Читать книгу: «Mein Sonntag in Münster», страница 3

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Doch zuerst müssen die Frauen sich zusammenfinden. Wir kreiden lange um die Gedanken unserer Mutter. Wie Rauch über dem Feuer suchen wir unseren Ursprung zu ergründen, um in ihm zu einem Geist zu werden. Plötzlich, in einem Blitz, sehe ich mich selbst. Ich öffne die Augen: Meine Mutter schaut mich an. Ich habe sie gefunden, ich sehe durch ihre Augen auf mich selbst. Dann sehe ich sie aus einem leicht veränderten Blickwinkel – Misra! So sieht Misra unsere Mutter. Und wieder verändert – Siria, dann die Augen und der Geist Beas. Nun müssen wir zusammengehen. Es ist wie ein Schreiten, jede Schwester geht auf jede ihrer Schwestern zu. In unser aller Mittelpunkt aber wartet still und mit weisem Lächeln unsere Mutter auf uns. Es geht schnell, ich spüre viele Gefühle in mir. Viele spüren mich. Wir spüren uns. Nun sind wir zusammen, ohne Geheimnis, ohne Arglist. Es ist Liebe. Liebe! Wir sind eine Familie, wir sind der Geist einer Familie und wir wollen, dass diese Familie weiter wächst. Wir wollen ein Kind.

Die Männer frieren stärker, als wir gemeinsam auf sie zugehen. Sie bemerken uns nicht, und wir treten bei allen zugleich ein. Frano zugleich neben dem blonden jungen Mann. Wie verschieden ihre Seelen sind! Und die anderen. Am Ende aber immer wieder und immer stärker. Seno. Seine Jugend? Nein, er ist nicht jung, er trägt die Last und die Erfahrung eines langen Lebens in sich. Er ist ein alter Mann und voll der Weisheit eines alten Mannes. Aber er ist kräftig und jung, er ist Jugend und Alter zugleich. Wir sind verwirrt, denn wir verstehen Seno nicht. Wir sind nicht in einen Mann eingedrungen, sondern stehen in einer Stadt voller Menschen. Frauen, ja auch Frauen sind darunter. Es ist ein Wunder, das uns Angst macht. Die Seelen der anderen haben wir vergessen, sie streifen uns wie leichte Schleier im Wind, und wir achten nicht mehr auf sie. Vor uns liegt, verborgen in einem einzigen Menschen, eine große Stadt voller Menschen. Wir werden nie verstehen können, dass es möglich ist, als ein Mensch eine Stadt in sich zu verbergen. Deshalb also war uns Seno Mann und Frau zugleich! Hinter der zufälligen Gestalt des jungen Mannes gibt es keinen einzelnen Geist, es gibt Tausende einzelner Geister. Fantasie – kann hinter diesem alltäglichen Wort das stehen? Aber dies ist Wirklichkeit!

Wir bemerken, dass wir nicht mehr fähig sind, uns von Senos Bewusstsein zu trennen. Wenn man ein Wunder sieht, wie kann man da zum Gewöhnlichen zurück? Wir starren Seno an, vieläugige Frau. Dann kommt der Auftrag auf uns zu. Wollen wir diesen Auftrag noch hören? Gewiss, bis heute war es unauslöschlich sicher, dass Frauen Kinder empfangen. Es war sicher, dass wir dazu zusammengekommen sind, um einen Vater für Sirias Kind zu bestimmen. Aber nun stehen wir vor einem Wunder, das wir nicht begreifen können. Soll Seno der Vater dieses Kindes sein? Seine Erlösung – das Wort kracht in unser Denken. Wir wollen kein Kind, nein, kein Kind mit Seno! Doch der Auftrag fließt wie siedender Honig aus den Zeremoniengeräten. Er treibt uns vor sich her. Sein süßer Geruch steigt heiß in unsere Nasen: Wenn wir dem Auftrag, den wir den Geräten selbst gegeben haben, nicht nachkommen, wird uns diese klebrige Substanz überfluten, unsere Gehirne werden ineinander verklebt bleiben. Die gewaltsame Trennung brächte uns allen den Wahnsinn. Jedes Mädchen lernt diese wenigen, einfachen Tatsachen in der Schule. Aber Seno ist ein Wunder. Kann man ein Wunder, einen Menschen, in dem Tausende von Frauen wohnen, einfach dazu benutzen, um ein Kind zu zeugen? Und sei es auch ein Mädchen. Wir stellen uns dem Auftrag entgegen. Es ist unmöglich, das Gerät ist nicht abschaltbar, seine Sicherheit ist die Gewähr der Fortpflanzung. Wir haben den Trieb, Kinder zu zeugen, er kommt auf uns zu, der Auftrag! Warum keinen anderen? Blutschänderische Fantasie – warum nicht Gulo? Aber wir können uns von Seno nicht mehr entfernen, und der Auftrag ist stärker als wir.

Wir öffnen die Augen. Die Männer stehen in einem schwachen Frösteln da. Nur Seno, Seno liegt am Boden, geschüttelt vom Fieber unserer gemeinsamen Anstrengung, ihn zu verlassen. Wir starren ihn mit allen unseren Augen an und sehen, dass er uns ansieht. Es ist Bewusstsein in ihm. Er lächelt. Was weiß – weiß er alles? Ja, er sieht uns und lächelt uns zu. Wir spüren seine Dankbarkeit. Er ist dankbar, dass wir den Versuch machen, ihn zu verlassen und das Wunder seiner Fantasie zu bewahren. Doch wir vermögen nicht länger der Lavamasse des Auftrags zu entgehen. Derjenige, in dessen Geist wir sind, wird für Siria bestimmt sein. Wir sind in Senos Seele, er hält uns fest. Er ist der Erwählte. Was bleibt uns nach diesem letzten Versuch, uns gegen den Auftrag aufzulehnen?

Unser Widerstand ist gebrochen. Wir haben Seno bestimmt, und die Zeremonie wird ihren festgelegten Fortgang nehmen. Wir folgen dem Körper von Siria. Die Männer mit Ausnahme von Seno erhalten von den Zeremoniengeräten den Befehl, sich zurückzuziehen. Sie begeben sich in den größeren Raum, aus dem sie zu Beginn der Zeremonie gekommen sind. Sirias Körper steht auf. Wir stehen auf. Seno kniet nieder und wir treten auf ihn zu. Zweimal zwei unserer Hände lösen sein Gewand und zwei andere Hände lösen das Gewand von Sirias Körper. Noch immer sehen wir die Stadt in Senos Seele. Viele andere Landschaften. Rot glühende, herbstliche Urwälder. Sternenräume aus Unendlichkeit. Doch nun, da wir den Widerstand aufgegeben haben, können wir all das staunend und mit großer Freude sehen. Wir treten auf Seno zu. Er liegt nun auf dem Rücken und erwartet unseren Kuss, unseren erlösenden Kuss. Seine Augen sind ein wenig starr, und er lächelt, als wir uns über ihn beugen. Er öffnet den Mund und heißt uns willkommen. Er ist ganz bereit für uns, wartet auf unsere schnellen, erfahrenen Bewegungen. Wir spüren ihn, riechen seinen Körper, der noch nach dem Öl des Vorbereitungsbades duftet. Wir hätten es ahnen können, dass dieser Duft nicht von einem Mann gemischt ist. Wie war es möglich, dass Frauen nicht auf diese naheliegenden Gedanken gekommen sind. Er hat sich vor uns verborgen, wie sich Wunder eben zu verbergen pflegen.

Unsere brennende Hoffnung, unsere Erwartung des Kindes überfällt uns vollkommen. Und da unsere Lust und unsere Freude sich mit Senos Gier mischen, da erkennen wir mit einem Mal: Wir bevölkern mit vielen anderen Frauen Senos Geist. Wir sehen uns. Nackt und mit vor Lust verzerrten Gesichtern entspringen wir seinen Gedanken. Dort an einer Straßenecke sehen wir Misra liegen. Auf dem Rasen eines Parks wälzt sich schreiend Dugua. Siria tanzt mit lüsternen Augen im Licht von hundert hell strahlenden Scheinwerfern. Bea steht bis zu den Hüften in warmem Wasser und zittert in ihrer Anstrengung. Mora liegt an einem weiten Strand, und der helle Sand wärmt ihren Rücken und ihre Beine. Wir alle sind Senos Fantasie und Lust. Er ist in uns. Er lebt von uns und erhält uns am Leben. Dann spüren wir ihn. Wir sehen sein Gesicht, seine Arme, seine Brust. Unser Blick verweilt dort, wo er sich mit Sirias Körper vereinigt. Seine Beine stützen diesen Körper unserer Schwester, der sich langsam auf und nieder bewegt. Dieser Körper gehört uns allen. Das ist die Zeremonie.

In einem Sekunden einer unbegreiflich langen Zeit währenden Blitz verbrennt dieser erste Teil der Zeremonie: Unser Kind soll wachsen und leben! Unser seufzender, langer Schrei hat ihm den Weg ins Leben gewiesen. Die Geräte instruieren uns, denn unsere Gedanken sind noch leer, und wir wissen nicht, was wir tun sollen. Als wir bemerken, dass wir wieder vereinzeln, haben die kleinen, dunklen Kästen uns bereits vorwärts geschoben.

Langsam sehe ich diesen schlanken Körper wieder aus meinen eigenen Augen. Als ich um mich blicke, treffen mich Beas Blicke, und ich erschrecke. Sie ist bleich und ihr blutleeres Gesicht steht voll Entsetzen. Sie weiß, dass die Zeremonie nicht aufgehalten wird. Senos Erlösung – wir dürfen sie nicht unterlassen. Wir sind an Seno herangerückt und legen unsere Hände auf seinen Körper. Wir streicheln über ihn hin. In den nächsten Minuten, vielleicht in den nächsten Stunden erst, werden wir ihn erlösen. Ich erinnere mich eines Traums, unseres gemeinsamen Traums. Die Erinnerung ist ebenso dunkel wie die Bilder, die von einem Spaziergang in mir emporsteigen. Seno ist jung. Er wird bald bereit sein für die Erlösung. Mutter beginnt zu singen. Meine Schwestern stimmen ein. Auch ich beginne, zu singen. Unsere weichen Frauenhände tragen Seno davon. Er lächelt. Wie jung er ist. Schon nach wenigen Minuten spürt er die Lust wieder in sich. Die Zeremoniengeräte melden es uns. Er vermag sich seinem erneuten Verlangen nicht entgegenzustellen. Auch darin zeigt sich seine Jugend. Ältere Männer versuchen, die Erlösung hinauszuzögern. Unser Gesang wird lauter. Wir berauschen uns daran, wiegen uns, immerfort Senos Körper berührend, im Takt des Gesangs hin und her. Bald glüht das Gesicht des jungen Mannes vor uns. Doch das ist noch nicht das Ende. Er wird unsere Dankbarkeit spüren, er wird die Lust eines ganzen langen Manneslebens in wenigen Minuten spüren, in die Grenzenlosigkeit zusammengedrängt. Er beginnt leise zu wimmern, dann zu schreien. Es ist, als versuche er, unseren Gesang zu vollenden. Wir singen lauter und übertönen seine leisen Schreie.

Die Männer bringen uns, von den Geräten zur rechten Zeit dazu aufgefordert, die Watte und das goldene Messer. Das vergoldete Stilett, das zur Erlösungszeremonie bestimmt ist, ist einer Nadel ähnlicher als einem Messer. Gulo trägt es auf einem blauen, mit Samt belegten Tablett. Er überreicht es Siria. Sie hat ihr Kind empfangen, ihr gebührt das Messer. Sie sitzt bereits an der rechten Stelle, links neben Senos Brust. Unser Gesang ist lauter und lauter geworden, und nachdem die Männer sich wieder entfernt haben, wird er zum Hymnus. Seno scheint mit uns zu singen. Es kann nicht mehr lange bis zum Ende sein. Unsere Hände in ihrer Zärtlichkeit und die Geräte werfen ihn höher und höher. Wir wissen, dass er sich dir Erlösung wünscht. Könnte er noch sprechen, so würde er uns anflehen, ihn schnell zu erlösen. Wir sind ihm dankbar und bemühen uns, seinem Wunsch zu entsprechen.

Alles geschieht rasch jetzt. Unser Gesang wird zum Schreien, unsere schwankenden Körper beschwören in ihrer Ekstase Senos Erlösung. Dann spüren wir das Ende, sehen es zugleich: Siria hebt ihr Messer und stößt zu. Sie trifft Senos Herz mit dem ersten Stich. Das Blut, das aus der winzigen Wunde fließt, fangen wir mit den Wattebäuschen auf. Seno öffnet die Augen und sein Blick dankt uns. Er lächelt. Sein Lächeln werden wir bis zur Geburt des Kindes aufbewahren.

Wir verbringen die Zeit bis zum Ende der Woche in Gesprächen. Bea fährt, wie es ihr zusteht, am selben Tag ab. Wir küssen unsere kleine Schwester und geben ihr Ratschläge für die Männersuche. Sie sieht dennoch ein wenig traurig aus. Mutter fragt sie, ob sie nicht bei der nächsten Zeremonie ein Kind haben wolle. Bea zuckt mit den Achseln, dann sieht sie uns alle noch einmal an, und wir erkennen, dass sie noch immer traurig ist.

Am letzten Tag unseres Zusammenseins erreicht uns die Nachricht, dass Bea tot ist. Wir wissen nicht, woran sie gestorben ist. Es ist nicht üblich, danach zu fragen. Wir werden es nie erfahren.

1978 Das Familientreffen. Aus: Science Fiction Story Reader 10. Hrsg. von Herbert W. Franke. München: Heyne. (Heyne TB 3602). – Unter dem Pseudonym Heinrich Werner.

Ein Mann für Jolanda

Eugen und Simon stehen nicht weit vom Eingang zur Höhle auf einer kleinen Anhöhe und schauen wie jeden Abend nach Westen. Heute geht die Sonne bei unbedecktem Himmel unter, und das heißt, dass man eine rot verhangene, blasse Scheibe am Horizont sehen kann. Eugen und Simon, so nennt auch die Gruppe diese beiden merkwürdigen Gestalten. Nachnamen gibt es nicht mehr. Sie sind überflüssig geworden, denn die Gruppen sind so klein, dass man alle leicht mit Hilfe von Vornamen unterscheiden kann.

Nachdem sie eine Weile stumm und ehrfürchtig in die Sonne gestarrt haben, fängt Eugen an zu reden. Er bemüht sich, seine hohe Fistelstimme leise zu halten. Es gelingt ihm nur sehr unvollkommen. Während des Redens gestikuliert er nervös mit seinem linken Arm, der ganz dünn und beinahe ohne alles Fleisch ist. Sein rechter Arm indessen, stark und kräftig und das Urbild eines gesunden Männerarms, hängt wie abgestorben an seinem Körper.

»Ich sage dir«, singt er mit sirenenhafter Stimme, »wir müssen uns nach einem Mann für Jolanda umsehen. Du wirst mit mir übereinstimmen, dass bei der einzigartigen Schönheit Jolandas kein Mitglied unserer Gruppe als Mann infrage kommt.«

»Ich glaube, wir sollten noch ein wenig warten«, sagt Simon. Seine Stimme ist eher ein Keuchen, asthmatisch und röhrend.

»Und ich sage dir«, singt Eugen dagegen, »dass sie bald vollständig geschlechtsreif sein wird. Hast du denn nicht bemerkt, wie Robert sie immer anstarrt? Warum? Weil die Narren das beste Gespür dafür haben. Darum.«

Simon, den das Sprechen allzu sehr anstrengt, schüttelt nur den Kopf und gibt so zu verstehen, dass er die Einschätzung Eugens noch immer nicht teilt.

»Aber du gibst wenigstens zu, dass Jolanda so schön ist, dass wir uns nach einem Mann umsehen müssen, der nicht zur Gruppe gehört, nicht wahr?«

Hier nickte Simon bedächtig. Er erinnerte sich für einen Augenblick an Jolandas Schönheit. Das heißt nicht, dass Simon an ein schlankes, blondes Mädchen mit hellen, wasserblauen Augen dachte. Nein. Jolanda war klein, rundlich, sogar dick. Sie hatte einen etwas dümmlichen Gesichtsausdruck, war über und über bedeckt mit Pickeln und hatte Füße, die für ein Mädchen ihrer Größe wirklich außergewöhnlich waren. Die Füße verliehen Jolanda ein entenhaftes Aussehen, das sie durch einen watschelnden Gang unterstrich. Und nebenbei gesagt: Jolanda hatte nicht nur ein dümmliches Gesicht, nein, sie war dumm. Hart an der Grenze zu den Narren. Aber sie war schön. Eugen hatte nicht übertrieben. Sie war schön, weil ihr nichts fehlte. Sie hatte Haare, Augen, Ohren, ein vollständiges Gesicht mit richtigen Lippen, Hals, Arme, Beine. Unter ihrem Kleid zeichneten sich bereits kleine Brüste ab. Sie hatte alle körperlichen Eigenschaften der früheren Menschen, und deshalb war sie schön. Um schön zu sein, brauchte man weder Eugens exakt arbeitenden Verstand noch Hermines wunderschöne, dunkle Augen zu besitzen. Schön zu sein, heißt vollständig sein. Eugen hatte recht, man musste sich nach einem Mann umsehen, der ebenso wie Jolanda vollständig war. Zusammen konnten sie die schönsten Kinder in ganz Europa haben. Selbstverständlich gab es keine Garantie. Es war durchaus möglich, dass keines der Kinder überhaupt lebensfähig war. Aber die Wahrscheinlichkeit, dass Jolanda mit einem schönen Mann wunderschöne, vollständige Kinder haben würde, war doch sehr, sehr groß.

In der Gruppe, der Jolanda ebenso wie Eugen und Simon angehörte, gab es keinen zeugungsfähigen Mann, der schön genug war, um mit Jolanda verheiratet zu werden. Das Problem war nur, dass die anderen Gruppen weit entfernt waren. Wer Jolanda besuchen wollte, musste mitten durch das verstrahlte Gebiet, das rings um die Höhle lag. Bei dieser Reise bestand die Gefahr, dass der junge Mann Genschäden davontrug, die das ganze Vorhaben sinnlos werden ließen. Eugen und Simon dachten schon seit geraumer Zeit über diese Sache nach. Die Chance, einige vollständige Kinder zu bekommen, war zweifellos gegeben. Das war das Wichtigste. Und es lag in ihrer Entscheidung, wie man vorgehen sollte, denn schließlich waren sie die Köpfe der Gruppe. Wenn sie auch alles andere als schön waren, so hatten sie doch einen klaren Verstand, ein Umstand, der ihnen in der Gruppe den Ehrentitel ›die Philosophen‹ eingetragen hatte. ›Das müssen wir unsere Philosophen fragen‹, war eine gängige Redewendung, wenn man vor einem Problem stand und nicht weiter wusste. Jolanda war ein solches Problem.

»Ich habe gestern mit Rudolf gesprochen. Er sagt, in einer der Gruppen ganz in ihrer Nähe, da gäbe es einen Jungen ungefähr so alt wie Jolanda. Der sei auch ganz und gar vollständig.«

»Rudolf? Seine Gruppe ist doch südlich von Nürnberg, oder?«, fragte Simon keuchend.

»Ja schon, aber sonst kennen wir doch niemand. Das ist doch immerhin etwas,«

Simon ließ seinen großen Kopf wieder bedächtig hin und her pendeln, ehe er antwortete. »Das sind über fünfzig Kilometer. Luftlinie. Das können wir nicht schaffen.«

Die Höhle, in der die Gruppe lebte, lag in der Fränkischen Schweiz. Die Tatsache, dass Simon sogleich die Entfernung kannte, zeigte, dass er einer war, der viel wusste. Um solche Dinge kümmerte sich sonst keiner in der Gruppe. Wozu auch. Außer Eugen hatte sich noch kein Mitglied der Gruppe jemals mehr als fünf Kilometer von der Höhle entfernt. Überall war stark verstrahltes Gebiet. Mit Rudolf hatte Eugen über das alte Funkgerät gesprochen, das die Gruppe besaß. Das Funkgerät war ein Schatz und unbezahlbar. Nur ganz wenige Gruppen hatten eine solche Zauberkiste. Eugen konnte gegenwärtig mit ungefähr zwanzig anderen Gruppen sprechen. Es wurden freilich immer weniger. Noch vor zwei Jahren waren es ungefähr dreißig gewesen. Irgendwann hatte jedes Gerät einmal einen Defekt. Es gab weder jemanden, der wusste, wie es zu reparieren war, noch Ersatzteile.

Wie sie es schaffen sollten, einen jungen Mann heil über fünfzig Kilometer zu Jolanda zu bringen, wusste auch Eugen nicht. Einmal, in seiner Jugend, war er selbst auf eine weite Reise gegangen. Er ganz allein, und mit nichts anderem, als einem guten Geigerzähler. Er hatte einfach immer versucht, irgendeinen Korridor in der Landschaft zu finden, der nicht unbegehbar war. Die ganze Gruppe, obwohl sie ihm von der Reise abgeraten hatte, war stolz auf ihn. Von jener Expedition damals stammte auch das Funkgerät. Die harte Strahlung? Nun, Eugen wusste, dass er trotz der Benutzung der Korridore so viel an Strahlung abbekommen hatte, dass seine Lebenserwartung deutlich unter der der anderen Gruppenmitglieder lag. Er war jetzt siebenundzwanzig Jahre alt. Die Reise lag mehr als zehn Jahre zurück. Er rechnete damit, dass er noch fünf, maximal zehn Jahre zu leben hatte. Ohne die Reise damals wäre er vielleicht fünfzig Jahre alt geworden. Aber trotzdem, die Reise hatte sich gelohnt. Er hatte nicht nur das Funkgerät, sondern auch einen Handkarren voller Bücher zurückgebracht. Mithilfe dieser Bücher hatten die Menschen in der Höhle lernen können, und heute gehörten sie sicherlich zu den wenigen Gebildeten in Mitteleuropa. Simon wusste sogar, wie weit Nürnberg von ihrer Höhle entfernt war. Den großen Atlas hatte er damals in einer halbwegs erhaltenen Bücherei in Bamberg gefunden.

»Wir müssen uns eben etwas einfallen lassen«, sagte Eugen. »Von alleine geht nichts, das ist klar. Aber ich habe da so einige Ideen, die mir durchaus realisierbar zu sein scheinen.«

Die Sonne war im roten Nebel verschwunden. Aus den Büschen mit den lilafarbenen Blüten, von unterhalb der Höhle, kamen die letzten Sammler mit ihren Beeren und Pilzen zurück. Ein gutes Jahr. Genug zu essen. Keine Niederschläge, die die Nahrung aus dem Wald ungenießbar machten. Was noch gegessen werden konnte und von welchem Zeitpunkt an gehungert wurde, weil die Früchte zu stark strahlten, all das legten Eugen und Simon gemeinsam fest. Sie waren dafür häufig davon befreit, mit den anderen zusammen Früchte zu sammeln. In diesem Jahr würde es leicht gelingen, die Vorräte für den Winter anzulegen.

Mit den letzten Sammlern kam auch Jolanda zurück. Trotz ihres unbeholfen breiten Gangs kam sie leichter zur Höhle herauf als die meisten anderen. Es gab kaum einen, der nicht eine Krankheit oder eine Missbildung hatte, die ihn beim Gehen behinderte. Und diejenigen, die gut sehen und zupacken konnten, führten die Narren an den Händen. Die meisten der Narren waren durchaus imstande, Früchte zu sammeln. Es musste nur jemand da sein, der sie von Zeit zu Zeit neu anleitete, denn sie vergaßen immer wieder, was sie eigentlich tun sollten. So nahm man sie am Morgen und am Nachmittag mit in den Wald, sie verrichteten geduldig die Arbeiten, die ihnen einer aus der Gruppe auftrug.

»Wie ist es gegangen?«, fragte Simon, dessen Stimme beim Aussprechen des letzten Wortes aufkreischte.

»Hier, schau!«, sagte Jolanda stolz und wies auf ihren Korb, der bis zum Rand mit Himbeeren gefüllt war.

Simon verzog sein Gesicht zu einer anerkennenden Grimasse und ließ seinen Kopf ein paar Mal nach vorne auf seinen Brustkasten fallen. Er hörte mit Vergnügen Jolandas Stimme, die so wohltönend, ohne Zischen oder Kreischen war. Ja, sie mussten wirklich einen Mann finden, der genauso schön war wie Jolanda. Sie verdiente es, dass man sich um sie bemühte. Nur durch solche Menschen wie sie würde auf die Dauer der Bestand der Gruppen gesichert werden können.

Mit den Sammlern gingen Simon und Eugen zurück zur Höhle. Bald würde die Nacht kommen, sie mussten das Gatter vor die Höhle schieben. Zwar fanden die wilden Hunde jetzt im Sommer genügend Beutetiere, aber es war dennoch besser, wenn man vorsichtig war. Manchmal trieben sich die Hunde auch im Sommer in der Nähe der Höhle herum.

Als sie das Gatter geschlossen hatten, setzten sich Eugen und Simon in ihre Sesselstühle und warteten auf das Abendessen. Richard, der Koch, und zwei Frauen waren dabei, es zuzubereiten. Sie kochten Pilze und Kartoffeln. Als das Essen gar war, trat Eugen mit dem Geigerzähler an den Topf. Ein leichtes Rattern, nicht besonders stark. Eugen hörte sich das Geräusch ein paar Sekunden lang an, dann nickte er mit dem Kopf, und Richard begann, mit einem Schöpflöffel die Essensgefäße, Teller und kleinen Schüsseln, zu füllen.

Nach dem Abendessen rückten Eugen und Simon ihre Sessel näher an das Feuer, um noch ein wenig über grundsätzliche Fragen der Geschichte und Entwicklung der Gruppe zu sprechen. Manchmal setzten sich einige Gruppenmitglieder dazu und hörten verwundert, welch seltsame Ideen da gesponnen wurden. Jeder konnte bei dieser Gelegenheit feststellen, dass Eugen und Simon wirklich allen anderen geistig überlegen waren. Die Führung der Gruppe lag bei ihnen in guten Händen.

Heute setzte sich niemand zu den beiden Philosophen. Alle verkrochen sich nach dem Essen in ihre Ecken, um gleich darauf einzuschlafen. Die Arbeit während des Tages war anstrengend gewesen.

Eugen und Simon, die ihre Stimmen leise zu halten suchten, um die anderen nicht zu stören, waren nach kurzer Zeit bei einem ihrer Lieblingsthemen angekommen: Sie diskutierten darüber, wie es zum Krieg gekommen war. Manchmal, wenn sie sich über eine These besonders uneins waren, kreischte die Stimme Eugens auf, oder Simons Rede wurde von einem konvulsivischen, erbitterten Röhren unterbrochen. Die Schlafenden störte das nicht mehr.

Schon seit Jahren stritten Simon und Eugen über die Entstehungsursachen des Krieges. Sie taten es leidenschaftlich, sehr grundsätzlich und mit der Freude am intellektuellen Wettstreit. Ihre beiden Positionen waren seit Langem unverändert gegensätzlich, aber immer wieder bemühten sie sich, ihren Auffassungen neue Facetten hinzuzufügen. Noch immer hoffte jeder von den beiden, dass er eines Tages den anderen überzeugen werde.

Simon vertrat die Auffassung, an diesem letzten Krieg, wie an allen anderen Kriegen auch, sei die Unfähigkeit des Menschen schuld, seinen technischen Fähigkeiten moralische Schranken zu setzen. Wie auch immer, die Menschen seien nicht imstande, tödliche Auseinandersetzungen zu vermeiden. Sie könnten einfach nicht wissen, ob andere es ehrlich mit ihnen meinten. Misstrauen und Rüstung seien die natürliche Folge. Der Krieg sei immer das Überhandnehmen von Misstrauen und Rüstung.

Eugen setzte dem immer erst einmal entgegen, diese Betrachtungsweise sei viel zu ernsthaft. Heute sei die Zeit gekommen, aus der ironischen Distanz auf die Vergangenheit zu sehen. Gerade weil alles verloren sei, müsse man mit größerer Freiheit an die Erklärung gehen. Er mokierte sich über Simons anspruchsvolle Gedankengebäude und nannte sie bestürzend vollkommen. Sie hätten, wie sich Eugen auszudrücken pflegte, ›philosophische Vorkriegsqualität‹. Vor allem wenn er sich so über Simons Thesen lustig machte, geriet Eugens Stimme völlig außer Kontrolle und begann sich zu überschlagen.

Eugens Erklärung wiederum war so, dass Simon nicht müde wurde, ihr groteske Beliebigkeit anzuprangern. Eugen vertrat nämlich die Meinung, die Kriege seien ein Produkt der außer Kontrolle geratenen Ästhetik. Gerne zitierte er in diesem Zusammenhang Zeitungen, die er bei seinem Besuch in Bamberg in einer Bibliothek eingesehen hatte. Da hätten Journalisten, die es weit von sich gewiesen hätten, dass sie als Verherrlicher des Krieges bezeichnet wurden, seitenlang von der Schönheit und der Präzision neuer Waffen geschwärmt. Sogar die Vernichtungskraft sei häufig mit einer Sprache gefeiert worden, die an Feuilletonberichte über gewisse Opernaufführungen gemahnte. Simon ärgerte sich jedes Mal, wenn Eugen die Zeitungen zu zitieren begann, weil er meinte, dass das eine unfaire Diskussionsweise sei. Er könne diese Behauptungen nicht überprüfen, sodass Eugen einen Vorteil in Anspruch nähme, der ihm nicht zustünde. Vor längerer Zeit, mitten in der Hitze der Diskussion, hatte Eugen darauf geantwortet, er, Simon, könne ja, wenn er Lust habe, nach Bamberg gehen und alles überprüfen. Damals war Simon sehr getroffen gewesen und hatte über zwei Wochen lang kein Wort zu Eugen gesagt.

Auch an diesem Abend waren die beiden nach kurzer Zeit wieder bei ihren alten Thesen. »Was du vergisst«, sagte Simon, »ist die Tatsache, dass das Bewusstsein unserer Vorfahren einfach nicht deinen Konstrukten entsprochen hat. Sie haben sich bemüht, den Krieg zu verhindern. Was du dauernd zitierst, das mögen ja einige Journalisten einmal geschrieben haben. Aber deshalb ist es doch noch lange keine Erklärung für den Krieg!«

Hier kreischte Eugens Lachen so laut auf, dass sich einige Schläfer unruhig herumwarfen und fast aufgewacht wären. »Diese Forderung, mein Lieber, ist ja wieder einmal von bestechender Logik! Unsere Vorfahren! Soll ich wirklich meine Erklärung daran messen, ob sie den Einsichten einer Welt voll Geisteskranker entspricht? Das ist doch wieder so, als ob ich einen von unseren kleinen Narren nur so behandeln dürfte, dass es seinen dumpfen Gefühlen verständlich wird.«

Dies war ein Punkt, an dem sich Simons und Eugens Meinungen wiederum grundsätzlich unterschieden. Während Simon nicht aufhörte zu betonen, man müsse die frühere Geschichte und die eigenen Vorfahren trotz des Krieges mit Ernst und Ehrfurcht betrachten, sprach Eugen immer nur von den Idioten, die vor dem Krieg gelebt und alles verschuldet hätten. Simon wurde atemlos vor Zorn, wenn Eugen derartig blasphemisch sprach. Auch jetzt schwieg er, und man hörte nur ein Atemgeräusch, das sich von einem Röcheln langsam zu einem tiefen Stöhnen steigerte.

An Abenden wie diesem war es schon vorgekommen, dass sie kein Ende gefunden hatten. Am Morgen, wenn die anderen aufstanden, saßen sie noch immer am Feuer und stritten. Heute Abend allerdings überwanden sie diesen Punkt der Diskussion. Sie kamen auf das Thema zurück, das sie am Nachmittag schon einmal besprochen hatten. Es war Eugen, der das Gespräch wieder auf Jolanda brachte.

»Im Übrigen bin ich der Meinung, dass wir die Frage, ob unsere Vorfahren alle Idioten waren, zurückstellen sollten. Wir haben jetzt wichtigere Dinge zu besprechen. Oder bist du anderer Meinung?«

Simon, dem dieses Gezänk über die geistige Verfassung der Vorfahren immer ein wenig zuwider war und der sich nur darauf einließ, weil er meinte, im Namen der Vernunft sprechen zu müssen, nahm diesen Vorschlag Eugens dankbar an. Er wünschte sich manchmal, dass Eugen von dieser merkwürdigen Geschichtsphilosophie ablassen würde. Zusammen könnten sie dann daran gehen, die Geschichte vor dem Krieg sachlich zu diskutieren. Aber Eugen war und blieb ein Surrealist, eine Mischung aus klarem Verstand und verrückten Einfällen. Da musste man ja schon dankbar sein, wenn er wenigstens jetzt einmal die Augen nicht vor den dringenden Problemen verschloss. Jolanda war noch jung, aber Eugen hatte, auch wenn er selbst es am Nachmittag nicht hatte eingestehen wollen, trotzdem recht: Man musste sich rechtzeitig um einen Mann kümmern, der Jolanda angemessen war.

Anschließend redeten sie noch eine halbe Stunde lang darüber, was zu tun sei. Sie kamen überein, dass sie innerhalb von zwei Wochen eine Entscheidung suchen wollten. Auf welche Weise auch immer, Jolanda würde, wenn es soweit war, den schönsten Mann bekommen, den es in ganz Süddeutschland gab. Eugen wollte mit dem Funkgerät weiterhin herumhorchen, ob es noch andere junge Männer gab, die infrage kamen.

Die darauffolgenden Tage verliefen ohne besondere Vorkommnisse. Manchmal gingen Eugen und Simon mit den anderen Mitgliedern der Gruppe in den Wald, um Nahrung zu sammeln. Meist aber blieben sie vor der Höhle sitzen und beratschlagten, was sie tun wollten. Nachdem eine Woche vergangen war, hatte Eugen noch immer keinen geeigneten anderen Kandidaten mit dem Funkgerät ausfindig machen können. Alles deutete darauf hin, dass der Mann, der südlich von Nürnberg lebte, der einzige war, der über alle äußerlichen Merkmale eines gesunden Mannes verfügte. Rudolf, Eugens Verbindungsmann, hatte nur Gutes berichtet. So lief alles auf die Frage hinaus, wie es gelingen könnte, den Mann zu Jolanda oder Jolanda zu dem jungen Mann zu bringen.

Wie dringend diese Aufgabe war, zeigte sich drei Tage später. Eugen und Simon waren mit in den Wald gegangen. Als sie am Vormittag plötzlich auf den Gedanken kamen, dass es möglich sein musste, aus einem der ausgebrannten Dörfer ringsum so viel Material zu beschaffen, dass ein Fahrzeug gebaut werden konnte, gingen sie zur Höhle zurück. Unterwegs kamen sie an einer kleinen Höhle vorbei, aus der sie deutlich eine klare, unverzerrte Frauenstimme hörten. Als sie der Stimme nachgingen und die Höhle betraten, sahen sie zuerst Jolanda. Sie war bis auf ein dünnes Hemd ganz nackt und kniete vor dem halb ausgezogenen Robert. Die Augen des Narren zuckten nervös hin und her, und aus seinem Mund floss der Speichel vor lauter Erregung. Ganz offenbar war es Jolanda, die die Initiative ergriffen hatte und sich bemühte, Robert begreiflich zu machen, was er als Nächstes zu tun hatte. Obwohl der Narr nichts anderes wünschte, als seine Gier an Jolanda zu befriedigen, war er offenbar unfähig, die einfachsten, instinkthaften Handlungen auszuführen.

399
429,96 ₽
Возрастное ограничение:
18+
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390 стр.
ISBN:
9783957659590
Издатель:
Правообладатель:
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