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Das Familientreffen

Im Laufe des Nachmittags sind wir alle angekommen. Am Abend war die ganze Familie versammelt. Es ist mehr als fünf Jahre her, seit wir uns das letzte Mal getroffen haben. Bea, die Jüngste von uns, Siria, meine Lieblingsschwester, Gulo und Misra, die Zwillinge. Und ich, ich bin die Älteste von allen. Wir sitzen um den Kamin und sprechen leise miteinander, berichten von den Erfahrungen der letzten fünf Jahre. Zum Telefonieren fehlt meistens die Zeit. Gulo ist der Einzige, der jedes Jahr einmal jedem von uns einen Brief schreibt. Er ist aus Prestigegründen altmodisch, denn er handelt mit Antiquitäten. Im letzten Jahr kam sein Brief sogar versiegelt. Woher er den Siegellack hatte, weiß ich wirklich nicht. Vermutlich ist er ihm auf einer Auktion in die Hände gefallen. Das Petschaft hatte ein zierliches Wort in den Lack gedrückt: Gulo. Ob er auch mit derselben Frau gekommen ist, weil er uns beweisen will, dass seine Liebe zum Vergangenen vor dem Privatleben nicht haltmacht? Alle meine Schwestern haben neue Männer mitgebracht. Das heißt: Bea hat erstmals einen Mann dabei. Sie ist erst sechzehn. Er heißt Seno – oder Semo, ich weiß nicht mehr genau. Ein dunkelhaariger Knabe, vielleicht ein Jahr jünger noch als sie.

Es ist spät geworden. Mutter sitzt in ihrem Stuhl, wir anderen auf dem Teppich zu ihren Füßen. Sie lächelt und fragt mit leiser Stimme, ob es nicht Zeit wäre, zu Bett zu gehen. Niemand widerspricht. Schließlich haben wir eine ganze Woche Zeit, um uns die Neuigkeiten zu erzählen. Wir beginnen also mit der Abendzeremonie. Die Männer begeben sich zu der dunklen Wand auf der Kaminseite und setzen sich dort nieder. Die Frauen sitzen ihnen gegenüber. Dugua, die Frau, die mit Gulo gekommen ist, hat als der Gast das Recht der ersten Wahl. Sie nimmt Seno. Seno – so heißt er also – lächelt, steht auf und geht zu ihr. Schade, ich hätte auch Seno genommen. Aber ich habe erst jetzt das Recht zu wählen. Ich wähle Gulo und nehme mir vor, ihn zu fragen, woher er den Siegellack genommen hat. Gulo glättet mit einer raschen Bewegung sein weites Gewand und kommt dann zu mir. Ich streiche ihm über das Haar, er lächelt und küsst mich auf die Wange. Ich bemerke, dass er exotisch duftet, vermutlich nach einem alten Parfüm, das er nach einem Originalrezept aus den Duftstoffen von kostbaren Blumen herstellen lässt.

Es dauert nicht lange, und auch die anderen haben ihre Wahl getroffen. Auf Bea, die als Letzte ihren Mann für diese Nacht findet und der also im eigentlichen Sinne keine Wahl mehr bleibt, fällt Misras Mann, ein großer, blonder Bursche. Sie scheint mit dem Los nicht unzufrieden zu sein. Wir küssen Mama noch auf die Wange und ziehen uns dann in unsere Zimmer zurück.

Durch die Papierwand, rechts neben meinem Bett, höre ich Beas leise Stimme, dann nur noch ihren Atem, der immer schneller wird, schließlich nur noch einen kleinen Schrei und ihr Stöhnen, das lange und tief nachklingt. Ich spreche noch ein wenig mit Gulo. Den Siegellack hat er tatsächlich auf einer Auktion ersteigert. Er hat vor, ihn bei einer Produktionsgenossenschaft in großem Stil herstellen zu lassen, und ist sicher, dass es ein Verkaufsschlager wird. Ja, Gulo ist ein geschäftstüchtiger Mann. Das Parfüm hat ihm Dugua geschenkt. Es ist synthetisch, allerdings sehr teuer. Die Hersteller bemühen sich, den Duft der Blumen völlig naturgetreu nachzuahmen. Nur bei den sehr teuren Markenartikeln gelingt das.

Gulo ist ein guter Mann, ich habe ihn mit einer Art wehmütiger Stimmung gewählt, weil ich mich an die frühere Zeit erinnert fühle.

Er war vierzehn Jahre alt, ich einundzwanzig, nein, zweiundzwanzig. Ich habe ihn genommen. Ja, ich war ein Jahr lang seine Lehrerin. Er war sehr begabt, wenn ich so sagen soll. Und seine Begabung ist in all den Jahren nicht geschwunden. Er will seine Zärtlichkeit nicht an das Geschäft verraten. Seine Hände streicheln noch immer mit kaum merkbarer Sanftheit über meinen Rücken, dass ich mich voller Verwunderung frage, wie man in aller Geschäftigkeit sich diese Sanftheit der Hände erhalten kann. O ja, ich liebe meinen Bruder Gulo! Während meine Begierde unter seinen Händen in viele einzelne Gefühle zerspringt, bin ich dem Zufall denkbar, dass ich neben Gulo liege. Wäre es nicht schön, ein Kind zu haben, das mich mit ebenso sanften Bewegungen streichelt? Doch ich werde kein Kind haben. Diesmal nicht.

Manchmal stelle ich mir vor, dass es vielleicht für Fremde und für die Menschen vergangener Zeiten seltsam sein könnte, wenn sie unsere Form des Zusammenlebens in der heutigen Gesellschaft erlebten. Oder ist es nicht seltsam für jemanden, der vor zweihundert Jahren sein ganzes Leben mit ein und demselben Mann verbracht hat, zu sehen, dass jede Frau heute das Recht hat, zu jeder Zeit einen anderen Mann zu nehmen? Und auch die Folgen dieser Freiheit müssten sich für Fremde sehr seltsam ausnehmen. So, dass wir alle keine Väter haben. Das heißt: Natürlich haben wir alle einen Vater. Die eine oder andere weiß sogar einiges über den Mann, der sie gezeugt hat. Aber das ist natürlich unwichtig. Ich zum Beispiel weiß nicht, wer damals der Urheber meines Lebens war. Wozu sollte ich mich dafür interessieren? Meine Geschwister sind, wie man früher gesagt hätte, Stiefschwestern von mir. Gulo ist ein Stiefbruder. Da dies jedoch selbstverständlich ist, brauche ich es nicht gesondert zu betonen, und ich spreche deshalb von meinem Bruder Gulo und von meinen Schwestern Bea, Siria und Misra. Während ich meine Arme um Gulo lege, begreife ich plötzlich, warum Dugua immer noch mit Gulo zusammenlebt. Gibt es einen zärtlicheren und zugleich stärkeren Mann als ihn? Er hatte ja, ich muss es aufrichtig sagen, keinerlei Einfluss auf Duguas Entscheidung. Aber ich begreife sie, ja, ja, ich begreife sie. Und in aller Lust bin ich ein wenig stolz, denn ich war seine Lehrerin.

Am nächsten Morgen sitzen alle anderen schon beim Frühmahl, als ich zusammen mit Gulo das große Zimmer betrete. Ehe ich mich auf die Frauenseite des Tisches begebe, küsst er mich auf die Wange und sagt, dass er mich liebt. Das ist der Morgengruß für mich wie für alle anderen, nichts weiter. Da wir nun vollzählig am Tisch sitzen, beginnt Mutter mit den Erläuterungen zum Ablauf des Vorbereitungstages. Zwar sind die wichtigen Ereignisse von vornherein festgelegt, aber unsere Mutter weiß sehr geschickt die kleinen, unwichtigen und der freien Entscheidung der Mutter überlassenen Möglichkeiten zu nutzen. So ist es selbstverständlich, dass das Vorbereitungsbad getrennt stattfindet. Dugua, meine Schwestern und ich baden vor den Männern. Aber ist es kein wunderbarer Einfall unserer Mutter, dass sie uns bittet, wir möchten den Mann bestimmen, der die Duftöle mischen soll? Natürlich gibt es viele fertig gemischte Öle. Will man das Bad des Vorbereitungstages individueller und kostbarer gestalten, so kann man auch nach einem Verzeichnis der Charakterprotokolle aller Teilnehmer ein eigenes Öl synthetisieren lassen. Viel aufregender aber ist es ohne Zweifel, wenn man einen Mann bestimmen kann, der sich ganz im Vertrauen auf sein Gefühl daranmacht, eine neue Mischung nur für diesen Tag zu erfinden.

Traditionell beginnt das Frauenbad um die Mittagszeit. In einer längeren Beratung haben wir Seno dazu bestimmt, das Öl zu mischen. In seinem schmalen Gesicht konnte man die unterdrückte Freude sehen, als Bea ihm sagte, dass wir ihn erwählt hätten. Wie sich zeigt, hätten wir keinen Besseren als Seno finden können. Als wir den Baderaum betreten, liegt der Badeteich in einem smaragdfarbenen Grün da und es entströmt ihm ein fremdartiger Duft. Obwohl niemand während des Badens spricht, erkenne ich, dass auch meine Schwestern voller Begeisterung sind. Dugua, die neben mir steht, schließt die Augen und atmet lächelnd in tiefen Zügen ein. Alle lösen jetzt zugleich die Kordeln, die die schwarzen Badeumhänge am Hals zusammenhalten, wir legen einander die Hände auf die Schultern und schreiten mit kleinen Schritten hinab zum Wasser, auf dem in einer dünnen Schicht das dampfende Duftöl liegt. Das Wasser ist sehr heiß. Das Bad des Vorbereitungstages ist immer so heiß, dass es gerade noch ohne Schmerz ertragen werden kann. Senos Öl aber scheint die Hitze noch zu verstärken. Es ist kein Schmerz in dieser Hitze, nur dieser Geruch, der die Blumen eines riesigen Urwalds in diese kleinen Ölflächen zu vereinen scheint. Als wir bis zu den Hüften im Wasser stehen, beginnt aus den Wänden die Musik wie Nebel auf uns herabzusinken. Manchmal staune ich über diese kleine, kunstreiche Vorrichtung der Badezimmer, die aus dem Herzrhythmus und den Bewegungen der Badenden solch eindringliche und harmonische Töne formt. Ich, als die Älteste, habe die Aufgabe, den Tanz zu beginnen. Meine Arme schweben wie ohne mein Zutun von den Schultern Duguas und Misras herab und beschreiben eine weite Bewegung, die darin endet, dass ich die Arme vor der Brust kreuze. Damit löse ich eine Tonfolge des Synharmonicums aus. Wie eine nicht endende, fallende Harfenmelodie kommen immer neue Töne aus den Wänden, brechen sich in den Sensoren zu anderen und immer wieder anderen Arpeggien, die aufsteigen und uns alle im Verein mit dem Duft des Öls zu tragen scheinen. Meine Schwestern und Dugua ahmen meine Tanzfigur nach. Die Musik wird nicht lauter, nur dichter. Es sind mehr und feinere Ober- und Untertöne in der Luft. Und unmerklich nimmt das Synharmonicum, das die Melodie bisher ohne klare Gliederung geformt hat, die Schläge unserer Herzen und die Bewegungen unserer Körper auf und errechnet im selben Augenblick daraus einen aufflammenden, synkopierten Takt. In diesem wunderbaren Kreislauf bewegen wir uns nun. Da wir nach der Melodie, die wir wahrnehmen, in einfachen und zärtlichen Bewegungen tanzen, entwirft das Instrument aus den allerkleinsten Abweichungen unserer Herzschläge und Körperschwankungen eine sich steigernde Symphonie. Es ist ein erhabenes Gefühl, mit dem Tanz der Frauen ein musikalisches Werk von unübertrefflicher Harmonie zu schaffen. Das Synharmonicum ist mit allen Harmonielehren programmiert, die je eines Menschen Geist erfunden und überliefert hat. Walzer, Choräle des Mittelalters und fernöstliche Erkenntnisse der Musikgeschichte haben ihre Regeln gestiftet, um dies möglich zu machen. Viele Versuche waren vonnöten, um das musikalische Empfinden unterschiedlichster Menschen zu prüfen und in miteinander verträgliche Programme umzuschreiben. Fürwahr, die Erfindung dieses Instruments ist die Vollendung der Musik.

Jetzt höre ich mich tief in die Musik hinein. Es gehört eine lange Übung dazu, will man aus all den sich überlagernden und umherschweifenden Tönen sich selbst heraushören. Ich habe dieses Heraushören lange geübt und kann, wenn ich mich im Tanz nur genügend konzentriere, auch die Herzschläge und Bewegungen der anderen unterscheiden. Ich durchstreife die Musik, die einem Labyrinth aus unzähligen Tönen gleicht, und bin auf der Suche nach meinem Herzschlag. Hinter einem Bündel hoher, singender Töne finde ich ihn und gleich daneben auch Misras Herz. Woher weiß ich, dass es Misras Herz ist? Das weiß ich nicht mehr, es ist einfach Gewissheit in mir, eine Art Instinkt und musikalisches Gefühl.

Während wir tanzen, steigen wir tiefer in den Badeteich hinein. Das Wasser umspielt meine Brüste und macht sie leicht. Meine Hände, die unter der Wasseroberfläche Beas Rücken ertasten, werden wie die der anderen durch den Widerstand des Wassers in ihren Bewegungen verlangsamt. So sinkt die Gewalt der Musik ein wenig zurück, gleicht einem trägen und breiten Strom jetzt. Siria schreitet quer durch den Teich auf mich zu und ergreift meine Hände. Ihr Gesicht leuchtet, und ihre Augen sind weit geöffnet, so, als habe sie mich niemals zuvor gesehen und doch schon immer gekannt. Sie wird mich waschen. Die Waschung des Vorbereitungstages ist ein altes Symbol. Vom Gesicht an beginnend, streicht Siria über meinen Oberkörper hin, geht um mich herum und lässt ihre Hände auf meinem Rücken liegen. Damit bin ich rein und vorbereitet. Nachdem ich Siria ebenfalls gewaschen habe und weil die anderen unserem Beispiel inzwischen gefolgt sind, ist die pflichtgemäße Übung des Frauenbades erfüllt. Nun können wir frei und ungezwungen das Bad genießen. Im Allgemeinen ist es so, dass alle durch den Tanz versuchen, jemanden aufzufinden, der die Tanzmeisterin spielt. Alle wollen dann den Bewegungen der Tanzmeisterin folgen, wodurch sich erfahrungsgemäß eine sehr komische Melodie ergibt, die in ein immer schnelleres und hemmungsloseres Tanzen führt. Heute jedoch brauchen wir keine Tanzmeisterin zu suchen. Bea ist zum ersten Mal mit uns allen zusammen in einem Vorbereitungsbad, so ist es selbstverständlich, dass wir sie zur Meisterin bestimmen. Ohne dass es eines Wortes bedürfte, ahmen wir Beas Schritte und Tanzfiguren nach. Sie lächelt ein wenig und ist sich der kleinen Ehre, die wir ihr erweisen, durchaus bewusst. Wie könnte man seinen Schwestern besser zeigen, dass man eine wirkliche Frau geworden ist! Beas Jugend fließt über in das Zucken ihrer Beine, in das Zittern ihres Bauches und ihres Halses. Wir lachen und folgen ihr, nicht ohne durch unser langsames Tanzen ihr die Bestätigung zu geben, dass sie in ihrer ganzen Jugend frischer und zu größerer Lust fähig ist als wir.

Die Musik steigt wieder zu größerer Dichte auf. Der Duft des Öls wird betäubend. Bea hat, die Lungen voller schwerer Luft, einige Schritte auf die Mitte des Badeteiches zugemacht, und wir sind ihr gefolgt. So stehen wir nun unter Wasser, öffnen die Augen und spüren die Musik, die unter der Wasseroberfläche noch intensiver zu vernehmen ist. Es ist nicht leicht, Beas Tanz zu folgen, denn hier ist ihr zierlicher Körper biegsam wie der Rücken eines Fisches. Wer wird zuerst auftauchen müssen? In dem unschuldigen Spiel bin ich die Verliererin. Lachend springe ich empor, die anderen folgen mir. Bea taucht als Letzte auf, glücklich, das Spiel gewonnen zu haben. Sie ist jung, und sie ist eine Frau, was kann es Schöneres geben, als zum ersten Mal mit den Schwestern im Vorbereitungsbad zu stehen? Wir tanzen weiter. Der Duft des Öls stimmt uns in einen Rausch ein, dem wir nicht mehr entkommen. Das Synharmonicum, das empfindlich genug ist, auch die leiseste Stimmungsänderung wahrzunehmen, wandelt die Symphonie in ein überschäumendes Finale. Ich schlage auf das Wasser, das emporspritzt und meine Haut mit feinsten Tröpfchen Öl bedeckt. Mein Schlag wird zum Auftakt eines wuchtigen, von Paukenwirbeln beherrschten Satzes, in dessen vibrierenden, schüttelnden Stakkatos sich meine Schwestern und Dugua ekstatisch umarmen. Es ist die schönste Einstimmung für den Familientag. Selbst wenn wir uns nicht nach fünf, sondern erst nach zehn Jahren wiedergesehen hätten, so wäre die Gemeinschaft der Familie in diesem Vorbereitungsbad vollständig wiederhergestellt worden.

Im Kreise stehend, die Arme wie zu Beginn des Tanzes um Schultern und Hals der Nebenstehenden geschlungen, beenden wir den Tanz. Das Synharmonicum spürt die ersten Anzeichen unserer Erschöpfung auf und überträgt sie in eine feierliche und erhabene Schlussmelodie. Wir drängen uns eng aneinander und steigen wie eine einzige, ganz mit sich einig gewordene Frau aus dem Wasser. Nachdem die Musik in einem Harfenakkord verklungen ist, greifen wir, noch ein wenig atemlos, zu den Badeumhängen. Wir sind gerüstet. Wir sind rein und berechtigt, die Zeremonie des Familientages zu begehen.

Nach dem Mittagsmahl folgt das Vorbereitungsbad der Männer. Natürlich hat es nicht die Kraft, die das Bad der Frauen hervorbringt. Dazu ist es nicht eingerichtet. Um das Teichbecken sind kleine Tische mit Stühlen aufgestellt worden. Wir sitzen zusammen mit unserer Mutter da und trinken Sekt. Die Männer betreten den Raum und legen ihre Badeumhänge ab. Mutter schaltet das Synharmonicum ein, das nun die Symphonie, die von uns vor dem Mittagsmahl geschaffen worden ist, noch einmal wiedergibt. Das Wasser im Teich ist das, in dem die Frauen gebadet haben. Auch das ist traditionell so. Zu den Klängen der Harfenmelodie steigen die Männer in den Teich, und unsere Blicke folgen ihnen. Wir freuen uns über den Anblick dieser schönen, starken Körper, die im Tanz den Versuch machen, die Gemeinschaft der Frauen nachzuahmen. Es kann ihnen nicht gelingen. Wir alle wissen, dass Männer zur wirklichen Ekstase unfähig sind. Sie wollen uns gefallen, und ihr Tanz erfreut uns wie das Spiel der Kinder, die die Schönheit der erwachsenen Frauen darstellen wollen, indem sie deren Bewegungen und Grußformeln imitieren. Die Schwestern erzählen von ihren Männern, wo sie sie kennengelernt haben, von ihren Vorzügen und ihren Nachteilen. Währenddessen haben die Männer ein wenig scheu und ungeschickt mit der Reinigungszeremonie begonnen. Der darauf folgende männlich-ungeschickte Schlusstanz macht jedem klar, dass zwischen der Seele der Frauen und den engen und fantasielosen Geistern der Männer immer ein unüberbrückbarer Unterschied bestehen wird, der nur in glücklichen Fällen außerordentlichen Zufalls einmal unterbrochen wird: wenn ein Mann geboren wird, der die Fähigkeiten der Frauen in seinem brustlosen Körper trägt. In der vergangenen Nacht habe ich mir überlegt, ob nicht Gulo ein solcher Mann ist. Doch der Tanz unten im Teich macht in aller Deutlichkeit klar, wie weit auch er davon entfernt ist, die freie Seele einer Frau zu besitzen. In seinem Gesicht erkennt man die männliche Ängstlichkeit, als er mit den anderen jenen ekstatischen Paukensatz zu ertanzen sucht, den wir heute Morgen erschaffen haben. Wir lachen, vom Sekt und von der Lust des Tanzens erheitert, da wir die bewussten Verrenkungen der Männer sehen. Diese nehmen uns das Lachen nicht übel, sie wissen um die Überlegenheit der Frauen. Von wem auch die Zeremonie des Vorbereitungstages erdacht worden ist, er hat uns damit ein Mittel in die Hand gegeben, die Freiheit und Macht der Frauen darzutun.

Mit dem Vorbereitungsbad ist der wichtigste Teil des Vorbereitungstages beendet. Am späten Nachmittag gehen wir mit den Männern spazieren. Mutters Haus liegt inmitten einer sehr anmutigen, hügeligen Landschaft. Es ist Herbst und die Blätter der Bäume sind rot. Neben mir geht Seno, dem ich ein Kompliment für die exzellente Zubereitung des Duftöls mache. Der Junge lächelt und blickt vor sich auf den Weg, ja es scheint, als erröte er sogar ein wenig. Er ist allerliebst, ich überlege, ob ich Bea nicht fragen soll, wie viel sie für Seno verlangt. Ich weiß, dass ich ihn nicht einfach tauschen kann. Frano habe ich nur als Verlegenheitslösung mit zu diesem Familientag gebracht. Frano ist ein guter Liebhaber, doch er ist ein wenig zu dick geworden. Er ist erst vierundzwanzig Jahre all und isst doch schon so viel, als wäre er fünfunddreißig und ohne Hoffnung, noch einmal auf einem Familientag oder bei einer ähnlichen Gelegenheit erlöst zu werden. Nein, Bea wird mir Seno nicht einfach so überlassen. Sie kennt ihn, wie sie mir während des Vorbereitungsbades der Männer erzählt hat, erst seit ungefähr vier Wochen, und wenn ich die Blicke, die sie manchmal mit Seno tauscht, richtig deute, ist sie sogar noch ein wenig verliebt in ihn. Ich werde ihr zehntausend Dollar anbieten oder, wenn es sich zeigen sollte, dass Seno zärtlich sein kann, möglicherweise sogar fünfzehntausend.

Bei der Abendzeremonie habe ich die erste Wahl, und ich wähle Seno. Er ist überaus scheu und zurückhaltend. Ob dies damit zusammenhängt, dass ich ziemlich genau doppelt so alt bin wie er? Ich glaube es nicht. Er scheint zu wissen – irgendwie mit einem nahezu weiblichen Instinkt scheint er es zu spüren, dass ich seine Zurückhaltung liebe. Ich gewinne sogar den Eindruck, dass er trotz seiner Jugend mehr über Frauen weiß als irgendein Mann vor ihm. In der Nacht zeigt mir Seno, dass ich recht habe. Er ist von einer über alle Maßen weisen, wissenden Zärtlichkeit. Ich bin sicher: Er – er ist einer jener wenigen Männer, deren Seele die Größe der weiblichen Empfindungen zu ahnen vermag. Wiewohl ich weiß, dass man, wegen der Kürze des Gedächtnisses in diesen Bereichen, sehr vorsichtig mit der Verwendung der Superlative sein muss: Am anderen Morgen bin ich mir völlig sicher, einem der genialen Männer begegnet zu sein, deren Geist und Sensibilität an den Geist und die Sensibilität der Frauen heranreicht. Seno hat sich während des Vorbereitungsbades selbst verborgen gehalten, weil er sah, dass seine Fähigkeit zur freien Ekstase die anderen nur verwirrt und beschämt hätte. Nur gegenüber einer Frau darf er zeigen, dass er wie eine Frau sein kann. Eine weibliche Seele in einem jungen, männlichen Körper, das ist die Erfüllung menschlicher Möglichkeiten! An diesem Morgen ist mir klar, dass ich dieses Haus nur mit Seno verlassen will. Was immer Bea verlangt, sie soll es bekommen.

Dieser Tag, der Tag nach der Reinigungszeremonie, ist der völligen Erholung gewidmet. Obwohl ich durchaus sicher bin, dass es unschicklich ist, diesen Tag der Erholung mit einem Mann zu verbringen, gehe ich doch wenigstens am Vormittag eine Stunde lang mit Seno spazieren. Ich lege meinen Arm auf seine Schulter, er lächelt. Er versteht mich in vollkommener Weise. Es muss erlaubt sein, mit Seno zusammen unter den herbstlichen Bäumen zu gehen. Ist er nicht einer Frau ebenbürtig, ja sogar mehr als eine Frau? Da ich das denke, erschrecke ich. Es ist blasphemisch, Derartiges zu denken. Aber Seno ist in der Tat nur so vollkommen – in ihm wohnt die Seele einer Frau, und in der Gestalt des Mannes hat er zugleich die Fähigkeit, den Frauen Lust und Zärtlichkeit zu bringen. Bea ist zu jung, sie kann nicht wissen, dass sie mit Seno eine Ausnahme gefunden hat. Sie wird enttäuscht werden, wenn sie sich einen anderen Mann sucht. Sie muss immer enttäuscht werden. So aber kann sie auch nicht ermessen, wie viel mehr an Freude ihr Seno gibt. Ich werde ihr das sagen. Offenheit ist die Tugend der Frauen. Nur dort, wo Frauen von Männern unterdrückt werden, entwickeln auch sie den hinterhältigen, machtgierigen Charakter der Männer. Wir sind Schwestern, und ich kann sicher sein, dass Bea mir Seno überlassen wird. Gerade weil ich ihr sage, dass sie mit Seno einen unbezahlbaren Mann verliert. Kein Betrag kann diesen Wert aufwiegen. Noch heute Abend werde ich mit ihr sprechen. Oder soll ich die Zeremonie des Familientages abwarten? Ich habe das Gefühl, dass ich bis übermorgen warten sollte, ehe ich mit Bea spreche.

Am Abend wählt Siria, die heute die erste Wahl hat, ebenfalls Seno. Es ist außergewöhnlich, sehr außergewöhnlich, dass ein Mann dreimal bei der Abendzeremonie als Erster genommen wird. Man spricht unter Frauen nicht über diese selbstverständlichen Dinge: Männer sind durch andere Männer zu ersetzen. Die Gefahr, einen Mann durch wiederholte Bevorzugung stolz und überheblich zu machen, wiegt schwerer als die Erwartung einer Nacht. Doch alle scheinen den Wert Senos zu spüren. Ich erinnere mich eines Begriffs, den ich, als ich noch zur Schule ging, in der historischen Anthropologie kennenlernte; die Lehrerin gab sich alle Mühe, uns die Bedeutung dieses Wortes klar zu machen. Es ist ihr nur sehr unvollkommen gelungen. Nun plötzlich begreife ich in einem seltsamen, geringen Schmerz, der meine Brust durchzieht, welches Gefühl dies gewesen sein muss: Eifersucht. In meinem Innern schlage ich danach wie nach einem Insekt, und das Gefühl fliegt schnell davon. Es ist nicht tot, es wird wiederkommen…

Dann der Morgen, der Tag der Familienzeremonie. Als ich neben dem großen, blonden Burschen, der mit Misra gekommen ist, erwache, rieche ich den strengen Duft des Gewürzweines. An der Tafel tragen wir schon alle die weiten, seidenen Festgewänder, und meine Schwestern und Dugua haben wie ich das Haar mit einem breiten Band zurückgebunden. Freude und Feierlichkeit mischen sich in den Geruch des Weines. Die Zeit vor dem Mittagessen vergeht mit dem Abstimmen der einzelnen Geräte. Das Gelingen der Familienzeremonie hängt von der Genauigkeit der Geräte ab, und diese kann nur voll ausgenutzt werden, wenn man genügend Zeit hierauf verwendet, die einzelnen Blocks genauestens auszupegeln. Mutter übergibt jedem von uns nach dem Morgenmahl die Enzos, jene kleinen, kaum fingernagelgroßen, jedoch hochempfindlichen Enzephalosensoren. Wir nehmen die Stirnbänder ab und befestigen die Sensoren mit leichtem Druck unterhalb des Haaransatzes. Dann werden die Stirnbänder darübergebunden. Wir setzen uns im Kreis auf den Teppich des Wohnraums nieder und bemühen uns, wie es für den ersten Abstimmungsvorgang notwendig ist, leichte und angenehme Gedanken zu denken. Ich erinnere mich an den Spaziergang mit Seno, an seine schönen, schmalen Schultern und seine zarten Hände. Bei Familienzeremonien liegen die Entscheidungen an zwei Stellen konzentriert: bei der Mutter, die die zentrale Abstimmung aller Geräte vornimmt, und bei den drei dunklen Kästchen, in denen das Empfinden der Familienmitglieder registriert und in neue Empfindungen umgeschrieben wird.

Nur Siria möchte während dieser Zeremonie ein Kind empfangen. Dadurch wird der erste Teil der Zeremonie kurz sein. Die Erlösungszeremonie wird unabhängig davon nur von uns und dem Erlösten abhängen. Während der Familienzeremonie vor fünf Jahren, als sowohl ich wie auch Misra Kinder empfingen, dauerte die Erlösung bis tief in die Nacht. Obwohl es bereits die zweite Zeremonie war, die ich mitmachte, war der Eindruck unbeschreibbar tief.

Nachdem die Zeremoniengeräte abgestimmt sind, gibt Mutter an die Frauen die letzte Tasse des Kräuterweins aus, in der sie die Droge aufgelöst hat, die zum Vollzug der Zeremonie einstimmt. Die Männer halten nacheinander ihre rechte Hand in die Drogengeber. Dann ziehen wir uns alle zurück. Für jede Frau ist ein einzelnes Zimmer bestimmt, die Männer gehen zusammen in einen etwas größeren Raum.

Ich setze mich nieder und spüre die Wirkung der Droge. Erwartung und Ruhe, so könnte man die beiden Gefühle bezeichnen, die durch die Droge aufgebaut werden. Ich fühle deutlich die leichte Erwärmung meiner Beine. Die Einstimmung dauert lange, misst man sie mit den Uhren der gewöhnlichen Tage. Doch die Zeit zieht sich für den, der auf die Familienzeremonie wartet, aus dem Bewusstsein zurück. Erinnerungen werden zu kleinen Einstichen in einem riesigen schwarzen Raum der Zeitlosigkeit. Die Gegenwart verschwindet, löst sich auf und gesellt sich zu den anderen Bildern des Gehirns. Wo habe ich die alte Frau gesehen, ihre zerfurchte Haut? In einem Buch, einem alten illustrierten Buch. Ich beschäftige mich lange mit den Falten, die um den Mund der Frau herum sich zusammenziehen. Ich möchte sie ansprechen, möchte sie fragen, wann sie gelebt hat. Was war das wichtigste Ereignis ihres Lebens. Fast glaube ich schon, dass sie mir antworten wird. Ehe dieser alte Frauenmund sich jedoch öffnen kann, wird die Tür zu meinem Zimmer aufgeschoben. Mutter tritt ein, nimmt mich bei der Hand und führt mich in den großen Wohnraum, wo ich mich auf den Boden setze. Dann holt sie nacheinander Misra, Siria und Bea, die sich in einem weiten Kreis neben mich setzen. Wir lächeln uns aus trüben, hellsichtigen Augen an und versinken dann in unseren Bildern.

Mutter öffnet die Tür des Raumes, in dem sich die Männer befinden. Diese gehen in die Mitte unseres Kreises und bleiben dort stehen, während Mutter sich auf einen Stuhl neben die Zeremoniengeräte setzt. Sie thront dort. Unsere Mutter ist die Königin der Zeremonie, ihr gebührt ein Thron. Ich sehe zu ihr auf. Um den Stuhl ranken sich goldene Schlingpflanzen, die sich nun straffen und den Thron erheben. Dann das Licht – sie ist in ein blendendes Licht getaucht. Auch meine Schwestern sehen zu unserer Mutter hin, denn nun wird sie die Zeremonie in Gang setzen. Sie beginnt langsam, leise zu singen. Und diesen kaum vernehmlichen Gesang hört das Zeremoniengerät, mit dem wir alle verbunden sind. Es schaltet sich selbstständig ein. Nun hören wir uns alle, alle Frauen spüren sich. Mutter hat die Augen geschlossen und singt lächelnd weiter. Das Lied erfasst uns, wir stimmen ein in den großen, so überaus harmonischen Ton. Wir alle werden nun zusammen sein, und wir werden zusammen entscheiden. Wir werden den Vater von Sirias Kind bestimmen. Wir werden den ersten Augenblick des neuen Lebens begleiten und werden in allen Zufällen sein, auch in jenem wichtigsten Zufall. Wir werden den Sohn dankbar begrüßen und werden jubeln, wenn eine Tochter dieser Zeremonie entspringt.

Die Zeremoniengeräte sind vollkommene und objektive Berater. Nicht sie bestimmen, wir, die Frauen vereinen uns in ihnen und planen alles. Ich fühle, wie ich mich mit Bea, Siria und Misra vereinige. Dugua, die nicht zu unserer Familie gehört, bestimmt die Zeremonie nicht mit, doch ist sie ebenfalls mit uns verbunden, sie kann unsere gemeinsamen Gefühle in sich wahrnehmen. Auch ihre Augen leuchten.

Ich habe mir vor dem Beginn der Zeremonie keinen Gedanken darüber gemacht, wen wir gemeinsam zum Vater für Sirias Kind erwählen werden. Gulo wird als unser Bruder von den Zeremoniengeräten ausgeschaltet und dringt nicht in unser Bewusstsein ein. Alle anderen werden wir prüfen. Die Auswahl ist nicht vorhersehbar, doch habe ich Seno ausgeschlossen. Er ist sehr jung, und es kommt ganz selten vor, dass ein Mann, der noch nicht zwanzig Jahre all ist, bei der Zeremonie zum Vater bestimmt wird. Seno also nicht. Doch die anderen. Wer sind die anderen Männer? Sie stehen noch immer in der Mitte. Nun, da wir uns in ihr Bewusstsein einschalten, bewegen sie sich leicht, so als fröstelten sie in einem kalten Abendwind am Meer. Doch sie frieren nicht, die Schauder auf ihrer Haut entspringen dem Gefühl der Lust. Um zu verhindern, dass sie ihre Gedanken und Erinnerungen, überhaupt ihre Körper wie ihr Bewusstsein vor unseren forschenden Blicken verbergen können, stimuliert das Zeremoniengerät in ihnen fortwährend eine Woge von Lust. Kein Mensch kann, wenn er dieses Gefühl verspürt, seinen Körper oder seinen Geist vor einem anderen verbergen. Dazu gehörten Konzentration und Anspannung. Beides wird durch die Angstgefühle hinweggespült. So sind die Männer wie Kinder wieder, die ins Spielen versunken sind und nicht bemerken, dass die Augen der Erwachsenen ihnen zusehen.

399
429,96 ₽
Возрастное ограничение:
18+
Объем:
390 стр.
ISBN:
9783957659590
Издатель:
Правообладатель:
Bookwire
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