeit, dass mer amole in am echta Schloss wouhna kennt, und noch derzua in Bardastaa!«

»Sousou!«, machte Heiko.

»Das könnten wir direkt mal machen, meinst du nicht, Bärchen?«, fragte Lisa. »Also, ich fände das cool!«

Der Motorradclub, der soeben über die Jagsttalstraße nach Langenburg gefahren war, erlebte derweil ein ganz ähnliches Szenario. Während Richard und Manfred sowie die vier Jungen Timo, Simon, Max und Jan sich etwas zurückfallen ließen, umschwirrten die Damen wie Kolibris auf der Suche nach Nektar die Stände, an denen Körbe, allerlei Osterkitsch, von guatemaltekischen Bauern handgenähte Taschen, von nepalesischen Strickerinnen handgestrickte Pullover und von hohenlohischen Bienen gesammelter Honig angeboten wurden. Auch Bernulf Schlauch hatte einen Stand mit seinem selbstgemachten Holundersekt und seinem berühmten Hutzellikör, den sie leider nicht probieren konnten, da sie ja noch fahren mussten. Einzig Susi interessierte sich wenig für die Auslegeware, sondern positionierte sich vor hübschen Locations wie dem schön dekorierten Osterbrunnen, um ein Duckface zu ziehen und ein heißes Foto für ihre 5.478 Instagram-Follower zu schießen.

Max Wengert, der genau wie sein Vater ein begeisterter Biker war, ließ Susanne die ganze Zeit über nicht aus den Augen. Vor fünf Jahren hatten sie einmal was miteinander gehabt, damals, sie waren ja fast noch Kinder gewesen. Und die Susi war sich ihrer Schönheit, ihrer Anziehungskraft, die sie auf die Männer ausübte, noch gar nicht bewusst gewesen. Sie hatte die lange Mähne meistens zu einem Pferdeschwanz gebunden und war in Schlabberpullis herumgelaufen. Jetzt aber, jetzt wusste sie, wie schön sie war. Längst hatte sie ihren Augenaufschlag perfektioniert, die nachlässige Geste ihrer Hand, mit der sie sich scheinbar zufällig falsch gefallene Haarsträhnen aus dem Gesicht strich. Das abschätzige Schürzen der vollen Lippen, wenn sie nachdachte. Ach, wie es gewesen war, diese Lippen zu küssen, damals, vor fünf Jahren! Weich und samtig waren diese Lippen. Wunderschön! Heute waren sie Freunde, das war okay. Ging schon. Außerdem hatte sie ja einen neuen Freund, und mit dem wollte sich Max nun wirklich nicht anlegen.

Auch Jan, der eine quasi selbstgebastelte Kutte trug, weil er fand, dass zu einem Motorradclub eine Kutte gehörte, hätte sich niemals mit Susis neuem Freund angelegt, obwohl er die Susi wirklich extrem scharf fand. Außerdem war er ja mit Lydia zusammen, der schönen, aber ein bisschen braven Lydia. Die studierte in Leipzig und war nur einmal im Monat da. Sie war ein Rohdiamant, durchaus, sie konnte ein bisschen geschliffen werden bei Bedarf, er musste sie nur dazu kriegen, den Motorradführerschein zu machen, dann könnte sie der Susi das Wasser reichen, beinahe jedenfalls.

Die beiden Jungs beobachteten nicht nur Susi. Ihre Blicke folgten auch argwöhnisch jeder Bewegung von Timo, der als Einziger im Club eine ältere Moto Guzzi fuhr. Denn Timo war es, der gerade mal wieder die Susi zum Lachen brachte, mit einer hingeworfenen Bemerkung aus seinem von einem Hipster-Bart umrundeten Mund. Die geschleimte Frisur darüber passte zum Look, genau wie die genietete Lederjacke. Er war die Sorte Mann, bei der man sich fragte, ob der Betreffende nicht vielleicht doch schwul war – womöglich, ohne es selbst zu wissen. Jedenfalls ärgerte es die anderen beiden, dass die Susi jetzt ein Selfie mit dem Hipster schoss, wahrscheinlich für ihren Instagram-Account. Obwohl sie sich das Posten in dem Fall eventuell verkneifen würde, denn das würde garantiert ihr Kerl sehen, und vor dem hatten sie, wenn sie ehrlich waren, alle ein bisschen Schiss. Der war nämlich …

»Wie wär’s mit einem Kuchen?«, schlug Manfred plötzlich vor.

»Ich liebe Wibele-Torte!«, stimmte Ulrike, seine Frau, zu.

Wenige Minuten später ergatterte die Gruppe einen Platz auf der begehrten Sonnenveranda des Café Bauer, von der aus man eine überwältigende Aussicht ins Tal Richtung Bächlingen hatte. Diejenigen von den MFHC, deren Bikes nicht über ein Case verfügten, hatten ihre Helme an der Garderobe gelassen, und alle genossen die wärmenden Strahlen der Sonne, denen man hier voll ausgesetzt war. Und noch ein bisschen später hatten sich alle ein Stück dieser leckeren Torte bestellt, für die das Café Bauer berühmt war, knusperten Wibele dazu und tranken Kaffee.

Christine beobachtete die Susi. Die schöne, tolle Susi, hinter der sie alle her schmachteten. Die Susi. Die blöde Schlampe, die alle Männer verrückt machte. Dabei war sie liiert, man munkelte, mit einem von den ganz Großen. Aber das genügte der schönen Susi nicht, sie brauchte mehr. Christine bezweifelte, dass sie die Heerschar der älteren sabbernden Kerle, die sie beständig angierten, tatsächlich ranließ. Und natürlich war ihr nicht entgangen, wie Richard dieses Weib mit Blicken verschlang. Ungeniert anstierte, auch in ihrer Gegenwart, das war ihm scheißegal. Oder er hielt sie für zu blöd, es zu bemerken. Beides war gleich beschissen. Ein Lachen perlte von den sinnlichen Lippen der schönen Susi, weil der bedauernswerte junge Schönling Timo, der ihr hoffnungslos verfallen war, wohl irgendeinen dümmlichen Witz gemacht hatte. Und das, obwohl der auch eine Freundin hatte, eine ganz nette. Die Susi konnte sie alle haben, anders als sie, Christine. Sie sah zwar auch nicht schlecht aus und war eigentlich ganz zufrieden mit sich. Aber an die schöne Susi kam sie nicht heran, denn die war einfach eine Sexbombe. Und das war okay, es gab solche Frauen und würde sie immer geben. Aber wenn die einmal ihren Richard anfassen würde, dann gnade ihr Gott.

Lisa und Heiko schlenderten unterdessen weiter Hand in Hand durch das sonnenbeschienene, frühlingshafte Bartenstein, und Sita wartete ebenso geduldig wie Heiko, wenn Lisa irgendeinen Krempel anschauen oder kaufen wollte. Irgendwann fand Heiko auch mal was, einige Fossilien aus dem Jagsttal, Hohenloher Muschelkalk und roten Jaspis für seine Mineraliensammlung im Büro. Und schließlich beschlossen sie, eine Pause zu machen und einen Kuchen zu essen.

Die Gruppe der MFHC hatte fast zwei Stunden lang die Aussicht über das Jagsttal Richtung Bächlingen genossen, im Westen lag das Fürstenschloss und im Osten das Mawell, »Mayer’s Wellness«, wo die Hohenloher in einem Wellness-Park entspannen konnten. Es war traumhaftes Wetter, und man beschloss, gemeinsam weiterzufahren, in Richtung Braunsbach.

Richard nahm seinen Helm von der Hutablage, genau wie einige andere. Kurze Zeit später hatten sie wieder den Parkplatz zwischen dem Automuseum und dem Hohenloher Kunstverein erreicht. Richard Wengert strich sich eine Strähne seines lockigen mittelbraunen Haares zurück, setzte seinen Helm auf und wunderte sich nur kurz über den etwas seltsamen Geruch. Wirklich ekelhaft, er würde mal wieder ein Reinigungsspray anwenden müssen.

Zwei Minuten später saßen alle auf, er warf Christine einen letzten freundlichen Blick zu, den sie nickend erwiderte. Dann schielte Richard noch einmal verstohlen zur schönen Susi, die soeben ihre lange vorhangartige Wallemähne unter ihrem rabenschwarzen Helm zu bändigen versuchte. Sie sah ebenfalls zu ihm her, erlaubte sich ein kleines, vielleicht etwas spöttisches Lächeln und zwinkerte ihm zu, was Christine Gott sei Dank vollkommen entging. Wie ihr sowieso das meiste entging, aber so war das nun mal nach 20 Jahren Ehe. Richard nagte an seiner Unterlippe, seine Zungenspitze schoss kurz hervor, ach Gott, die Susi war ja so heiß!

Und dann starteten sie, drehten das Gas hoch, und wie immer war es ein erhebendes Gefühl, im Pulk Motorrad zu fahren, als Gruppe, welche die Leute zwar nicht fürchteten, wohl aber ein klein bisschen respektierten. Sie schwenkten nacheinander mit eleganten fließenden Bewegungen nach rechts in die kleine Steige in Richtung Bächlingen ein, über die sie auch gekommen waren, denn die Strecke war einfach wunderschön. Alle hatten sie unterschiedliche Maschinen, es war alles dabei – Allrounder, Tourer, Chopper, Enduros. Ein paar Meter, die mit einiger Steigung nach unten verliefen.

Plötzlich fühlte Richard auf seinem grellblauen Tourer Übelkeit in sich aufsteigen. Er wunderte sich – das konnte doch nicht sein, er hatte nicht mehr spucken müssen, seit er sich vor zehn Jahren auf dieser blöden Kreuzfahrt das Norovirus eingefangen hatte. Irritiert runzelte er die Stirn unter seinem hellblauen Helm mit dem silberfarbenen Blitz, spürte, wie ihm die Wibele-Torte wieder hochkam, die war aber doch gut gewesen? Krampfhaft bemühte er sich, trotz seines aufsteigenden Brechreizes die Lenkstange ruhig zu halten beziehungsweise im richtigen Winkel zu den Kurven der unerbittlichen Serpentinen. Die Strecke erforderte höchste Konzentration, und da würde er …

Richards Sicht trübte sich, er bekam Herzrasen, der Schweiß brach ihm unvermittelt aus und rann salzig in seine Augen. Gleichzeitig sprudelte ein Schwall Erbrochenes in seinen Helm. Wengerts Organismus pumpte Unmengen Adrenalin in seinen Körper, in sein explodierendes Herz, das bei dem rasenden Tempo kaum mehr mitzuhalten vermochte. Nach ein paar Sekunden kapitulierte es, setzte einfach aus, erst einen Schlag, dann einige weitere. Er schaffte es noch, korrekt auf die S-Kurve zuzusteuern, aber dann fuhr er einfach geradeaus weiter. Das Motorrad bäumte sich an dem kleinen Hang auf, schanzte augenblicklich nach oben, schleuderte Richard Wengert vom Sitz, und das Letzte, was er in seinem Leben wahrnahm, waren ein blühender Obstbaum und der wolkenlose Hohenloher Himmel, bevor er sich beim Aufprall am Baumstamm das Genick brach.

Sebastian Werner war einer der Polizisten, die zum Unfallort gerufen worden waren. Wie es der Zufall wollte, handelte es sich um ebenjenen Polizisten, der eine Woche zuvor beim Motorradgottesdienst vor der Haller Michaelskirche zur Vorsicht im Verkehr gemahnt hatte, denn ein jeder Verkehrstoter war eine schwere Belastung für ihn und die Kollegen, auch psychisch. Und natürlich war ihm bewusst, dass das müßig war, dass die Leute fuhren, wie sie wollten. Und dass sie nicht wirklich damit rechneten, dass ihnen etwas passieren könnte. Weil die schweren Unfälle ja immer nur den anderen passierten. Obwohl es bisher seines Wissens keinen einzigen Biker-Gottesdienst gegeben hatte, bei dem die Gläubigen ein Jahr später noch in derselben Besetzung gewesen waren. Irgendeinen erwischte es halt immer.

Sebastian Werner seufzte schwer, er hätte es wirklich begrüßt, wenn es dieses Jahr noch ein klein wenig gedauert hätte. Nun gut, immerhin hatten er und seine Kollegin es hier wohl leicht, die Sache war eindeutig: Kontrollverlust in der Kurve. Das Übliche, vor allem, wenn die Kerle getrunken hatten. Vorbei an den vollkommen schockierten Bikern, die wie Ölgötzen am Wegrand neben ihren Maschinen standen, ging Werner die paar Schritte über die blühende Wiese auf die Leiche zu. Eine hemmungslos schluchzende Frau beugte sich über den grotesk verrenkten Leichnam und ein junger Mann kniete ebenso fassungslos daneben. Der Polizist murmelte beruhigend auf die Frau ein, als wäre sie ein scheues Pferd, und bat sie, ihn einen Blick auf den Toten werfen zu lassen. Er winkte zwei der Sanitäter herbei, der eine fasste die Frau mit sanfter Gewalt am Arm, der andere kümmerte sich um den jungen Mann, und die beiden wurden in Richtung des Krankenwagens geführt. Sebastian Werner wandte sich wieder der Leiche zu, schnupperte, zog die schmale Nase kraus und wunderte sich. Er beschloss, dass es wohl doch besser wäre, den Staatsanwalt anzurufen. Und der meinte, dass sich das schon so anhören würde, als solle man da mal die Kripo und die Spurensicherung hinschicken, nur so zur Sicherheit.

Sita, Lisa und Heiko waren bei einer Heidelbeer-Sahne-Torte und einer Limonade der Eico-Quelle aus Wallhausen sowie einer Schale Wasser für den Hund vor dem schön geschmückten Brunnen auf dem Dorfplatz in Bartenstein auf einer Bierbank gesessen, als der Anruf sie erreicht hatte. Der Kollege hatte einigermaßen schockiert geklungen, es handelte sich wohl um einen Motorradunfall, bei dem er sich über die Umstände wunderte. Genaueres hatte er am Telefon nicht verlauten lassen, sondern nur darum gebeten, dass sie so schnell wie möglich herkämen. Eigentlich war es Glück gewesen, dass der Anruf Heiko überhaupt erreicht hatte, denn in Bartenstein gab es nicht immer Netz, Internet konnte man jedenfalls vergessen. Heiko beendete das Gespräch, seufzte verdrossen wegen des verdorbenen Feiertags, stopfte sich mit einigem Bedauern den letzten Bissen Torte in den Mund und spülte mit Kaffee nach. Lisa hatte ihren Kuchen schon gegessen, und wenige Minuten später waren sie auf dem Weg über Riedbach, wo sich das »Franken Bräu« befand, und das fußballbegeisterte Billingsbach und dann weiter nach Bächlingen.

956,63 ₽
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Возрастное ограничение:
18+
Дата выхода на Литрес:
25 мая 2021
Объем:
273 стр. 6 иллюстраций
ISBN:
9783839266120
Издатель:
Правообладатель:
Автор
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