Читать книгу: «Bora oder Brüche zwischen zwei Schnitten», страница 2

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„Sagen Sie mir, wer Angelika Schweyer ist, wie sie ist, warum sie Sie hasst,“ sagt Bernard auf der Fahrt zum Krankenhaus.

Elisabeth lehnt sich zurück und atmet tief ein und aus. Ihre Brust hebt und senkt sich in langsamem, ausgeglichenem Rhythmus. Sie scheint zu überlegen, zu kämpfen. Dann redet sie doch:

„Frau Schweyer ist eifersüchtig. Sehr eifersüchtig. In einer schlimmen Art eifersüchtig. Ich habe es erfahren, als sie mich anrief und mich beschimpfte. So wie sie hat mich noch niemand beschimpft. Nein. Noch niemand.

Es war, nachdem Paul mich als Sekretärin angestellt hatte. Wenige Tage danach kam ihr Anruf. Sie schrie wie hysterisch ins Telefon. Ich hörte ihre kurzen und heftigen Atemstöße, die sie ausstieß, wenn sie in ihrem Schreien innehielt. Ich solle ihren Mann in Ruhe lassen, schrie sie, und dann: Hure. Jawohl. Dreimal hintereinander. In äußerst giftigem Ton: „Hure, Hure, Hure.“

Zuerst dachte ich gar nichts. Dann wollte ich den Hörer auflegen, erinnerte mich aber daran, dass sie Pauls Frau, meines Chefs Frau ist und dass sie mich ihm empfohlen hatte. Ich behielt den Hörer in der Hand. Noch immer atmete sie streng und schwer und stoßartig. Noch immer überschlug sich ihre Stimme, als sie mir drohte, mich weiter beschimpfte, mir wieder drohte und dann grußlos die Verbindung unterbrach.

Ich war zunächst konsterniert, wusste nicht, was ich tun sollte. Ich verstand die Welt nicht mehr und schon gar nicht diese Frau. Warum sagte sie Hure zu mir? Warum? Hätte sie irgendein anderes Schimpfwort gebraucht, es wäre mir leichter gefallen, ihre Schimpftirade zu verdauen. Aber dieses Wort! Es hat so einen verrufenen Klang. Tönt härter, als wenn sie Luder gesagt hätte.

Zum ersten Mal seit langer Zeit weinte ich, weil mich jemand beschimpfte. Ich saß auf dem Sofa und hielt den Hörer, aus dem ein abgehackter Summton kreischte, in der Hand und ich wünschte mir, mit Paul darüber sprechen zu können.“

Elisabeth hält inne und schaut auf die öde Fahrbahn, die schnurgerade vor ihnen liegt.

„Wir müssen zum Krankenhaus“, sagt sie, „nicht zum Betrieb.“

Bernard schrickt auf. Er wäre zum Betrieb gefahren, anstatt zum Krankenhaus. Bernard nickt und schummelt: „Ich weiß.“

Dann redet Elisabeth weiter.

„Bei der ersten Gelegenheit sprach ich mit Paul über das Telefongespräch. Er hörte mir zu und lachte. Dann meinte er, ich solle das nicht so tragisch nehmen. Das mache sie immer so. Paul konnte nicht begreifen, was es heißt, wenn eine Frau Hure geschimpft wird. Kann das überhaupt ein Mann begreifen? - Paul, obwohl er intelligent ist und Erfolg hat und weltgewandt ist und in bester Gesellschaft verkehrt, benahm sich nicht anders, als andere Männer. Auch er war unfähig, eine Frau zu begreifen. Auch er lachte bloß, als ich mit ihm über das Problem sprach. Er lachte vielleicht ironischer und zynischer als manch andere Männer es in vergleichbaren Situationen zu tun pflegen.“

Elisabeth gestikuliert heftig mit den Händen.

„Sie müssen links einspuren“, ruft sie, weil Bernard keine Anstalten macht, zum Krankenhaus zu fahren.

„Ich weiß“, knurrt Bernard, obwohl er das Krankenhaus schon wieder vergessen hat.

Entgegen Bernards Erwartung sagt Elisabeth bloß noch: „Hure, hat sie zu mir gesagt. Verstehen Sie? Hure.“

Beim Krankenhaus begreift Bernard, dass Elisabeth nicht mehr weitersprechen will, weil das, was sie zu sagen hätte, wirklich niemand etwas angeht. Nicht diese Kranken-schwester. Nicht jenen Arzt.

Elisabeth tastet nach Bernards Hand, hält ihn aber nicht mehr am Handgelenk, sondern legt ihre Hand in seine Hand. Er spürt ihre feuchte Innenhand und merkt, dass Elisabeth Angst hat. Hand in Hand gehen sie wie zwei Verliebte durch das schwere Krankenhausportal.

Sie gehen vorbei an weiß gekleideten Männern und Frauen. Es ist ihnen nicht anzusehen, wer Arzt, Krankenschwester oder Hebamme ist. Elisabeth und Bernard gehen vorbei an wandelnden Patienten, die in ihre Morgenröcke gehüllt den Geruch des ewigen Morgens verbreiten. Sie gehen vorbei an Menschen, die gesund sind, die aber wie Bernard und Elisabeth etwas über das Schicksal Erkrankter oder Verunfallter erfahren möchten. Sie gehen vorbei an Menschen, die die letztendlich mögliche und in Krankenhäusern gar nicht so seltsame Antwort vom Tod erhalten haben. Sie gehen vorbei und sagen nichts, außer ein müdes unterdrücktes „Grüß Gott“ oder „guten Tag.“

Nahe jener Tür, vor der Elisabeth und Bernard warten sollen, steht eine Bank und darauf sitzt, den Kopf in die Hände gestützt, eine Frau, die sich auch nicht regt, als Elisabeth und Bernard an ihr vorübergehen. Ja, auch an ihr gehen sie grußlos vorüber weil Bernards „guten Tag“ von Elisabeth flüsternd abgewürgt wird. Ihr gezischtes „Das ist sie“, überrascht Bernard und lässt den guten Tag nicht heraus aus ihm.

„Wer?“ fragt Bernard.

„Angelika Schweyer“, flüstert Elisabeth und dehnt jede Silbe übermäßig und überdeutlich. Unwillkürlich verzögert Bernard den Schritt. Er möchte sich umdrehen. Aber Elisabeth zieht ihn weiter. Sie gönnt der Frau Schweyer anscheinend nicht einmal Bernards „guten Tag.“

Elisabeth und Bernard im Krankenhauskorridor. Das Stehen auf hellen Kunstmarmorplatten macht müde. Bernard überlegt und kommt zum Schluss, dass dies auch auf dunklem Marmor nicht anders wäre. Langsam beginnen die Fußballen zu schmerzen. Die Zehen. Die Waden. Auch über das Schienbein setzt sich der Schmerz fort. Unwillkürlich tritt man von einem Fuß auf den andern. Elisabeth sieht dabei aus, wie ein tänzelndes Zirkuspferd. Später, wenn auch ein Fußwechsel keine Entspannung mehr bringt, sucht sich dieser dumpfe, ziehende Schmerz einen Weg über die Lendenpartie zum Rückgrat. Noch ein wenig später nistet er sich in den Schultern ein, die durch ein Stechen gemartert werden und manchmal zu zittern oder zu zucken beginnen. Wenn dann noch keine Entlastung eintritt, glaubt man das Schmerzen überall zu spüren.

Elisabeth hat sich an Bernard gelehnt. Er kann ihre Haare riechen und ihre rechte Brust auf seiner linken Brust fühlen, ohne Herzklopfen zu spüren oder was sonst dazugehören mag. Sie erschrickt als sich hinter ihr eine Tür öffnet, zwei Männer in Weiß heraustreten und in Richtung Angelika Schweyer gehen, wo sie sich als Ärzte zu erkennen geben.

Bernard sieht, wie die Ärzte sich gegenseitig durch Blicke verständigen. Offenbar fällt ihnen etwas schwer.

„Wie geht es ihm?“ fragt Frau Schweyer.

Die Antwort der Mediziner, „den Umständen entsprechend“, passt in diese Art verkrampften Gesprächs.

„Seine inneren Verletzungen bereiten uns Sorgen. Nicht die diversen Brüche. Wir mussten operieren und es lässt sich nur schwer eine Prognose wagen.“

Angelika Schweyer ist nicht anzumerken, dass sie nach dieser Meldung trauriger, erschrockener oder unbeherrschter wäre. Sie nimmt die Aussage der Ärzte entgegen wie jemand, der nach dem Weg fragt und eine komplizierte Antwort erhält.

Elisabeth steht jetzt zwischen Angelika Schweyer und Bernard. Während sie angestrengt den Worten der Ärzte folgt, geht sie rückwärts, bis sie wieder dicht vor Bernard steht. Diesmal mit dem Rücken zu seiner Brust. Plötzlich gellt ihre Stimme durch den Krankenhauskorridor: „Wer ist Er?“ und als niemand antwortet: „Wen haben Sie operiert?“

Einer der Ärzte dreht sich um, blickt nervös über die Schulter und murrt mit ärgerlicher Stimme: „Herr Direktor Schweyer natürlich.“

„Und Andreas? Der Chauffeur!“

„Der? Der liegt nicht hier. Der liegt in der Allgemeinabteilung. Das hier ist die Privatabteilung, “ und etwas mürrisch fügt er hinzu: „Das sieht man doch!“

Dann gehen die Ärzte. In ihrer Mitte Angelika Schweyer, die noch immer keinen schleppenden Gang mimt, im Gegenteil, deren Schritte kurz sind und dadurch zierlich wirken.

Erst als die Drei hinter der gläsernen Pendeltüre um die Ecke verschwinden, bewegt sich Elisabeth, fasst Bernard wieder bei der Hand und flüstert: „Wir müssen hinüber gehen. Jawohl hinüber.“

Mit „hinüber“ meint sie offensichtlich die Allgemeinabteilung.

Drüben fragen sie nach dem Krankenzimmer des Chauffeurs. Die befragte Pflegefachfrau schüttelt energisch den Kopf: „der liegt nicht auf einem Krankenzimmer.“

„Intensivstation?“

„Nein, auch nicht Intensivstation.“

„Haben Sie ihn entlassen?“

„Nein.“

Damit wird die zweifelnde Hoffnung aus der Welt geschafft.

„Er ist tot“, sagt die Pflegerin, den Blick dem Boden zugewandt. Offenbar hat sie auch durch langjährige Tätigkeit die Scheu vor dem Tod nicht abgelegt.

Elisabeth drückt Bernards Hand fester und wieder spürt er ihre feuchte Innenhand. Er ahnt, dass in Elisabeth etwas vorgeht, was äußerlich nicht erkennbar ist. Auch sie bricht nicht in Weinen aus. Wird nicht einmal blasser. Zittert nicht. Auch ihr Schritt kommt Bernard fest und sicher vor. Jedenfalls stellt er beim Weggehen nichts anderes fest.

Vor dem Krankenhausportal treffen Angelika Schweyer, Elisabeth und Bernard wieder aufeinander. Die zwei Frauen gehen grußlos aneinander vorbei, während Bernard dieses Mal sein „Guten Tag“ hervorpresst. Dieses Mal lässt er sich nicht mehr hindern daran.

Elisabeth und Bernard fahren zurück zum Betrieb, wo Bernard seine Unterlagen und die Personalakte Paul Schweyer liegen hat, die er nach Hause nehmen möchte, um sie zu studieren. Während Elisabeth ihren Wagen über die Straße treibt, fragt sich Bernard, ob es nicht makaber sei, für einen mit dem Tod vielleicht schon vertrauten Menschen, Lebenserinnerungen zu verfassen. Aber er lässt Bedenken nicht zu, weil er der Auffassung ist, dass dieser Mensch nun interessanter werde, dass es gerade jetzt aufschlussreich sein könne, etwas über dessen Leben zu erfahren, etwas, das darüber hinausgeht, wa bisher durch die Medien publiziert wurde.

Auch Elisabeth findet es nicht geschmacklos, wenn Bernard weiter nach Spuren im Leben Paul Schweyers fahndet.

„Ich bin überzeugt“, sagt sie, „dass es im Sinne Pauls ist, wenn Sie auch unter diesen Umständen seinen Auftrag ernst nehmen und seine Biografie verfassen.“

„Soll ich nicht zuwarten bis Herr Schweyer wieder gesund ist, “ fragt Bernard.

„Nein. Nein, verlieren Sie keine Zeit. Jetzt nicht. Im Übrigen bin ich der Meinung, dass jetzt die Menschen in Pauls Umfeld bereitwilliger Auskunft geben, als dann, wenn er wieder genesen sein wird.“

Dem kann Bernard zustimmen. Menschen werden angesichts von Unglücken oder Unfällen gesprächiger, erinnern sich vermeintlich besser oder genauer. Ob sie auch besser differenzieren können? Bernard weiß es nicht.

„Ich werde Ihnen die Unterlagen holen“, sagt Elisabeth und verschwindet hinter der Portierloge.

Soviel Bernard durch die lichtbrechenden Scheiben des kleinen Portierhäuschens sehen kann, ist der Portier ernst geworden. Bernard fühlt, dass er von ihm gemustert wird. Dass der Portier ihn beobachtet. Dass er abwägt, prüft und zum Schluss kommt, dass Bernard gefragt werden soll. Darum verlässt er sein Kabäuschen.

Der Gang des Portiers ist schleppend. Er geht ein wenig eingeknickt. So, als hätte er eine Last zu tragen. Umständlich öffnet er die Autotür, stützt sein Gewicht darauf und fragt, „ist es wahr?“

Bernard nickt und murmelt: „ja.“

Erstmals spürt Bernard jene Bangigkeit, die einen überfällt, wenn man weiß, dass man mit einer Antwort einem Menschen Unangenehmes sagen muss. Er begreift die zu Boden gewandten Augen der Pflegerin, als sie Elisabeth sagen musste, dass Andreas tot sei.

Der Portier fragt nicht nach. Er will keine Details. Ist offenbar nicht von Sensationen abhängig. Er schlurft zurück und bleibt auch nicht stehen, als Elisabeth zurückkommt und an ihm vorübergeht.

Elisabeth hat die Personalakte unter den Arm geklemmt. Die blaue Jacke hat sie über die Schultern geworfen. Ihre Haare sind frisch gekämmt und mit dem Haarband aufgesteckt. Sie sieht nicht aus, als sei sie vor kurzem noch in einem Krankenhaus gestanden. Auch Andreas Tod scheint sie nicht zu belasten. Sie sieht aus, als käme sie ganz normal von der Arbeit. Als hätte sie einen ganz normalen Feierabend.

„Ich bringe Sie nach Hause“, sagt Elisabeth.

Auf der Fahrt riecht Bernard Elisabeths Parfüm. Es ist nicht aufreizend. Auch nicht aufdringlich. Aber verführerisch. Das Parfüm riecht gut an ihr und sie riecht gut in ihm. Irgendwie unterstreicht es ihre Persönlichkeit. Irgendwie wird Elisabeth Bernard noch sympathischer. Sie scheint es nicht zu bemerken.

„Es wird schwierig werden“, sagt Elisabeth, „Sie werden mit Urteilen und Vorurteilen zu Rande kommen müssen. Ich kann mir vorstellen, dass man Ihnen ärgrrlich sagen wird, Ihre Fragen seien schon Dutzende von Malen beantwortet worden.“

„Warum sagen Sie mir das?“

„Weil ich Ihnen nichts verheimlichen will. Weil Sie wissen müssen, dass neben der Verkehrspolizei sich auch die Terrorbekämpfung in die Untersuchung einschalten wird.“

„Terrorbekämpfung? Paul ... ?“

„Nein, nicht Paul“.

„Wer dann?“

„Andreas“, sagt Elisabeth.

„Es ist eine dumme Geschichte, in die er hinein gezogen worden ist. Doch damit hatte er nichts zu tun. Andreas tut so etwas nicht.“ Nach kurzer Pause korrigiert sie: „Andreas tat so etwas nicht.“

Bernard überlegt. Kombiniert. Versucht einzuordnen. Obwohl er es nicht will, entsteht so etwas wie ein Raster, der Andreas als gewaltbereit darstellt. Bernard spürt, dass er beginnt, ihn darauf zu fixieren und er ist froh, dass sie sich seinem Wohnort nähern.

„Da bin ich zu Hause.“ Bernard deutet in die Hofeinfahrt, die mit unzähligen, kleinen hauptsächlich schwarzgrauweißen Kieselsteinen bedeckt ist, die beim Befahren knirschen, knacken, rauschen, brechen und in unbeschreiblichen Konstellationen von unten auf das Autoblech trommeln. Dann ist Stille. Das Auto steht.

Jetzt müsste Bernard aussteigen. Sich bei Elisabeth bedanken. Grüßen. Das Auto verlassen. Aber er macht keine Anstalten es zu tun. Im Gegenteil. Er grübelt weiter und fragt:

„Andreas, der Chauffeur? Ein Fall für die Terrorbekämpfung?“

„Sie vermuteten es“, sagt Elisabeth, „auch das wollte ich Ihnen erzählen, bevor Sie es aus anderem Mund erfahren.“

„Aus wessen Mund?“ fragt Bernard, aber Elisabeth antwortet nicht.

Stattdessen fragt sie: „Darf ich reinkommen? Auf eine Tasse Kaffee und so?“

Bernard und Elisabeth gehen über die Kieselsteine. Lassen sie unter ihren Schuhen reiben und quietschen. Schweigsam. Das Schlüpfen des Haustürschlüssels, sowie die knarrende Drehbewegung und das leise Sausen der Türangeln unterbrechen die Stille.

Bernard führt Elisabeth ins Wohnzimmer. Dort herrscht eine gewisse Unordnung. Eine Unordnung, die bei Menschen vorgefunden werden kann, denen zwar nicht der Sinn für Reinlichkeit abhanden gekommen ist, die aber Genauigkeit oder Pedanterie nicht schätzen.

Er bittet Elisabeth auf dem Sofa Platz zu nehmen.

Während sich Elisabeth in die Sofaecke kuschelt, sich darin zu versenken droht und nach einer angenehmen Ruhestellung sucht, fragt Bernard, ob er eine Tasse Kaffee anbieten dürfe.

„Eigentlich nein“, sagt Elisabeth, die zwar das Indiewohnungkommen mit einer Tasse Kaffee und so begründete, nun aber doch eher dem Undso zuneigt.

„Machen Sie sich keine Umstände, “ sagt sie, „ich möchte Ihnen nur erzählen, wie das mit Andreas war.“

„Wenn schon keinen Kaffee, darf es dann vielleicht ein schönes Weinchen sein?“

„Ja, eher, bitte.“

„Rot? Weiß?“

„Rot. Aber machen Sie meinetwegen keine Umstände.“

Sie einigen sich auf einen leichten, süffigen Rotwein vom Lande, dessentwegen Bernard noch einmal in den Keller steigt. Als er von dort zurückkommt, steht Elisabeth vor dem Bücherregal und deutet auf die Werke namhafter und weniger namhafter Autoren.

„Sie lesen ?“

„Ja“, sagt Bernard und nickt.

Während Bernard die Rotweinflasche entkorkt, bettet sich Elisabeth wieder in die Sofaecke. Ihre Bewegungen sind weich und rund und befinden sich in deutlichem Gegensatz zu den gespreizten, starren Zuckungen, mit denen sie sich angesichts des Blutes am Unfallort langsam davon quälte, jenem Arzt zu, der ihr schnellwirkende Medikamente verabreichte.

Bernard serviert den Wein. Dann setzt er sich zu Elisabeth und sie trinken auf das gemeinsame Wohl. Elisabeth lächelt. Nein, nicht verlegen. Eher scheu. Aber lieb. Bernard meint dennoch zu spüren, dass sie, trotz allen Charmes und aller Nettigkeit, weiß was sie will.

„Wie war das mit Andreas und dem Terrorismus?“ fragt Bernard und schafft damit den scharfen und kantigen Bruch eines kontinuierlichen Schweigens. Elisabeth räuspert sich, presst die Schenkel zusammen, stemmt die Beine gegen den Boden und drückt die Schultern in die gepolsterte Lehne. Es ist kaum zu bemerken, aber es fällt ihr doch nicht so leicht, darüber zu reden.

Dann überwindet sie sich doch.

„Das war so: Andreas schlitterte in diese dumme Geschichte hinein, die ihn nicht mehr loslassen sollte. Sie hielt ihn umklammert. Hatte ihre spitzen Krallen fest in seinem Leben, obwohl nie nachgewiesen wurde, dass er je gewalttätig war. Er selbst hat Gewalt immer bekämpft. Sein Werdegang zeigte nicht in Richtung Gewalt. Ebenso wenig sein Bildungsweg. Von einigen forschen Demonstrationen abgesehen. Eigentlich deutete alles daraufhin, dass Andreas in jener Mehrheit verschwinden würde, aus der keiner kriminalistisch oder medial interessant werden könnte. Das war so bis zu dem Tag, an dem sie ihn in einem kleinen Restaurant vom Nachmittagskaffee weg verhafteten.

Es geschah ohne Aufsehen. Niemand im Lokal bemerkte die Verhaftung, die ohne Handschellen und ohne Kommandos vor sich ging. Im Gegenteil. Die Männer in Zivil kamen, setzten sich in der Nähe von Andreas an einen Tisch, wechselten dann an seinen Tisch, gaben sich als Polizeibeamte zu erkennen und baten ihn mitzukommen. Er sei verhaftet, sagten sie, und auf seine einzig mögliche Frage antworteten sie, das werde er schon rechtzeitig erfahren.

Andreas wollte bezahlen, aber die Beamten waren zuvorkommend. Die Zeche gehe zu Lasten des Steuerzahlers, lachten sie und forderten Andreas höflich aber bestimmt zum Gehen auf.

Auf dem Polizeiposten wurde Andreas nach seinen Personalien, seinem Leben, seinem Umfeld befragt. Teilweise drangen sie tief in seine Persönlichkeit ein. Und dann die quälenden Fragen! Von links. Von rechts. Von oben. Von unten. Von vorne. Von hinten. Manchmal quer diagonal aus der Schräge: Welchen Freundeskreis er habe. Ob er je einmal mit der oder jener oder sogar mit dem oder jenem. Wo er damals, an genau benanntem Datum , gewesen sei. Ob er ein Alibi habe. Warum er öfters dort sei wo er viel sei. Andreas gab Antwort, so gut er konnte, so viel er wusste, und dennoch wiederholten sie sich. Ständig. Stündlich. Immer wieder.“

Elisabeth hält abrupt inne. Ihr Ausdruck signalisiert, dass sie im Begriff ist, ein Geheimnis zu verraten. Dass sie gerade ein Versprechen bricht.

Bernard befürchtet eine ähnliche Reaktion wie an der Unfallstelle. Er bittet Elisabeth, das Medikament einzunehmen, das sie beruhigt hatte. Elisabeth gehorcht. Öffnet die Umhängetasche und wühlt mit der linken Hand nach dem Pillensäckchen.

Trotz ihres angespannten Gesichtes, trotz leichter Zuckungen in den Mundwinkeln, trotz der gegen den Boden gepressten Beine, trotz der fast trotzig in die Polster gestemmten Schultern, wirkt Elisabeth auf Bernard anziehend. Etwas Geheimnisvolles geht von ihr aus. Es ist, als söge Elisabeth Bernard auf. Umhüllte ihn mit einem geheimnisumrankten Mantel. Bernard empfindet es als angenehm, wehrt sich aber dennoch dagegen.

„Und dann? Was geschah dann mit Andreas?“

Elisabeth winkt ab.

„Nicht heute“, sagt sie. „Ich kann nicht mehr. Mag nicht mehr. Will nicht mehr. Nein, bitte heute nicht mehr. Vielleicht bin ich doch nicht so stark, wie ich hoffte zu sein.“

Bernard schaut Elisabeth an und bildet sich ein, er sehe, wie sich in ihren Augen gleichzeitig und gleichförmig Tränen bilden, die auf ihre Brüste tropfen und dass die Wiederholung auf ihren Brüsten dunkle, nasse Flecken hinterlasse.

„Ich muss weiter,“ sagt Elisabeth. „Werden Sie mich morgen anrufen? Oder besser, kommen Sie zu mir ins Büro.“

Bernard begleitet Elisabeth nach unten, sieht ihr nach, wie sie zum Auto geht und denkt nichts dabei. Überhaupt nichts. Nicht einmal, dass sie schön oder hübsch oder nett sei. Nicht einmal, dass er sie besser nicht fahren lassen sollte.

Elisabeth fährt weg. In die Abenddämmerung hinein. Für den Augenblick herrscht Ruhe.

399
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170 стр.
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9783844257595
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