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Hannah drückte ihre Wange an die kalte Steinsäule und beobachtete die Straße. Koschka, Maria und Ilsa warteten auf sie, um eine Hetzjagd zu starten. Es würde mit kleinen Sticheleien beginnen und damit enden, dass sie Hannah in den Dreck schubsten und ihre Hefte und Bücher zerrissen. An einem anderen Tag wäre sie vielleicht mit Beleidigungen und Demütigungen davongekommen, die sie inzwischen schweigend ertrug. Aber sie ahnte, dass während ihrer Ohnmacht mehr passiert war. Pilz hatte die Gelegenheit sicherlich genutzt, um die anderen Kinder gegen sie aufzuhetzen, und seine Anstrengung würde bittere Früchte tragen.

Ihr blieb nur zu warten. Hannah fröstelte in der kalten Luft und betrachtete den Winterhimmel. Sie mochte es, in den dahinjagenden, vom Wind zerzausten Wolken nach Bildern und bekannten Formen zu suchen. Heute war die schiefergraue, tief hängende Wolkendecke so dicht und eintönig, dass Hannah vergeblich nach vertrauten Konturen Ausschau hielt. Stattdessen sollte sie besser die Straße beobachten. Die Fassaden der Häuser waren von einem stumpfen Sepiabraun, das nasse Pflaster glänzte matt wie flüssiges Blei. Umso bedrohlicher leuchtete das Rot der Hakenkreuzfahnen, die an Fahnenmasten und Laternen wehten. Für den kommenden Sonntag war einer der vielen Aufmärsche angekündigt. Sie würden einen Mordslärm machen und ein Funktionär der Partei würde eine Rede halten. Danach verprügelten sie jeden, der ihnen nicht zujubelte.

Hannah wärmte ihre Finger in den Manteltaschen. Ein eisiger Wind wehte von Norden her über das Kopfsteinpflaster. Nach einer halben Stunde schien Koschka die Geduld zu verlieren. Hannah beobachtete, dass er mit Maria und Ilsa im Schlepptau auf den Kiosk an der Straßenecke zulief, vermutlich um sich eine Zuckerstange zu kaufen. Eine zweite Chance würde sie nicht bekommen, unbehelligt nach Hause zu gelangen.

Sie wagte sich aus dem Schutz des Portikus und lief los. Nur wenige Menschen waren unterwegs, die meisten Leute beschäftigten sich bereits mit den Vorbereitungen zum bevorstehenden Weihnachtsfest. Malisha feierte mit ihr das jüdische Lichterfest, das am 17. Dezember begann und am 24. endete. Weder Hannah noch ihre Mutter waren gläubig, Religion spielte in ihrem Leben kaum eine Rolle. Dennoch hatten sie früher die Synagoge besucht, weil sie die feierliche Atmosphäre mochten. Und nun brachte sie schlechte Nachrichten mit nach Hause, die die Festtagsstimmung drücken würden.

Hannah blieb stehen, um Atem zu schöpfen, und betrachtete ihr geisterhaftes Spiegelbild in einer Schaufensterscheibe. Sie hatte das dichte schwarze Haar ihrer Mutter geerbt, ihre haselnussbraunen Augen und die schlanke, feingliedrige Gestalt. Sie begriff, dass sie noch keine Frau war, aber auch kein Kind mehr, und man würde sie nicht mehr als solches behandeln. Berthold hatte sich mehr als einmal vor seine Schülerin gestellt und sie versucht zu schützen, doch diesmal würde er nichts ausrichten können.

Etwas hatte sich verändert. Man sah es nicht und konnte es nicht greifen, dennoch spürte Hannah die Krankheit, die die Herzen der Menschen schleichend vergiftete.

Über eine Nebenstraße erreichte sie den Börneplatz. Von hier aus war es nicht mehr weit bis zu dem kleinen Schneiderladen ihrer Mutter. Auf der freien Fläche heulte der Wind um die Ruine der Synagoge, die vor einem Jahr ein Raub der Flammen geworden war. Seitdem hatte man die Mauern abgetragen, um das Baumaterial für andere Vorhaben zu verwenden. Wo das Gebäude nicht bis auf die Grundmauern verschwunden war, ragten vom Feuer geschwärzte Wände in die Höhe. Von der Hitze geborstene Steine hatte man zu riesigen Haufen aufgetürmt. Aus dem Lichterfest würde dieses Jahr nichts werden.

Hannah spürte plötzlich, dass sie nicht allein war. Der Platz war menschenleer, niemand war zu sehen, dennoch hörte sie das leise Getrappel von eiligen Schritten. Sie beeilte sich, die Synagoge hinter sich zu lassen, und lief an einem der Schutthaufen vorbei. Ein Ziegelstein löste sich aus dem Haufen, rutschte herab und zog eine kleine Gerölllawine nach sich.

»Flieger! Grüß mir die Sonne! Grüß mir die Sterne …«

Koschka sprang hinter dem steinernen Berg hervor. Er grinste und sang laut und schief. Seinem Gegröle folgte eine Lachsalve. Die Mädchen bogen sich vor Lachen, Koschkas Kumpane, zwei Jungen in ihren HJ-Uniformen, waren auch da. Hannah versuchte, an Maria vorbei zu laufen, aber sie verstellte ihr den Weg.

»Schau an, die verrückte Hannah. Fliegen-Pilz hat getobt wie ein Irrer«, sagte Ilsa.

»Das weiß sie doch selber«, rief Koschka. »Dein Schauspielern nützt dir gar nichts.« Er verdrehte die Augen und ließ sich platt auf den Schuttberg fallen.

Maria lachte schrill. »Du brauchst nicht mehr zu kommen, hat Pilz gesagt. Dafür wird er schon sorgen.«

»Wird auch Zeit«, japste Koschka, der wieder aufgestanden war. »Juden in einer arischen Schule. Wo gibt’s denn so was?«

Ilsa knuffte sie an der Schulter. »Hannah stört das nicht. Aus ihr wird doch eine Fliegerin.«

»Ja«, rief Koschka. »Was denn, was denn?«, äffte er Pilz nach. Die Mädchen kicherten.

»Ihr Vater holt sie mit seinem Flugzeug ab!«

Die Jungen grölten.

»Ihr werdet dumm schauen, wenn er kommt«, sagte Hannah. »Er muss viel arbeiten, ist immer unterwegs. Aber er kommt.«

»Den gibt’s doch gar nicht«, widersprach Ilsa.

»Und wie bin ich wohl zur Welt gekommen?«

Aus dem Augenwinkel sah sie, dass Koschkas Freunde um den Schuttberg herum auf sie zukamen und sie einkreisten.

»Du bist nichts weiter als ein jüdischer Unfall«, warf Kretz ein. Er war schon sechzehn und kannte sich mit Dingen aus, von denen Hannah nur eine vage Vorstellung hatte. Koschka folgte ihm wie ein fettes Hündchen. »Er hat dafür bezahlt, dass deine Mutter ihn mal rangelassen hat«, fuhr Kretz fort.

»Das ist nicht wahr!« Hannah schossen Tränen die Augen.

»Stimmt wohl«, beharrte Koschka. »Mein Vater sagt, die Malisha Bloch arbeitet in der Pagode beim Bahnhof. Man weiß ja, was da nachts los ist.«

Die gefürchtete Schwärze raste heran, Hannahs Blickfeld verengte sich. Dass es so kurz hintereinander geschah, jagte ihr Angst ein. Vielleicht war sie wirklich verrückt, wie die Mädchen behaupteten. Alles begann, sich um sie zu drehen.

Maria trat dicht an Hannah heran.

»Du hast den Reichsminister Goebbels beleidigt. Dafür wird dich der schwarze Mann holen.«

»An den glaubst du?« Hannah lachte, es klang eher wie ein Aufschluchzen. »Den gibt’s doch gar nicht.«

»Ach nein?«, erwiderte Ilsa. »Und ob’s den gibt. Er trägt eine schwarze Uniform. Er fährt durch das Land und sucht die Kinder aus, die eine Meise haben.« Sie tippte sich an die Stirn. »An deiner Stelle hätte ich ganz schön die Hosen voll.«

»Du spinnst ja.« Hannah drängte sich an dem blonden Mädchen vorbei, aber die beiden Jungen in ihren Uniformen traten ihr in den Weg. Sie schwankte und suchte Halt. Ihre Hand griff ins Leere.

»Gleich kippt sie um.« Koschka torkelte gespielt, stolperte und fiel auf den Hosenboden.

»Zeig mal, was du kannst.«

Kretz warf einen abschätzenden Blick auf die Mauer. Sie war brüchig und etwa drei Meter hoch. Die anderen Jungen grinsten.

»Ja, flieg uns was vor, verrückte Hannah!«, riefen sie im Chor.

»Lasst mich in Ruhe.«

Hannah drehte sich um und versuchte, den Jungen zu entkommen, die sie zur Ruine drängten. Ihr blieb keine Wahl, sie musste auf die frei liegenden Fundamente steigen. Vor ihr ragte die ehemalige Außenwand der Synagoge wie die Treppe eines Riesen in die Höhe.

Koschka zog eine Holzlatte aus dem Schutt und stocherte nach Hannahs Beinen. Sie floh auf die nächste unregelmäßige Stufe. Bald konnte er sie mit der Latte nicht mehr erreichen und begann, mit Steinen nach Hannah zu werfen. Sofort beteiligten sich die anderen.

Die meisten flogen an ihr vorbei, einer traf sie am Knie, ein zweiter an der Schläfe. Es tat weh, doch die Scham und die Angst waren schlimmer. Verzweifelt suchte sie Schutz und kletterte weiter die Mauer hinauf. Von hier oben war immer noch niemand auf dem Börneplatz zu sehen, niemand scherte sich um Jungen in HJ-Uniformen, die eine Jüdin mit Steinen bewarfen. Das scharfkantige Bruchstück eines Ziegelsteins traf sie an der Wade und hinterließ einen Riss, Blut quoll aus ihm hervor. Sie biss die Zähne zusammen und verbarg ihren Schmerz.

Je höher Hannah stieg, desto mehr verstärkte sich die Finsternis an ihren Augenrändern und verengte ihr Blickfeld. Zweimal strauchelte sie und wäre fast gestürzt. Eine Handvoll Kieselsteine prasselte gegen die Mauer und traf sie an Schulter und Kopf.

»Flieg, verrückte Hannah!«, kreischte Koschka.

Auf der innen liegenden Mauerseite ragte ein Sandhügel empor. Er konnte ihre Rettung bedeuten, doch sie traute sich nicht zu springen. Von hier oben sahen Maria und Ilsa winzig aus, nicht größer als Spielzeugfiguren. Koschka starrte sie mit weit aufgerissenen Augen an, das vor Anstrengung feuerrote Gesicht zu einer Grimasse der Wut verzerrt. Hannah hatte ihre Mutter oft gefragt, warum so viele Leute die Juden hassten, obwohl sie bis vor wenigen Jahren einträchtig Tür an Tür mit ihnen gelebt hatten. Sie hatte geantwortet, dass die Nazis das Böse in den Menschen an die Oberfläche zerrten, bis es die Kontrolle übernahm.

Hannah blickte auf die schreienden Jungen hinab, selbst Ilsa und Maria sammelten eifrig Steine und machten bei dem grausamen Spiel mit. Malisha hatte recht.

Ein flacher Stein traf sie hinter dem Ohr. Der Schmerz zwang sie in die Knie. Das Geschrei dröhnte in ihren Ohren und vermischte sich mit der Erinnerung an Pilz’ Gebrüll.

Hannah verdrehte die Augen und fiel. Sie spürte den Wind, der ihr Haar durcheinanderwirbelte und hoffte, dass der Sandhügel ihren Sturz auffing. Dann kehrte die fugenlose Dunkelheit zurück.

3

Hannah kam zu sich, die Welt nahm Konturen, Farben und Geräusche an. Es war wieder geschehen, so schnell hintereinander wie noch nie.

Malisha saß neben ihr auf der Bettkante und strich ihr über das Haar. Wie schön sie war. Ob sie eines Tages genauso schön sein würde? Und ob es wirklich stimmte, was die Leute über ihre Ähnlichkeit sagten?

»Wo bin ich?«, fragte sie.

»Zu Hause. Alles wird gut.«

Malisha tauchte einen Waschlappen in eine Schüssel, wrang ihn aus und legte ihn auf Hannahs Stirn. Er linderte den Schmerz, der in ihren Schläfen pochte.

»Wie bin ich hierhergekommen?«

»Joschi hat dich gefunden«, antwortete Malisha.

Hannah reckte den Kopf und ließ ihn gleich wieder zurück auf ihr Kissen sinken, denn die Bewegung löste heftigen Schwindel aus. Joschi stand neben der Tür zur Diele. Er trat von einem seiner großen Füße auf den anderen und knetete die blaue Schiebermütze, die er bei jedem Wetter trug. Er schaute noch besorgter drein als Malisha.

»Joschi war auf dem Weg zur Pagode und fand dich vor der Synagoge. Was ist denn nur passiert?«

»Ich weiß es nicht mehr.«

Ein Schleier lag über ihrer Erinnerung, nur langsam tauchten Gesichter und Namen auf … Pilz, Bertholds Büro, Koschka und die frechen Mädchen.

»Hast du Schmerzen?«

»Im Kopf. Alles dreht sich.«

Joschi schob die Mütze über sein spärliches Haar und gestikulierte wild. Mühsam folgte Hannah der Gebärdensprache. Er sprach nicht mehr, seit er vor einem Jahr von der Gestapo verhaftet worden war. Sechs Wochen nach seiner Festnahme hatte Malisha ihn halb tot aus dem Main gezogen, seitdem wich er nicht mehr von ihrer Seite. Niemand wusste, warum er verhaftet worden war und was er hatte erleiden müssen. Joschi gehörte auf eine selbstverständliche Weise zu ihnen. Zusammen waren sie die Familie, die Hannah sich wünschte. Genauso wie er Malisha beschützte, würde er auch für Hannah alles tun.

Joschi verdingte sich als Rausschmeißer in der Pagode, einem Nachtklub im Bahnhofsviertel. Die Arbeit fiel ihm leicht, denn die meisten Menschen fürchteten sich vor ihm. Man konnte nicht übersehen, dass er hässlich war. Von den Misshandlungen der Gefängniswärter hatte er Narben davongetragen, die ihn entstellten. Sein dünnes Haar war weiß, obwohl er die dreißig kaum überschritten hatte. Nur selten musste er seine Fäuste einsetzen, wenn es in der Pagode Ärger gab. In der Regel reichte es, wenn die Leute im schummrigen Licht sein vernarbtes Gesicht erblickten. Einmal hatte Hannah seinen nackten Oberkörper gesehen. Brust und Rücken waren mit Striemen übersät, die sich weiß von der dunklen Haut absetzten. Narben, die nur furchtbare Prügel hinterließen. Hannah fühlte sich sicher, wenn Joschi in der Nähe war. Über das Furcht einflößende Zähnefletschen, mit dem er Randalierer im Nachtklub abschreckte, musste sie jedes Mal lachen. Und er lachte mit. Sie hatte niemals erlebt, dass er jemandem ernstlich wehtat.

Mühsam entzifferte sie seine Taubstummengesten. Doktor, deutete er an.

»Joschi hat recht«, sagte Malisha.

»Es ist doch gar nichts geschehen. Es geht mir gut«, log Hannah.

»Du bist heute zweimal ohnmächtig geworden.«

»Aber …«

»Ich weiß, was in der Schule passiert ist. Direktor Berthold hat mich im Laden angerufen.«

Hannah richtete sich mühsam auf. Ihr war übel, das Zimmer drehte sich um sie. Als sie sich auf der Sofalehne abstützte, zuckte sie zurück und bemerkte Schürfwunden an ihren Handballen. Sie mussten von dem Sturz stammen.

Malisha tauchte den Lappen in die Schüssel. »Wer waren die anderen Kinder?«

»Welche Kinder?«

»Die, die mit Steinen nach dir geworfen haben. Joschi hat sie verjagt. Du hattest Glück, dass er ausnahmsweise den Weg über den Börneplatz genommen hat.«

»Sie sind mir nachgelaufen, weil … weil ich …«

»Weil du vor der Klasse ohnmächtig geworden bist«, beendete Malisha den Satz. »Sie haben dich verspottet.«

Sie gab Joschi einen Wink. Er hob Hannah hoch, als wöge sie nicht mehr als eine Feder. Dabei zeigte er sein fürchterliches Zahnlückenlächeln. Sie barg den Kopf an seiner breiten Brust. Die schrecklichen Ereignisse der vergangenen Stunden verblassten für einen Moment.

»Wir gehen zu Dr. Blumberg«, sagte Malisha.

Joschi schüttelte den Kopf.

»Ich weiß, er darf nicht mehr praktizieren, aber niemand kann mir verbieten, ihn zum Tee zu besuchen, nicht wahr?«

Er zuckte mit den Schultern und nickte. Geschickt wickelte er Hannah in eine Wolldecke, ohne sie abzusetzen, und trug sie die Treppe hinunter.

Eine Viertelstunde später klopfte Malisha an eine mit weißer Farbe beschmutzte Hinterhoftür. Die ungelenke Schmiererei zeigte die Karikatur eines Mannes mit übertrieben großer Nase – einen Juden mit hässlicher Fratze. Überall im Viertel gab es inzwischen solche Zeichnungen. Es war sinnlos, sie abzuwaschen, denn am nächsten Morgen waren sie wieder da. Hannah fand sie schlecht. Sie brachten niemanden zum Lachen. Sie wusste, dass sie treffsicherer zeichnen konnte – einen Ziegenbock mit Goebbels’ Gesicht zum Beispiel.

Dr. Blumberg war ein kahlköpfiger Mann um die sechzig mit Hängebacken und feuchten Augen. Er lächelte, als er Hannah sah. Er lächelte immer, egal wie schlecht es stand; sie hatte ihn niemals ernst erlebt. Als sie klein gewesen war, hatte er ihr mit seinen Späßen die unangenehmsten Untersuchungen erleichtert. Sie vertraute ihm, trotzdem hatte sie Angst. Etwas war in ihrem Kopf und es gehörte nicht dorthin.

Der Doktor bat sie in seine Wohnung, die nur aus einem Wohn- und Schlafraum mit niedriger Decke und einer winzigen Küche bestand. Die Toilette befand sich im Treppenhaus auf halber Höhe zwischen dem ersten und zweiten Stock.

Joschi legte Hannah behutsam auf einem zerschlissenen Sofa ab. Blumberg klappte den Deckel einer Holztruhe auf und nahm ein Stethoskop heraus. Hannah bemerkte die hochgezogene Augenbraue ihrer Mutter und den fragenden Blick.

Der Doktor seufzte. »Sie haben mir meine Arzttasche abgenommen. Ich konnte nicht viel retten. Nun muss es eben so gehen.« Er wandte sich an Hannah. »Na, wo fehlt’s denn, Kleines?«

»Ich werde im März fünfzehn«, empörte sie sich.

»Wie die Zeit vergeht. Mir ist es, als wär’s gestern gewesen, dass ich dir auf die Welt geholfen habe.«

»Sie ist ohnmächtig geworden und kann sich an nichts erinnern«, erklärte Malisha.

Blumberg legte eine Manschette um Hannahs Oberarm, pumpte sie auf und maß ihren Blutdruck. Dann horchte er Brust und Rücken ab, anschließend leuchtete er mit einer kleinen Lampe in ihre Augen.

»Und was geschah, bevor du ohnmächtig wurdest?«, fragte er.

»Mir war schwindelig, alles hat sich gedreht. Es ist, als ob ich durch einen Tunnel blicke. Dann wird es dunkel. Ab und zu blitzt es.«

»Mmh. Das Licht erscheint dir grell, nicht wahr? Und jedes Geräusch schmerzt in den Ohren.«

Hannah nickte.

»Was stimmt denn nur mit ihr nicht?« Malisha klang besorgt.

»Wie ist das genau, wenn dir schwarz vor den Augen wird«, fragte Blumberg, »wie fühlt sich das an?«

»Als ob ein Gewitter in meinem Kopf tobt.«

»Nach ein paar Sekunden wird sie wach«, erklärte Malisha, »einmal hat es fast eine Minute gedauert. Ich bin fast gestorben vor Angst.«

»Träumst du wild?«, fragte der Doktor.

»Ja, manchmal. Wenn ich dann aufwache, bin ich nicht richtig wach. Es ist, als ob ich in Pudding oder Sirup feststecke.«

Blumberg schmunzelte. »Ein guter Vergleich. Und du fürchtest dich, weil alles, was du siehst und hörst, sich anfühlt, als wäre es hinter einer Glasscheibe. Du kannst niemanden erreichen, so sehr du es versuchst.«

»Ja.«

Malisha lief auf und ab, setzte sich auf einen Stuhl und sprang gleich wieder auf. »Als sie klein war, ging es manchmal nächtelang so. Heute passiert es nicht mehr so oft. Das ist doch ein gutes Zeichen, oder?«

»Kommen Sie bitte mit, Frau Bloch.«

Malisha folgte dem Doktor in die Küche. Hannah konnte sehen, dass er etwas auf einen Zettel schrieb. Sie spitzte die Ohren, um der Unterhaltung folgen zu können.

»Ich gebe Ihnen die Adresse eines Spezialisten«, sagte der Doktor.

»Sie glauben, es ist Epilepsie, nicht wahr?«

»Alles weist darauf hin – die Absencen, der Pavor Nocturnus. Oft verliert sich die Erkrankung im Lauf der Jahre. Gibt es in Ihrer Familie Fälle von Fallsucht?«

»Nein, nicht … in meiner«, antwortete Malisha.

»Ich verstehe.«

Malisha senkte die Stimme, bis sie flüsterte.

»Es besteht Meldepflicht für seelische Erkrankungen. Und es gibt Gerüchte, dass sie die Kinder in Anstalten stecken. Sie werden mir Hannah wegnehmen.«

»Vertrauen Sie Dr. Rademann. Er ist ein Freund und wird Hannah niemals melden. Sie müssen die Symptome abklären lassen. Es gibt neue Medikamente, die ihr helfen können.«

»Die kann ich nicht bezahlen.«

Blumberg drückte Malisha den Zettel in die Hand. »Haben Sie Zuversicht. Alles wird gut werden. Fragen Sie Rademann nach Phenytoin. Er wird es Ihnen besorgen.«

Malisha kehrte in das mit Möbeln vollgestopfte Wohnzimmer zurück. Hannah legte schnell den Kopf auf das Kissen und blickte zu Joschi hinüber. Er stand unbeweglich neben der Eingangstür. Er würde niemals zulassen, dass man sie in eine Anstalt brachte.

Marias Worte kamen ihr in den Sinn. »Der schwarze Mann wird dich holen!« Aber das war nur eine Lüge gewesen, um ihr Angst einzujagen. Joschi würde sie beschützen. Vorsichtig hob er Hannah hoch.

»Ich kann alleine gehen.«

Sie versuchte, sich zu befreien. Joschi grinste, schüttelte den Kopf und wiegte sie wie einen Säugling.

»Sagen Sie, Jakob schickt Sie, dann wird man Sie rasch vorlassen«, sagte Blumberg.

Joschi trug Hannah die Stufen hinab. Sie hatte Malisha noch nie so verängstigt gesehen.

4

Das Columbushaus am Potsdamer Platz war ein modern anmutendes, beinahe futuristisches Bürogebäude. Lubeck war von der hoch aufragenden, fast vollständig verglasten Fassade beeindruckt. Seine Heimatstadt Würzburg war kein Dorf, konnte sich mit Berlin jedoch nicht messen. Berlin, das bedeutete eine Fülle an Möglichkeiten, Abenteuer und eine strahlende Zukunft, ein Tor zur Welt, das sich für ihn öffnen sollte.

Er stieg aus dem Fond des Maybach und legte den Kopf in den Nacken. In den vergangenen Tagen hatte er so viele imposante Bauwerke und Monumente gesehen, dass ihm von der schieren Größe der Stadt schwindelig war. Hier also sollte sich sein weiterer Lebensweg entscheiden. Beim Anblick des mit Hakenkreuzfahnen beflaggten Platzes glaubte er beinahe an das Gerede seines Vaters. Vor Lubecks Abreise hatte er wieder von Vorsehung und der Führungsrolle der deutschen Rasse gefaselt. Nun glaubte er selbst zu spüren, dass etwas Großes bevorstand, an dem er teilhaben durfte. Ja, das er sogar mitbestimmen durfte.

»Nun kommen Sie schon, Lubeck. Oder wollen Sie hier Wurzeln schlagen? Ihr alter Herr hat mich gewarnt, dass Sie ein Träumer sind.« Werner Heyde lachte, schlug ihm auf die Schulter und schob ihn auf den Eingang des Columbushauses zu. »Na, wir werden Ihnen die Flausen schon austreiben«, fuhr er fort. »Hier beginnt der Ernst des Lebens, große Aufgaben erwarten Sie, der Führer braucht jeden Mann.«

Lubeck lächelte und murmelte etwas von Überwältigung angesichts des historischen Augenblicks – Phrasen voller Superlative, von denen er wusste, dass sie bei Leuten wie Heyde gut ankamen.

Er kannte den Mann kaum, der seine Zukunft entscheidend mitbestimmen sollte. Sein Vater hatte Heyde an die Universität nach Würzburg geholt, wo er an den wissenschaftlichen Veröffentlichungen Hermann Lubecks mitgearbeitet hatte. Heyde besaß einen messerscharfen Verstand und einen ebenso bezwingenden Charme, mit dem er den Alten um den Finger gewickelt hatte. Eben diese Zielstrebigkeit und Klarheit war es, die Heyde ihm voraushatte.

Schnell war Lubeck klar geworden, warum ihn sein Vater nach Berlin geschickt hatte. Heyde besaß beste Kontakte zur Kanzlei des Führers und kannte Gott und die Welt. Um Karriere zu machen, konnte es keinen besseren Mentor geben.

Trotzdem empfand Lubeck das vertraute Gefühl der Demütigung. Sein Vater traute ihm nicht zu, sich allein durchzusetzen und eine Laufbahn als Psychiater aufzubauen. Also hatte er Heyde beauftragt, ihn in die höchsten Berliner Kreise einzuführen. Im Gegenzug teilte er den Ruhm seiner zweifelhaften Veröffentlichungen auf dem Gebiet der Psychiatrie und Rassenkunde mit Heyde, was für sich genommen schon erstaunlich war. Der Alte war eitel, überheblich und beanspruchte alle Aufmerksamkeit für sich. Nichts machte ihm mehr Vergnügen, als im Rampenlicht zu stehen.

Seit drei Tagen hetzten sie von Termin zu Termin. Heyde schleppte ihn hinter sich her wie einen Kofferträger – eine Funktion, die er zuweilen tatsächlich erfüllen musste. Vom Anhalter Bahnhof war es im Eiltempo zur Tiergartenstraße Nummer 4 gegangen. Lubeck hatte erfahren, dass das geheime Projekt, an dem er mitarbeiten sollte, seinen Namen T4 eben jener Adresse verdankte. Von hier aus waren sie in die Reichskanzlei gestürmt, wo sich Heyde alle Türen von selbst öffneten. Man stellte ihnen einen eleganten Maybach nebst Fahrer zur Verfügung, und Lubeck fand kaum Zeit, Luft zu holen, da stoppten sie schon am Potsdamer Platz. Hier sollte er endlich erfahren, was die Zukunft für ihn bereithielt.

Für die Organisation von T4 hatte man im Columbushaus mehrere Büros und Besprechungsräume angemietet. Vor ihm öffnete sich eine Doppeltür, die in einen kleinen Saal führte. Lubeck zählte über zwanzig Männer, teils in den schwarzen Uniformen der SS, teils in Zivil. Sie standen in lockeren Gruppen zusammen, es roch nach Zigarrenrauch, Cognac und Kaffee. Er war 1932 selbst in die SA eingetreten und hatte es nach dem Röhm-Putsch bis zum SS-Untersturmführer gebracht. Der affige Pomp begeisterte ihn wenig, er sah seine Mitgliedschaft lediglich als Mittel zum Zweck. Was ihn dagegen faszinierte, war die Macht, die mit den Privilegien der SS einherging.

Ein Mann mit dunklem, streng gescheiteltem Haar und Hitlerbärtchen begrüßte sie. Heyde stellte ihn als Dr. Irmfried Eberl vor, Direktor der Anstalt in Brandenburg. Eberl machte sie mit den Anwesenden bekannt. Heyde schien die meisten zu kennen und organisierte Cognac. Während er den Branntwein hinunterstürzte, nippte Lubeck nur daran. Er vertrug keinen Alkohol und brauchte seine volle Konzentration.

Schüchtern schüttelte er Hände und versuchte, sich Namen und die dazu passenden Gesichter zu merken – hochrangige Parteimitglieder, die er nur vom Hörensagen kannte. Darunter der verkniffen dreinschauende Viktor Brack, Oberdienstleiter der Kanzlei des Führers Amt 2, und Philipp Bouhler, enger Vertrauter von Hitler und Leiter der geheimnisvollen Aktion T4.

Lubeck schüttelte die schlaffe Hand von Werner Blankenburg, Bracks Vertretung, und begrüßte ehrfürchtig Karl Brandt, den chirurgischen Begleitarzt des Führers. Die Namen der Psychiater und promovierten Ärzte vergaß er so schnell, wie sie genannt wurden – von Hegener, Conti, Linden, Ernst Baumhard und andere. Wozu mochte diese außergewöhnliche Versammlung von Akademikern dienen? Lubeck fühlte sich gehemmt. Er hatte keine Ahnung, was von ihm erwartet wurde. Angesichts der Prominenz war ihm klar, dass seine Laufbahn als Mediziner enden würde, bevor sie begonnen hatte, falls er hier versagen sollte.

Philipp Bouhler klopfte mit den Fingerknöcheln auf die Tischplatte. Als Chef der KdF eröffnete er die Zusammenkunft.

»Meine Herren, Obersturmführer Blankenburg wird Ihnen nun im Einzelnen erläutern, was von Ihnen erwartet wird. Im Anschluss darf ich Sie zu Tisch bitten, für das leibliche Wohl ist selbstverständlich gesorgt. Außerdem wartet da noch eine kleine Vorführung auf Sie, damit Sie sehen, wie die Aktion in der Praxis durchgeführt werden wird.«

»Na, mit deutscher Gründlichkeit, hoffe ich doch«, dröhnte jemand. Die Bemerkung rief allgemeines Gelächter hervor.

Lubeck lachte mit, um seine Anspannung zu lösen. Er schien der Einzige im Raum zu sein, der nicht locker war. Schwatzend und scherzend nahmen alle an den T-förmig aufgestellten Tischen Platz. Bouhler, Brandt und Brack saßen an der Kopfseite, Blankenburg in ihrer Mitte. Er sortierte Unterlagen und begann mit seinen Einführungen.

»Es sind verschiedenste Maßnahmen zur Aufartung des deutschen Volkes unternommen worden, die sich in der Summe aber als unzureichend erwiesen haben«, leitete er in nasalem Tonfall ein. »Aufbauend auf den großartigen Grundsatzwerken zur Rassenhygiene von Hermann Lubeck – und ich freue mich, dass sein Sohn Joachim in seine Fußstapfen tritt und heute anwesend ist – darf ich sagen, dass wir Methoden entwickelt haben, die es nun in der Praxis zu erproben gilt.«

Alle Augen richteten sich einen Moment lang auf Lubeck. Bei der Erwähnung seines Namens schoss ihm das Blut ins Gesicht, eine Schwäche, der er seit seiner Kindheit hilflos ausgeliefert war. Sein hellblondes Haar verstärkte den Kontrast zusätzlich. Die Blicke von Conti und von Hegener ruhten prüfend auf ihm.

Heyde, der neben Lubeck saß, lehnte sich zu ihm herüber. »Blankenburg liebt Schachtelsätze«, bemerkte er glucksend. »Und er macht es gerne spannend.«

»Das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 1. Januar 1935 ist hier ein erster, wenn auch unvollständiger Schritt, und dennoch eine legitime, brauchbare und notwendige Grundlage, um Schaden vom deutschen Volk abzuwenden.« Blankenburg nahm seine Brille ab und blinzelte. »Nun, wovon reden wir hier? Wir müssen jede Art von vererblicher Geisteskrankheit sowie Alkoholismus und andere Suchtkrankheiten als Gefahr für die Reinheit der arischen Rasse ansehen. Wir befinden uns im Krieg, der Feind ist mitten unter uns. Der Vermischung des deutschen Volkskörpers mit minderwertigem Erbgut wird durch das oben genannte Gesetz begegnet, aber das reicht nicht aus. Unser Führer und Reichskanzler Adolf Hitler hat somit in weiser Voraussicht Reichsleiter Philipp Bouhler und Dr. Karl Brandt damit beauftragt, die Befugnisse namentlich zu bestimmender Ärzte dergestalt zu erweitern, dass nach menschlichem Ermessen unheilbar Kranken bei kritischster Beurteilung ihres Krankheitszustandes der Gnadentod gewährt werden kann. Dazu installieren wir ein System, um Volksschädlinge frühzeitig zu erkennen und auszusondern. Kommen wir nun zur praktischen Durchführung und Organisation.«

Lubeck versuchte, das Gehörte zu verarbeiten. Es hatte bereits Gerede gegeben. Er hatte Statistiken von Heilanstalten und psychiatrischen Einrichtungen studiert, die eine signifikante Zunahme an Todesfällen aufwiesen. Was er geahnt hatte, wurde in diesem Moment zur Gewissheit. Wen die Nazis als krank oder unbrauchbar einstuften, der sollte vom Erdboden getilgt werden.

»Endlich hat man sich in der KdF zu einem entschlossenen Handeln durchgerungen«, raunte Heyde ihm ins Ohr. »Das ist die Gelegenheit für Sie, Ihrer Karriere einen ordentlichen Schub zu verpassen.«

Lubeck nickte stumm. Ein Schweißtropfen rann kitzelnd an seinem Rückgrat herab.

»Eine vernünftige Sache ist das«, murmelte Heyde, »und längst überfällig dazu. Denken Sie nur, welche immensen Kosten so ein Schwachsinniger erzeugt – das Essen, die Unterbringung, Medikamente, die das Leiden nur verlängern.«

Blankenburg erklärte die Mechanismen hinter der Aktion T4. Lubecks Aufgabe würde es sein, Patienten zu begutachten und Meldebogen auszufüllen. Mit anderen Worten: Er war fortan Herr über Leben und Tod. Das Blut rauschte in seinen Ohren, Blankenburgs Worte drangen kaum bis zu ihm vor.

Bouhler ließ Muster der Meldebogen austeilen. Alles war bis ins Detail durchgeplant worden, und Lubeck würde ein wichtiges Rad im Getriebe dieser Todesmaschinerie sein.

»Haben Sie, meine Herren, als Gutachter ein Urteil über den Patienten gefällt, tragen Sie es hier in dem vorgedruckten schwarzen Kasten ein«, fuhr Blankenburg fort. »Ein Plus bedeutet, der Gnadentod wird gewährt – bitte mit Rotstift vermerken –, ein blaues Minus, und der Patient darf weiterleben. Wenn Sie unsicher sind, genügt ein Fragezeichen, und der Fall wird vorerst zurückgestellt. Sie haben jetzt Gelegenheit, Fragen zum Ablauf zu stellen.«

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Возрастное ограничение:
18+
Дата выхода на Литрес:
25 мая 2021
Объем:
494 стр. 7 иллюстраций
ISBN:
9783839263648
Издатель:
Правообладатель:
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