Читать книгу: «Bora oder Brüche zwischen zwei Schnitten», страница 3

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Aus bekanntem Lärm schließt Bernard, dass der Rasenmäher wieder funktioniert. Der Mähende bemerkt Bernard, kommt auf ihn zu und strahlt über das ganze Gesicht.

„Sehen Sie“, sagt er, „ich habe ihn repariert. Es war nicht der Rost! Das Kabel war geknickt, das Material ermüdete und brach. Jetzt geht er wieder. Gott sei Dank. Sehen Sie diesen Schnitt? Wie ebenmäßig. Wie gemalt. Wollen sie ihn nicht noch einmal befühlen?“

Bernard nickt, betastet aber nichts.

Er macht kehrt und geht davon. Bernard will nichts mehr hören. Nichts mehr fühlen. Nichts mehr riechen. Nichts mehr sehen. Er will nur noch schreiben. Von Andreas. Von Paul und Angelika Schweyer. Von Elisabeth. Von …

Bernard schläft unruhig. Unruhig wie die Nacht. Der Wind spielt mit den Blumenstängeln und schlägt sie gegen die Fallrohre der Dachrinne. Manchmal quietschen die Balken auf der Pfette. Nach kurzen Phasen unruhigen Schlafes wacht Bernard jeweils auf.

Er denkt an die Unfallstelle. Wie die letzten Spuren vom Wind oder vom Regen weggetragen werden. Wie sich das eingedickte Blut mit Regenwasser vermengt. Wie das durchmischte Regenwasser dem Abwasser zu gurgelt. Er denkt an Elisabeth und ihren Spreizschritt. An den Aufenthalt im Krankenhaus. An Elisabeths Besuch hier bei ihm. An das Gefühl, das ihn dabei überkam. Er denkt auch an den Mäher, der es schaffte. Der den Bruch reparieren konnte. Der sich darüber freute und seine Freude mit Bernard teilen wollte.

Weil Bernard kurz und unruhig schläft, ist er am Morgen müde. Er hat Mühe, die Morgenpost zu lesen. Zwischen für ihn Unwichtigem findet er den Bericht über den Unfall. Bernard kann ihm keine Neuigkeiten entnehmen. Um die Unglücksursache zu erfahren, wird ein Gang zur Polizei unvermeidbar sein. Zunächst will er aber zu Angelika Schweyer.

Der Weg zu Angelika Schweyer führt Bernard an der Unfallstelle vorbei. Wind und Regen haben nicht alle Spuren verwischen können. Zum Beispiel die abgeschabte, weggeschlagene Baumrinde liegt immer noch da. Zusammen mit Scherben von orangem und durchsichtigem Glas. Auch einige Hustenbonbons sind noch als solche zu erkennen. Das Gras ist immer noch zertreten. Zeugt von den Schaulustigen, die jetzt an den Arbeitsplätzen oder wo immer sie sonst sein mögen, etwas zu erzählen haben.

Auf dem Weg zur Froschgrabenstraße 5 überlegt Bernard, wie er das Gespräch mit Frau Schweyer beginnen soll. Er denkt, er werde sich an die Taschenagenda halten, die auf deren Namen lautet und die er gestern eingesteckt hat. Ja, er wird ihr die Agenda zurückbringen, wird ihr sagen, dass es ihm leid tue, das mit Ihrem Mann, dass er eigentlich über ihn schreiben müsste, aber...

Bernard drückt den Knopf. Anstelle des erwarteten scheppernden Läutens setzt er einen dezenten Gong in Gang. Bernard erwartet eine Art Butler oder ein Hausangestellter oder eine Hausangestellte, liegt aber mit seiner Erwartung wieder einmal falsch.

Das junge Frau, die ihm öffnet, ist ihm früher einmal begegnet. Sie lächelt. Ein wenig müde zwar, aber genau so, wie Bernard es in Erinnerung hat.

„Ist hier die Froschgrabenstraße 5“, fragt er.

Auf dem Schild in Augenhöhe ist deutlich zu lesen: Froschgrabenstraße 5!

„Ja“, lächelt sie.

Bernard: „Kann ich Frau Angelika Schweyer sprechen?“

„Meine Mutter“, sagt sie „es geht ihr nicht gut. - Mein Vater ...“.

„Ich weiß“, sagt Bernard, „aber vielleicht kann ich Frau Schweyer doch einen Augenblick sprechen.“

„Ja, vielleicht. Kommen Sie herein und setzen Sie sich.“

Die junge Frau geht in derselben Haltung davon, wie Bernard sie in Erinnerung hat.

Manchmal ist es angenehm in Erinnerungen zu tauchen. Darin zu wühlen, um in trüber Umgebung nach Deutlichkeit zu suchen.

Vor einiger Zeit begegnete Bernard dieser jungen Dame auf einer Ferieninsel, wohin er sich geflüchtet hatte, um Abstand zu gewinnen. Um auszuruhen. Um sich zu erholen. Um sich zu Regenieren.

Inmitten der Sonnenanbeterinnen und Meerbadenden fiel sie in ihrem schwarzweißkarierten Einteiler seinen Augen sofort auf. Sie war nicht alt. Gottbewahre. Nein, Bora war jung.

Bora? Bernard nannte sie damals so, weil er ihren Namen nicht kannte und weil das Hotel, in dem er wohnte so hieß. Das Hotel hatte er gewählt, weil er davon träumte, einmal auf Bora Bora zu urlauben: Nun trug wenigstens das Hotel den ersehnten Namen.

In ihrem schwarzweißkarierten Badeanzug, den keine Träger nach oben zu strammen brauchten und eine einwandfreie Figur verhieß, saß Bora zwischen den Schenkeln einer Urlaubsfreundin und ließ sich flache Zöpfe in das braune Haar flechten.

Boras Stirnfransen klebten bis auf die Höhe der Augenbrauen an der Stirn. Am Kinn lief das Wasser tropfenweise zusammen. Die Tropfen schoben sich über das zarte Gesicht, das zur Vorlage einer Madonnastatue dienen hätte können. Sie krochen ganz gemächlich von Stirn, Ohr und Augenhöhle über die eher blassen Wangen. Schossen dann an der ebenmäßig feingliedrigen Nase herunter. Sammelten sich in den Mundwinkeln. Rollten dann weiter zum Kinn, wo sie Bora mit violettem Badetuch abwischte, während ihre Freundin immer noch an Zöpfen flocht.

Ihre in tiefen Augenhöhlen sitzenden braunen Augen durchwanderten langsam den überschaubaren Sandstrand. Während Bernard noch dabei war, sich mit dem Wasser an Boras Kinn zu beschäftigen, spürte er, wie Boras Augen an ihm halt machten.

Bernard zwang seine Augen zunächst an Boras Zehen. Ließ sie dann weiter nach oben tasten. Erreichte über Füße, Beine, Becken, Bauch ihre Brüste. Verweilte da ein wenig. Schöpfte dabei Mut. Ließ den Blick langsam über die Schultern und den Hals hinauf wandern. Machte wieder Rast an einem Wassertropfen, der an ihrem Kinn klebte. Strich dann über ihre Lippen. Die Nase hinauf. Wagte sich schließlich zu ihren Augen vor.

Bora wich nicht aus. Sie hielt der Begegnung stand. Bernards Blick plumpste in den ihren und fand lange Zeit keinen Grund. Bernard dachte, er müsste in Boras Tränenwasser ertrinken.

Nach einer sekundenlangen Ewigkeit begann Bernards Blick mit Boras Blick zu ringen. Jeder Blick versuchte dem andern auszuweichen. Dann doch zurückzukehren. Dann zu ertappen, wie erneut versuchte wurde, sich in die Tiefe des Blickes zu stürzen.

Nach wiederholten Anläufen gelang es ihnen, zwischen den Beinen einer gebräunten Brünetten, mit blauweiß gestreiftem Bikini, die Blicke wieder zu vereinigen.

Das Weiß in Boras Augen blitze auf. Leichte Röte breitete sich von den Augen über die Wangen aus. Ein Lächeln, in den Mundwinkeln begonnen und dann weiter fortgesetzt, so dass ihre Zähne sich entblöccten, verklärte Boras Gesicht.

Noch fehlten Bernard die Grübchen. Aber gerade als er ihr Fehlen bemerkte, spitzten sich Boras Wangen und die Grübchen stellten sich vor. Sie lachten, nicht spitzbübisch, auch nicht frivol, sondern ganz dezent aus Boras Gesicht.

Die Zopfflechterin hatte ihr Werk inzwischen vollendet. Bernard stellte fest, dass sie gute Arbeit geleistet hatte. Auch die Zopfflechterin war jung. Vielleicht etwas jünger als Bora. Wenigstens schätzte Bernard sie so.

Bernard hatte das Gefühl, dass die Zopfflechterin das Augenduell zwischen Bora und ihm beobachtet hatte. Jedenfalls versuchte sie das gleiche Spiel. Aber es blieb oberflächlich. Wahrscheinlich, weil Bernards Augen immer wieder weg mussten. Weil sie Bora suchten. Ihre Augen. Ihre Ohren. Ihre Nase. Ihre Arme. Ihre Beine. Überhaupt die ganze Bora.

Bora lächelte, stand auf, schlug das violette Badetuch über die Schulter und ging mit dem ihr eigenen Winken weg vom Strand. Vermutlich suchte sie kühlenden Schatten.

Boras Winken war wirklich etwas nur zu ihr Gehörendes. Etwas Eigenes. Etwas Unnachahmliches. Es begann in den Schultern. Bernard sah, wie die Muskeln ihrer Schulter leicht spielten. Fast nur erzitterten. Dieses Zittern, diese sachte Bewegung, setzte sich über ihren Oberarm fort. Wurde dann am Unterarm deutlicher und bewegte die Hand, die rechte Hand, zu dem unverwechselbaren Winken, das Bernard sich einprägte, sich dabei einredete, dass er es aus tausenden, winkenden Händen erkennen würde können.

Bernard traf Bora nicht mehr. Nicht mehr diesen Abend. Dennoch ließ sie ihn nicht los. Nicht einmal in der Nacht, als er nach etlichen Versuchen den Schlaf herbeiholte, der ihn übermannte und in eine unruhige Ruhe zwang.

Es war ein Traum, der ihn bedrängte, den er sich nicht zurückwünscht und der ihn trotzdem vielmals einholt. Meistens am Tag. Selten mehr in der Nacht.

In diesem Traum sah Bernard Bora in ihrem schwarzweißen Einteiler am Strand liegen. Er hörte, wie einige Männer im Vorbeigehen höhnten, dass die etwas zu verbergen habe, weil sie keinen Bikini trage und ihren Körper schamhaft verstecke.

Bora hörte es, widersprach aber nicht. Doch ihr Aussehen begann sich zu verändern. Ihre Zehen spreizten sich, so dass Häute zwischen den Zehen sichtbar wurden. Die Häute begannen zu wachsen. Wuchsen immer mehr. Überholten bereits die Zehen. Ihre Füße wurden zu Flossen. Bora hatte Schwimmhäute geboren.

Das Wachsen hörte aber nicht auf. Setzte sich weiter fort. Ließ auch die Leere zwischen den Fingern sich bespannen. Als Bora die Zwischenfingerhäute spannte, konnte Bernard darauf lesen: BORA. Auf jeder der Häute zwischen den Fingern ein Buchstabe: B-O-R-A. Zwischen Daumen und Zeigefinger war keine Haut geboren.

Die Veränderung hielt an. Boras Brüste verkümmerten und der schwarzweiße Einteiler rutschte langsam nach unten.

Unter dem Badeanzug trug Bora einen hellgrünen Bikini. Zwischen dessen Unter- und Oberteil wurde sichtbar, was Bora zu verbergen suchte.

Auf ihrem Bauch stülpten sich wulstige Narben vor, die graugelbrosabraun schimmerten und sich zu überlappen drohten. Das andreaskreuzartig angelegte Narbengewirr schien zu leben, veränderte sich ständig in Farbe, Form und Gestalt. Manchmal, wenn eine Narbe wegkroch, türmte sich über Boras Nabel ein riesiges behaartes Muttermal.

Bora bemerkte Bernard. Sie begann zu zittern,. Ihre Schwimmhäute flatterten. Bora bewegte sich. Ging auf das Wasser zu. Stürzte sich hinein. Schwamm hinaus. Versenkte sich an geeigneter Stelle.

Bernard machte Anstalten, um Hilfe zu schreien, aber das Empfinden der Nachtzeit gab ihm die Gewissheit, einem Traum erlegen zu sein. Das beruhigte ihn nicht. Wenn schon einen Bora-Traum, dann hätte er sich einen schöneren, erotischeren gewünscht. Nicht so ein unästhetisches Anschwellen und Absterben von vielem Möglichen. Und irgendetwas bleibt ja immer zurück.

Am folgenden Tag suchte Bernard vergeblich nach schachbrettenem Badeanzug. Auch das Borawinken konnte er nirgendwo orten.

Bernard wurde unruhig. Konnte nicht mehr zwischen Traum und Wirklichkeit unterscheiden. Schwamm hinaus. Suchte nach der Stelle, wo er Bora versinken sah. Das Wasser war nicht sehr tief. Bernard fand genug Helligkeit, um den Grund absuchen zu können. Aber zwischen Steinen und Algen und Fischen und Meerschlamm konnte er keine Leiche erblicken. Auch nicht eine mit Flossen oder Schwimmhäuten.

Also war's doch nur ein Traum.

Zurück am Strand versuchte Bernard zu lesen. Sein Lesen war unkonzentriert. Bernards Augen schweiften ab und als sie schließlich die Zopfflechterin entdeckten, ließ sein Interesse an Lektüre nach. Bernards Hirn wurde hellwach.

Er war ganz auf Bora fixiert. Darum blockte Bernard den erneuten Versuch der Zopfflechterin ab, die mit aufforderndem Blick seine Augen bezirzte und ihn zwingen wollte, seine Augen mit den ihren zu vermählen. Bernard schloss die Augen. Als er sie später wieder mit einem schiefen Blinzeln öffnete, klebten die Blicke der Zopfflechterin noch immer an seinen Lidern. Ihr Mund verzog sich zu einem maskenhaften, grimassigen Lächeln.

Bernards Fixierung auf Bora, die mit einem einzigen Blick das vermochte, was der Zopfflechterin unter Mühen nicht gelang, hinderte ihn an einem sonst vielleicht wohltuenden, verheißungsvollen Flirt. Er verließ den Strand. Es war ohnehin schon Abend und Bora würde nicht mehr erscheinen und Bernard hatte Hunger und vielleicht stand etwas in einer Zeitung, was ihn fesseln hätte können. Ihn ablenken. Den Abend erträglicher machen.

Während Bernard in fremdem Stiegenhaus in Erinnerungen wühlt, kommt die junge Frau, die ihn vorhin an Bora erinnerte, wieder die Treppe herunter. Sie winkt mit der rechten Hand, lächelt und meint, es werde noch ein wenig dauern, bis ihre Mutter komme. Noch einmal winkt sie und verschwindet nach oben. Bernard schaut ihr nach und ist sich fast sicher, dass sie Bora ist. Bernard erinnert sich. Er erinnert sich, wie es scheint, gerne an damals.

Bernard erinnert sich an ein Abendessen auf erwähnter Insel. Während er aß, teilte sich das Gebüsch, das einen Pool umkreiste und heraus trat Bora. Bernard erkannte sie nicht gleich. Sie war völlig in mausgrau gekleidet. Trug flache, mausgraue, stoffige Schuhe. Mausgraue Hosen. Ihren Oberkörper bedeckte ein T-Shirt. Ebenfalls in mausgrau. Bernard fand, dass mausgrau ihr gut stand. Dass ihre Persönlichkeit sichtbar blieb. Irgendwie war sie noch reizvoller, als in schwarzweißem Einteiler. Sie trug die braunen Haare jetzt offen. Die Zopfflechterin hatte ausgedient. Den linken Arm zierte eine Uhr, die ein feingliederiges Uhrband ans Handgelenk fesselte.

Noch etwas belebt Bernards Erinnerung: Die Bewegung, mit der sie ihre Umhängetasche über die Schulter warf. Eine Bewegung, die Bernard, wenn überhaupt, nur schwierig beschreiben kann. Bernard erinnert sich deutlich an die Farbe der Tasche. Sie war überwiegend in der Farbe rostrot oder rostbraun gehalten. Auch ein wenig Schwarz war vorhanden. Dazwischen eine Art gelb. Auf jeden Fall etwas Helle, und sie war im Dekor mexikanischen Motiven nicht unähnlich.

Bora warf mit der ihr gemässen Bewegung die Umhängetasche über die Schulter, schaute kurz zum Restaurant und winkte ihr unnachahmliches Winken. Bernard weiß nicht, was ihn veranlasste zurückzuwinken. Aber er tat es. Ängstlich zwar und etwas linkisch, um nicht zu sagen läppisch. Bernard versuchte ebenfalls ein Handgelenkwinken. Ihm war feierlich zu Mute. So, als hätte er etwas Großes, etwas Mutiges getan. Dabei hatte Bora mitunter gar nicht ihm gewunken!

Bernard war überzeugt, Boras Winken sei für ihn und nur für ihn bestimmt gewesen. Es musste so sein! Niemand sonst hatte Antwort gewunken. Dann war Bora weg. Fort. Um die Ecke. Bernard legte sein Besteck nieder, bezahlte und verließ das Restaurant. Er versuchte Bora zu folgen. Vergebens!

Bald schon gab Bernard die Suche auf. Die Nacht war herbei gekrochen und im beinahe dunklen Grau der Nacht eine mausgraue Bora finden zu wollen, grenzte fast schon an Überheblichkeit.

Angelika Schweyer macht Bernards Erinnern ein Ende. Sie kommt langsam, fast bedächtig, die Treppe herunter. Gekleidet in einen dunkelbraunen Morgenmantel, der bei jeder Stufe in Wallung gerät, jedoch nicht rauscht. Es ist überhaupt still und ruhig. Fast peinlich still und ruhig. Bernard steht auf und geht zögerlich zwei Schritte Frau Schweyer entgegen. Sie sieht ihn an, sieht noch einmal hin, nickt dann und sagt:

„Kommen Sie. Wir werden gemeinsam frühstücken.“

Bernard versucht, ihr zu erklären, dass er eigentlich nie frühstücke. Nein, nicht einmal eine Tasse Kaffee. Aber Frau Schweyer drängt ihn vor sich her, dirigiert ihn zum ovalen Frühstückstisch, dessen Gedeck sich als edel offenbart.

Frau Schweyer setzt sich am spitzigeren Rund des Ovaltisches. Bernard bittet sie am flacheren, längeren Teil Platz zu nehmen. Ihm gegenüber ist auch gedeckt. Der Platz ist aber noch frei.

Frau Schweyer nötigt Bernard zuzugreifen, stellt einen Eierbecher vor ihn hin und schiebt Schinken und Rührei auf den Teller. Auch Marmelade, Butter und Käse stellt sie vor Bernard hin. Dann füllt sie die Tasse mit stark riechendem, schwarzem Kaffee bis zum Rand. Es besteht keine Möglichkeit Milch oder Zucker zuzuführen.

Darauf wiederholt sie die Zeremonie bei sich, ordnet alles genau so an, wie sie es in und um Bernards Teller gruppiert hat. Schenkt sich auch von dem zähflüssigen Kaffee ein und beginnt mit weggespreiztem kleinem Finger ein Brötchen mit Butter zu bestreichen. Bernard seinerseits köpft die Eierspitze und stellt fest, dass das Ei blaugekocht ist. Von Dreiminutenei keine Rede!

Bernard versucht den Kaffee. Er ist so bitter, dass er sich in die Zunge eingräbt. Der Gaumen scheint sich zu verziehen. Will absterben. Weil Bernard durch nichts die Bitterkeit aus dem Mund bringt, bestreicht auch er eine Scheibe Brot mit Butter und Quittenmarmelade, isst den Schinken dazu und spürt nichts von dem wachsenden Erstaunen Frau Schweyers.

Bernard starrt auf den leeren Teller gegenüber und wäre glücklich, dort drüben zu sitzen, während hier einer mit vollem Genuss das schweyersche Frühstück verzehrt.

„Sie waren gestern mit Elisabeth im Krankenhaus, nicht wahr?“ beginnt Angelika Schweyer urplötzlich das Gespräch.

Bernard nickt.

„Ich habe Sie sofort wieder erkannt“, fügt sie dann bei.

Frau Schweyer scheint irgendwie zu glauben, dass Bernard sich schuldig fühle, vielleicht unterstellt sich ihm das bloss: „Sie brauchen sich nicht schuldig zu fühlen. In keiner Hinsicht. Nein, Sie sind nicht schuldig. Auch nicht schuld.“

Bernard antwortet nicht. Er schweigt drauflos, obwohl er gekommen ist, um zu reden. Um etwas in Erfahrung zu bringen. Noch auf dem Herweg hat er sich den Beginn des Dialogs vorgestellt. Und jetzt? Jetzt sitzt er da. Würgt an aufstoßenden Wortfetzen. Kann sie aber nicht formen. Er erinnert sich nur lose an seinen Auftrag. Der schwebt drohend über ihm. Bernard versucht die aufstoßenden Silben runter zu spülen, aber der bittere Kaffee hält sie im Munde fest. Lässt sie nur bis zum Kehlkopf rutschen. Dort verwickeln sie sich. Werden immer dicker und drücken schmerzend auf die Stimmbänder.

Bernard ist erleichtert, als Frau Schweyer von sich aus sagt, dass ihr Mann öfters von einer Biografie gesprochen habe, die er schreiben lassen wolle. Von einem Menschen, den er als begabt zum Schreiben bezeichnet habe, obwohl sie sich nicht vorstellen könne, woher Paul den Anspruch genommen habe, über Literatur urteilen zu können.

„Ich denke, Sie sind derjenige, den Paul meinte“, sagt Frau Schweyer.

Bernard stammelt: „Es tut mir aufrichtig leid, das mit Ihrem Mann. Ich hätte ihn gerne persönlich gesprochen. Aber so wie es nun ist. Wie geht es ihnen. Möchte ich mit Ihnen. Vielleicht können Sie mir. Ich denke Sie müssten ja auch. Aber wenn Sie sich nicht in der Lage fühlen. Ich meine, Sie sind in einer schlimmen Situation. Wenn Sie nicht wollen. Aber ich sehe. Ich bewundere Sie. Weil.“

„Was wollten Sie sagen“, fragt Frau Schweyer. Bernard dünkt ihre Stimme weit weg. Als küäme sie von weit fort.

„Nichts Konkretes“. Bernard ist überrascht, dass er sofort eine Ausrede parat hat. „Im Augenblick möchte ich bloß von Ihnen wissen, wie Sie sich das vorstellen. Ich meine, ob es vertretbar ist, jetzt mit Nachforschungen zu beginnen. Jetzt da er im Krankenhaus. Ich meine, man kann ja nie wissen.“

Letzteres rutscht Bernard einfach so heraus, lässt sich aber nicht mehr zurücknehmen. Das einmal Gesagte lässt sich nicht ungesagt machen.

„Wenn's weiter nichts ist“, sagt Frau Schweyer. Bernard sieht, dass ihre Gesichtszüge grimasseln.

„Mein Mann brüstete sich immer: selbst wenn mir etwas zustoßen sollte, meine Biografie wird geschrieben werden. Dann erst recht“. Frau Schweyer schweigt kurz und meint dann: „Wo meine Tochter nur wieder bleibt?“

Das macht Bernard wieder konfus und lässt ihn erbleichen.

„Was ist mit Ihnen“, fragt Frau Schweyer.

„Nichts“, sagt Bernard, „ich meine bloß. Das heißt ich frage. Möchte fragen. Ihre Tochter.“

Mit einigem Aufwand gelingt es Bernard, sich in den Griff zu bekommen. „Ihre Tochter ist mir vorhin begegnet. Ich glaubte, mich an sie zu erinnern; ihr schon einmal begegnet zu sein. Damals nannte ich sie für Bora, weil ich sie im Bora Bora traf.“

„Die meisten rufen meine Tochter Bora“, sagt Frau Schweyer, „wir tauften sie Debora. Debora ohne h.“

Bernard ungläubig: „Sie heißt also wirklich Bora, Debora“? und durch seinen Kopf echot es: BoraBoraBoraBoraBoraBora …

Bernard will diesen Frühstückstisch verlassen. Der Platz da visavis! Dieser Platz kann, wird ausgefüllt werden. Da wird Bora sitzen. Bernard hat Angst, erneut in ihrem Augenwasser zu ertrinken. Unter fadenscheinigem Vorwand erhebt er sich und verabschiedet sich, nicht ohne sich zu vergewissern, dass er später wiederkommen dürfe. Diese Türe hält er sich offen. Dann ist er weg. Fort. Auf der Straße. Bora nun magst du kommen und frühstücken.

BoraBoraBoraBoraBoraBora.

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170 стр.
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9783844257595
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