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»Ich will nicht, dass du mit diesem Mann ausgehst.«

Hannah sah zu, wie Malisha mit einem Kajalstift die Konturen ihrer Augenlider nachzog. Insgeheim bewunderte sie die Art, in der ihre Mutter mit wenigen gezielten Strichen eine große Wirkung erzielte. Sie wünschte sich, sie wäre alt genug, um es selbst zu versuchen. Aber Malisha wollte nicht, dass sie sich schminkte.

»Ich habe es dir doch erklärt, Hannah. Wir können im Augenblick das Land nicht verlassen. Sie haben Heinz, Chang und die anderen verhaftet. Ohne ihre Hilfe komme ich nicht einmal aus der Stadt heraus. Bis mir etwas einfällt, bietet uns Dr. Lubeck den besten Schutz, den wir bekommen können.«

»Er hat gedroht, mich zu sterilisieren. Wie kannst du ihm vertrauen?«

Malisha blickte in den Spiegel, ihre Blicke trafen sich. Sie lächelte. »Hältst du mich für so unvorsichtig? Ich kann den eitlen Kerl nicht ausstehen und traue ihm nicht über den Weg. Aber er will etwas von mir, und so lange er glaubt, dass er es bald bekommen wird, sind wir in Sicherheit.« Sie seufzte und überprüfte mit einem kritischen Blick ihr Erscheinungsbild. »Manchmal muss man Dinge tun, die man nicht will, um ein Ziel zu erreichen.«

»Und wenn er sich mit Gewalt nimmt, was er haben will?«

Malisha drehte sich zu ihr um und fasste sie bei den Schultern. Hannah sog den Duft ihres Parfums ein. Ihre Mutter benutzte Csardas, was sie sehr mochte. Ihre Augen wirkten durch die schwarze Umrandung groß und feucht. Das Weiß kontrastierte wunderbar mit den haselnussbraunen Iris.

»Es ist unsere einzige Chance. Die Amerikaner stellen keine Visa mehr aus, und auch die Engländer lassen keine Emigranten mehr ins Land.«

»Warum gehen wir nicht in dein Heimatland? Nach Palästina?«

»Ich bin in Deutschland geboren, Hannah. Ich kenne niemanden dort. Außerdem ist Palästina britisches Mandatsgebiet.«

»Dann gehen wir zu meinem Vater. Er wird uns helfen. Er ist Pilot, er kann uns überall hinbringen.«

»Wenn es nur so einfach wäre.«

Malisha streifte die schwarze Jacke mit dem Zobelkragen über. Hannah hatte nur zweimal erlebt, dass sie das kostbare Kleidungsstück getragen hatte.

Ihre Mutter hauchte ihr einen Kuss auf die Wange. »Spätestens gegen Mitternacht bin ich zurück. Öffne niemandem die Tür.«

»Wenn wenigstens Joschi hier wäre.«

Auf Malishas Stirn erschien eine Sorgenfalte. »Ich habe seit zwei Tagen nichts von ihm gehört. Ich hoffe, er konnte sich in Sicherheit bringen.« Sie sah auf ihre Armbanduhr. »Lubeck wird gleich kommen. Ich gehe hinunter.«

»Ich mag ihn nicht, und ich habe Angst um dich«, beharrte Hannah.

»Ich kann auf mich aufpassen. Leg die Kette vor, wenn ich draußen bin.«

»Sag mir wenigstens, wo ihr hingeht.«

»Ich weiß es nicht. Er hat es mir nicht verraten.«

Malisha trat in das Treppenhaus, in dem es nach Kohl und Bohnerwachs roch, und schloss die Wohnungstür hinter sich. Sie lügt, dachte Hannah. Malisha lügt, weil sie mich beschützen will. Aber diesmal bin ich diejenige, die auf sie aufpassen muss.

Sie lief ins Wohnzimmer und spähte durch einen Spalt in der Gardine. Ihre Mutter hatte sie aus einem schweren, steifen Stoff genäht, damit kein Licht nach außen drang. Sie war vorsichtig geworden, misstrauisch gegenüber Fremden und ängstlich in der Dunkelheit. Nicht nur die kalte Januarnacht war mondlos und schwarz, auch die Zeit, in der sie lebten, war finster.

Sorgenvoll beobachtete Hannah die Straße. Eine schwarze Limousine hielt vor dem Haus. Malishas Silhouette erschien im Lichtkegel einer Straßenlaterne. Der Fahrer stieg aus, umrundete den Wagen und öffnete die Beifahrertür. Lubeck hob den Kopf und starrte zum Fenster herauf, als wüsste er genau, dass Hannah hinter dem Vorhang stand und ihn nicht aus den Augen ließ. Im Licht der Laterne schien sein ausdrucksloses Gesicht bleich und wächsern.

Malisha stieg ein, Lubeck schloss die Tür, und der Wagen fuhr los.

Hannah nahm ihren Mantel vom Garderobenhaken und stülpte eine Wollmütze über das Haar. Dann steckte sie den Zweitschlüssel der Haustür ein, eilte die Stufen hinunter und lief auf die Straße. Sie musste Joschi finden. Er würde auf Malisha aufpassen, ihm fiel immer etwas ein, was man tun konnte.

Sie wusste, dass Malishas Freunde nach dem Brand in der Pagode einen neuen Treffpunkt vereinbart hatten, eine unauffällige kleine Kneipe, nicht weit von dem zerstörten Nachtklub entfernt. Wenn sie sich beeilte, könnte sie in einer Viertelstunde dort sein. Die frostige Luft brannte bei jedem Atemzug in ihren Lungen, aus dem Nachthimmel segelten winzige Schneekristalle.

Hannah hielt den Kopf gesenkt, benutzte Nebenstraßen, wenn sie keinen großen Umweg bedeuteten, und näherte sich langsam ihrem Ziel. Ein vierzehnjähriges Mädchen hatte zu dieser Uhrzeit auf den Straßen Frankfurts nichts zu suchen und musste unweigerlich Aufmerksamkeit erregen – was sie unter allen Umständen vermeiden wollte.

Atemlos erreichte sie den Platz, auf dessen Nordseite sich die Pagode befunden hatte. Verkohlte Dachbalken ragten wie faule Zahnstümpfe in den Nachthimmel, leere Fensteröffnungen gähnten in der von Rauch und Feuer geschwärzten Fassade. Die Braunhemden hatten das Haus bis auf die Grundmauern niedergebrannt.

Hannah glaubte, die Hitze des Feuers noch zu spüren. Je näher sie der Ruine kam, desto stärker wurde der Brandgeruch. Sie blickte sich suchend um. Mehrere Gassen zweigten von dem Platz ab, in denen es ein Dutzend Kneipen gab. Ihr überhasteter Plan drohte zu scheitern, weil sie nicht einmal den Namen des Lokals kannte, ihre Beine waren schneller als ihr Kopf gewesen. Wo sollte sie Joschi in diesem Labyrinth finden?

Vorsichtig wagte sie sich in eine der Gassen hinein. Aus einer Gastwirtschaft drangen laute Stimmen und Musik und übertönten die Gefahr, die ihr drohte. Hannah spürte eine schwielige Hand auf ihrem Mund. Jemand zog sie in das Dunkel der Durchfahrt und hielt sie fest. Instinktiv versuchte sie, sich zu befreien, trat um sich und griff nach der Hand, die sie zu ersticken drohte.

»Schsch«, machte eine heisere Stimme.

Die Hand löste sich von ihrem Mund, der Unbekannte drehte sie um und tätschelte ihren Rücken.

»Joschi!«

Sein linkes Auge war blutunterlaufen, ein tiefer Kratzer zog sich von der Braue bis zum Ohr. Im Halbdunkel sah er zum Fürchten aus. Offenbar war es ihm gelungen, der SA um Haaresbreite zu entkommen.

Er legte einen Finger an die Lippen und deutete auf den Platz hinaus. Aus der Kneipe quoll ein Haufen Braunhemden. Sie waren betrunken, grölten und sangen laut und falsch. Joschi musste sie schon vorher gesehen haben. Hätte er nicht so schnell reagiert, wäre die Horde über sie hergefallen.

Er tippte ihr spielerisch an die Schulter.

Was machst du hier?

»Ich habe dich gesucht. Und du?«

Beobachten, signalisierte er. Ich suche Chang und die anderen.

Aus Hannah sprudelten die Ereignisse hervor, von denen er nichts wissen konnte. Als er den Namen Lubeck hörte, verdüsterte sich seine Miene.

»Bitte. Du musst Malisha suchen. Ich habe Angst um sie.«

Nachdenklich rieb er sich das Kinn. Dann drehte er sich im Kreis und sah Hannah fragend an.

Wo sind sie hingegangen?

»Ich weiß es nicht. Bitte, du musst sie finden.«

Joschi hob beruhigend die Hände und deutete an, dass Hannah nach Hause gehen solle.

»Kann ich nicht mitkommen?«

Er schüttelte entschieden den Kopf und schob sie sanft von sich.

Geh jetzt! Ich werde sie suchen.

Er streckte den Kopf aus der Toreinfahrt und schnüffelte in der kalten Luft wie ein Terrier, der Beute witterte. Die Braunhemden waren fort.

Hannah machte sich auf den Rückweg. Sie drehte sich noch einmal um und sah, dass Joschi im Eilschritt über den großen Platz lief. Er hatte viele Freunde und kannte eine Menge Leute, die bereit waren, ihm zu helfen. Er würde Malisha finden und beschützen. Er musste einfach.

Zwanzig Minuten später betrat sie die Wohnung im ersten Stock des Mietshauses. Da sie ohnehin nicht schlafen konnte, erwärmte sie in einem Kessel auf dem Gasherd Wasser und bereitete Tee zu, um die Kälte der Winternacht zu vertreiben. Dann setzte sie sich in den Sessel neben dem Fenster und wartete, den Zeiger der Standuhr im Blick.

Früher hatten sie einen Volksempfänger besessen, abends hatten sie Musik gehört und dazu getanzt. Malisha war eine gute Tänzerin und brachte ihr alles bei, was sie wissen musste, und Hannah erwies sich als gelehrige Schülerin. Sie mochte Foxtrott, den neuen Boogie und vor allem Swing. Wie alles, was nicht Einförmigkeit und stupides Marschieren erforderte, hatten die Nazis die Negermusik verboten. Dennoch, oder vielleicht gerade deshalb, breitete sie sich in den Nachtklubs und Tanzlokalen ungehindert aus.

Vor vier Monaten hatten sie den Juden den Besitz eines Radios verboten. Wer seinen Apparat nicht freiwillig abgab, musste damit rechnen, dass er konfisziert wurde. Empfindliche Geldstrafen waren die Folge. Hannah summte eine Melodie, die ihr in den Sinn kam. Der Minutenzeiger kroch dahin, und irgendwann zwischen elf und Mitternacht schlief sie ein.

Eine Stunde später schreckte sie aus dem Schlaf hoch. Die Standuhr zeigte 00.45 Uhr an. Aus dem Laden, der sich im Erdgeschoss unmittelbar unter der Wohnung befand, drang Lärm. Ein schwerer Gegenstand wurde umgeworfen, ein dumpfes Klopfen, ein Scharren und Stoßen folgte. Glas zerbrach klirrend. Hannah hielt den Atem an und lauschte, ihr Herz klopfte aufgeregt gegen die Rippen. Wahrscheinlich zogen die Braunhemden durch die Straßen, um die wenigen jüdischen Geschäfte und Einrichtungen zu attackieren, die ihnen bis jetzt entgangen waren. Sie lief zum Fenster und spähte durch einen Spalt in der Gardine. Draußen war alles ruhig, niemand grölte oder schrie Naziparolen. Auch konnte sie keinen Fackelschein erkennen.

Wieder grollte ein schweres Rumpeln durch den Laden, die Teetasse klirrte auf dem Porzellanuntersetzer. Seit Wochen waren Einbrecherbanden unterwegs, die jüdische Läden, Handwerksbetriebe und Wohnungen ungestraft ausräumten. Sie gaben sich nicht einmal mehr Mühe, ihr Treiben zu verheimlichen, denn niemand kümmerte sich darum. Die Polizei zu alarmieren war sinnlos, kein deutscher Beamter würde einen Finger rühren, um ein jüdisches Geschäft zu schützen.

Vielleicht war es Malisha, und sie schwebte in Gefahr. Hatte Joschi sie nicht finden können? Die Stadt war groß. Aber wenn ihre Mutter den Krach verursachte, war sie sicher nicht allein. War Lubeck mit ihr unten im Laden?

Seit ihrem Zusammenbruch in der Schule begleitete Hannah eine ständige Furcht. Sie brodelte mal stärker, mal schwächer in ihrem Bauch. Niemals verschwand sie ganz. Wurde sie zu mächtig, kehrte der Schwindel zurück und sie torkelte am Rand einer Ohnmacht dahin. Seit sie den Namen der Krankheit kannte, die sich in ihrem Kopf eingenistet hatte, kämpfte sie verbissen gegen die Phasen drohender Bewusstlosigkeit an. Vor ein paar Tagen war Malisha mit ihr noch einmal zu Dr. Blumberg gegangen. Er hatte ihr erklärt, dass Aufregung und Angst die Attacken verstärken konnten; und genau das geschah in diesem Moment mit ihr.

Hannah kniff sich in den Arm, bis der Schmerz für kurze Zeit die aufkommende Panik verdrängte. Manchmal funktionierte dieser Trick.

Leise zog sie die Vorlegekette aus der Sicherungsschiene der Wohnungstür. Dann schlüpfte sie durch den Türspalt und schlich auf Zehenspitzen nach unten, ohne das Licht anzuschalten. Sie zählte die Stufen und achtete auf die dritte und achte, die laut knarrten, wenn man auftrat. Schließlich stand sie im Korridor, der durch ein kleines Stofflager zur Hintertür des Schneiderladens führte. Durch den Türspalt fiel Licht in den Flur, ein schwerer Gegenstand kippte im Laden um und fiel zu Boden. Weicher Stoff schien das Poltern zu dämpfen. Das Licht unter der Tür flackerte, verlosch und flammte wieder auf. Die Aufregung schärfte Hannahs Sinne. Jemand schrie leise auf, rang nach Luft, es klang gequält und schmerzvoll. Malisha!

Die Tür zum Laden war unverschlossen. Ohne sich zu erinnern, wie sie hierhergelangt war, stand Hannah in dem kleinen Lagerraum. Der vertraute, trockene Geruch von Stoffen und Wolle kroch in ihre Nase. Sie durchquerte den Raum und schob vorsichtig die Tür zum Laden auf. Stoffballen waren aus ihren Fächern gezerrt worden und lagen ausgerollt und zerknüllt auf dem Boden. Zwei Gestalten rangen in dem Durcheinander. Lubeck kniete auf Malisha, presste ihre Arme auf den Boden und versuchte, ihre Beine auseinanderzudrücken. Sein blasses Gesicht war puterrot, die Augen traten ihm aus den Höhlen, Speichel tropfte aus seinem Mundwinkel. Er ließ sich stöhnend nach vorne fallen und presste seinen Mund auf Malishas Lippen. Sie versuchte, sich zu befreien, kam aber gegen seine rohe Kraft nicht an.

Hannahs Herzschlag beschleunigte sich, aus den Augenwinkeln kroch die Schwärze heran wie zähflüssiger Teer. Mechanisch ging sie auf den Tisch zu, auf dem ihre Mutter die Stoffbahnen zurechtschnitt, und griff nach der großen, scharfen Schneiderschere.

Ein Irrenhaus kostet eine Million Reichsmark. Wie viele deutsche Familien könnten von dem Geld eine Wohnung bekommen?, schoss es Hannah durch den Kopf.

»Zweitausendzwölf«, sagte sie laut. Es waren zweitausendzwölf.

Lubeck grunzte und fuhr herum. Überrascht glotzte er sie an und entdeckte die Schere in ihrer Hand.

»Hannah, nein!«, rief Malisha.

Lubeck stieß Malisha auf den Boden zurück und bemühte sich, auf die Beine zu kommen. Ein Lichtreflex blitzte auf der Scherenklinge und stach schmerzhaft in Hannahs Augen. Ihr Arm beschrieb einen Bogen, ohne dass sie ihm befohlen hätte, sich zu bewegen. Auf Lubecks linker Wange erschein wie von Geisterhand ein roter Strich. Er schrie auf, taumelte und presste die Hand auf das Gesicht, zwischen seinen Fingern quoll Blut hervor. Sehr viel Blut. Er jammerte und schluchzte wie ein Kind, das sich die Knie aufgeschlagen hat. Schreiend torkelte er im Laden umher und griff nach einem Stofffetzen, um ihn auf die Wunde zu pressen. Hannah ließ die blutige Schere fallen und verlor das Bewusstsein, gnädige Finsternis umfing sie.

8

Das gleichmäßige Schaukeln erinnerte Hannah daran, wie sie einmal auf einem Ausflugsschiff über den Main gefahren war. Hatte Malisha einen Weg gefunden, Deutschland zu verlassen? Hatten sie sich auf ein Schiff gerettet, das bereits unterwegs nach England war? Dann musste sie lange ohnmächtig gewesen sein.

Nein, ihr wurde klar, dass sie im Sirup steckte. In dem lähmenden Zustand zwischen Wachen und Schlaf zogen verschwommene Bilder von Lubecks blutüberströmtem Gesicht vorbei. Sie hörte Malisha schreien und spürte das Gewicht der Schneiderschere in ihrer Hand. Mühsam versuchte sie, sich von den letzten Schleiern zu befreien und kämpfte sich durch zähe, klebrige Schichten ihres Unterbewusstseins in die Wirklichkeit zurück.

Aus einem verzerrten Winkel nahm sie Joschis vernarbtes Gesicht wahr. Das Schaukeln rührte daher, dass er sie auf seinen starken Armen trug. Sie streckte sich vorsichtig, ihre Muskeln schmerzten und fühlten sich an, als hätte sie bis zur Erschöpfung Säcke mit Briketts für den Ofen in ihre Etagenwohnung geschleppt. Der Anfall musste diesmal sehr schlimm gewesen sein.

»Wo bin ich?«, fragte sie.

Joschi blickte warmherzig auf sie herab und zwinkerte ihr zu. Alles wird gut.

»Tempo, beeil dich«, rief jemand.

Aus dem Augenwinkel sah sie, dass Malisha den roten Reisekoffer in den Kofferraum eines viertürigen Autos schob. Joschi legte Hannah behutsam auf der Rückbank ab und breitete eine Wolldecke über ihr aus. Er schloss die Tür und nahm hinter dem Steuer Platz, Malisha setzte sich neben ihn.

Ehe Hannah Fragen nach dem Ziel stellen konnte, begann die Fahrt. Das eintönige Brummen des Motors und das sanfte Schaukeln wiegten sie bald in einen traumlosen Schlaf. Als Malishas Stimme sie weckte, schien eine Ewigkeit vergangen zu sein.

»Wach auf, Hannah. Wir sind da.«

Es war dunkel, durch das Seitenfenster fiel gelber Lichtschein ins Wageninnere. Joschi steckte den Kopf durch die offene Tür und zeigte sein schrecklich schönes Zahnlückenlächeln.

»Ich kann selbst laufen.«

Hannah schämte sich für die Mühe, die sie den anderen bereitete, biss die Zähne zusammen und kletterte aus dem Fond.

Malisha brachte sie zum Seiteneingang einer kleinen Kirche aus gelben und roten Backsteinen. Durch die Buntglasfenster fiel farbiges Licht auf das Pflaster und malte schillernde Regenbögen in die Pfützen. Die Nacht war bitterkalt, ein böiger Wind fegte mit Eisnadeln und Schneekristallen gemischten Regen über das nasse Kopfsteinpflaster.

Hannah betrat hinter Malisha die Sakristei. Die Tür zum Altarraum stand offen, im Halbdunkel dahinter sprachen zwei Männer erregt miteinander. Der kleinere der beiden gestikulierte eindringlich, während der größere Mann energisch den Kopf schüttelte. Er wandte sich ab und humpelte auf die Sakristei zu, bis seine Silhouette den Türrahmen ausfüllte. Als er ins Licht trat, erschrak Hannah. Sein rechtes Auge war blutunterlaufen, die Unterlippe geschwollen, Kinn und Wangen mit Schürfwunden übersät. Aus einer Platzwunde über der Augenbraue sickerte Blut. Sie hatte genug Opfer der Braunhemden gesehen, um zu erkennen, dass der Mann zusammengeschlagen worden war. Obwohl er hinkte und offensichtlich Schmerzen litt, schien er eine innere Kraft zu besitzen, der die brutalen Schläger nichts hatten anhaben können. Seine aufrechte Haltung strahlte Ruhe und unerschütterliche Zuversicht aus. Er trug eine schwarze Soutane, an der mehrere Knöpfe fehlten, der linke Ärmel war eingerissen.

Joschi umarmte ihn wie einen alten Freund. Neugierig betrachtete Hannah den Priester, der etwa Ende zwanzig war, und vergaß eine Zeit lang ihre eigenen Sorgen. Einem Mann wie ihm war sie nie zuvor begegnet. Er war fast so groß wie Joschi, aber im Gegensatz zu ihm schlank und feingliedrig. Eine Strähne seines dunkelbraunen Haars hatte sich gelöst und hing ihm rebellisch in die Stirn. Vom ersten Augenblick an war Hannah von ihm fasziniert. Sie stellte ihn sich als Prediger auf der Kanzel vor. Es musste jedermann schwerfallen, sich seinem Charisma zu entziehen.

Nachdem er Joschis stürmische Umarmung erwidert hatte, richtete er seine Aufmerksamkeit auf Hannah. Sie blickte verlegen zu Boden.

Malisha drängte sich an ihr vorbei. »Um Himmels Willen, Claudius, was ist passiert?«

Joschi deutete einen Faustschlag an und zupfte an seiner braunen Jacke. Waren das die Schläger der SA?

Der Pfarrer begrüßte Malisha mit einer kurzen Umarmung.

»Es freut mich, Sie wiederzusehen, Malisha. Wenn ich mir auch gewünscht hätte, die Umstände wären erfreulicher. Und was die Braunhemden angeht – diesmal brauchten sie sich die Hände nicht selbst schmutzig zu machen«, sagte er. »Sie haben die Menschen in meiner Gemeinde aufgehetzt, bis sie die Kirche verwüstet haben.«

»Aber warum?«, fragte Malisha.

Er lächelte und zuckte zusammen, als seine verletzte Lippe aufsprang und erneut zu bluten begann. »Ich habe mich geweigert, auf meinem Kirchturm die Hakenkreuzflagge zu hissen.«

Joschi verzog das Gesicht zu einer Grimasse. Das kann böse enden.

»Was hat die Polizei unternommen?«, wollte Malisha wissen.

»Nichts. Sie haben die Leute gewähren lassen.«

»Eine Fahne ist nur ein Stofffetzen. Es lohnt sich nicht, für sie zu sterben. Ihr Widerstand war mutig, aber auch leichtsinnig. Wir müssen vorsichtig sein. Die Zeiten, in denen Sie deren antisemitisches Gedankengut offen im Kirchenblatt kritisieren konnten, sind längst vorbei.«

Brendel lächelte. »Ich denke wehmütig an unsere gemeinsame Zeit zurück, Malisha. Ohne Ihre Hilfe wären die Artikel nie erschienen. Ich gestehe ehrlich, ich vermisse unsere Zusammenarbeit. Aber es geht hier nicht um mich. Diese Kirche gehört nicht Hitler, sie ist Gottes Haus.«

Hannah bewunderte ihn für seine Standhaftigkeit. Kaum jemand wagte es, sich öffentlich gegen die Nazis zu stellen. Wenn es doch mehr Menschen wie ihn gäbe, wenn doch nur genug Leute aufstehen würden, dann könnten sie etwas bewirken.

Malisha stellte sich hinter Hannah und legte ihr die Hände auf die Schultern. »Das ist meine Tochter. Hannah, ich darf dir Claudius Brendel vorstellen, einen sehr mutigen und aufrechten Menschen. Wir kennen uns schon lange, leider haben wir uns in den letzten Jahren aus den Augen verloren.«

Brendel reichte ihr die Hand zur Begrüßung. Sein Händedruck war warm und fest. »Endlich lerne ich dich kennen. Deine Mutter behütet dich wie ein Schatz vor den Gefahren dieser Zeit. Willkommen in meiner bescheidenen Kirche.« Er schaute sich missbilligend um. »Entschuldige die Unordnung. Wenn ich geahnt hätte, dass mich heute Nacht zwei so reizende Damen besuchen, hätte ich vorher aufgeräumt.«

Hannah spürte, dass sie bis in die Haarspitzen errötete. Sie strich sich unsicher eine Strähne aus dem Gesicht und war plötzlich furchtbar nervös.

»Das … das war se… sehr mutig von Ihnen«, stotterte sie.

»Ach was. Die Braunhemden sind allesamt Feiglinge.« Er runzelte die Stirn. »Aber dass sie es schaffen, friedliebende, gläubige Menschen derart aufzuhetzen, bereitet mir Sorge. Ihre Hetze vergiftet selbst Gemeindemitglieder, die ich für standhaft gehalten habe.«

»Was geschieht jetzt mit uns?«, fragte Hannah.

»Wir werden euch an einen sicheren Ort bringen«, antwortete Brendel.

»Zum Glück gibt es noch Geistliche, die nicht gewillt sind, mit den Nazis zu kollaborieren«, sagte Malisha.

Der Spott in ihrer Stimme war nicht zu überhören, sie hielt wenig von Rabbinern oder Priestern.

»Ich weiß, Sie haben nicht nur mit den Nazis schlechte Erfahrungen gemacht, sondern auch mit meinen Amtskollegen«, antwortete Brendel. »Es stimmt, in unseren Reihen gibt es Feiglinge, die ihren Kotau vor den Nazis machen. Aber ich kann dich beruhigen, Hannah. Ich verweigere niemandem meine Hilfe, wenn er ihrer bedarf, deine Mutter weiß das. Das Haus Gottes steht jedem offen, der in Not gerät.«

»Auch den Juden?«

Er lächelte. »Aber warum denn nicht? Irre ich mich, oder war nicht auch Jesus Jude? Und umgab er sich nicht mit Zöllnern und Aussätzigen?«

»Claudius ist ein außergewöhnlicher Mann«, sagte Malisha.

Hannah musste ihr zustimmen. Sehr außergewöhnlich. Sie schämte sich für ihre abgewetzten Schuhe, das vom Schlaf auf der Rücksitzbank zerzauste Haar und den abgetragenen Mantel. Verstohlen versuchte sie, ihre Frisur zu richten.

»Um auf deine Frage zurückzukommen, Hannah«, fuhr Brendel fort, »ich bin über den Ernst eurer Lage im Bilde. Joschi hat mir erklärt, was geschehen ist. Ihr müsst Deutschland so schnell wie möglich verlassen. Lubeck wird bald Anzeige erstatten.«

»Wir haben dafür gesorgt, dass er vorerst nicht reden kann«, sagte Malisha.

Joschi ballte die Fäuste und schnitt eine Grimasse, als hätte er Lubeck am liebsten umgebracht.

»Nein«, sagte Brendel zu ihm, »ihr habt richtig gehandelt. Ihn daran zu hindern, sofort zur Polizei zu gehen, reicht aus. Es verschafft uns den Vorsprung, den wir brauchen. Ihn zu töten, hätte rein gar nichts genutzt, denn ein Mord hätte die Gestapo umso schneller auf eure Spur gebracht. Außerdem wäre es eine große Sünde gewesen, ganz gleich, was er getan hat. Kommt jetzt, wir wollen die Zeit nutzen, die uns bleibt.«

»Joschi hat angedeutet, dass Sie einen Weg kennen, uns zur Flucht ins Ausland zu verhelfen«, sagte Malisha.

Brendel nickte. »Das stimmt. Wir müssen äußerst vorsichtig sein. Dass Lubeck euch auf den Fersen ist, erleichtert die Sache nicht gerade.«

»Sie kennen ihn?«

»Vom Hörensagen. Es gibt Gerüchte über eine Aktion, Kranke und Behinderte aus der Gesellschaft auszusondern, Lubeck soll als Gutachterarzt eine führende Rolle einnehmen. Er selbst ist das kleinere Problem. Ist Ihnen der Name Fritz Brunner geläufig?«

Malisha schüttelte den Kopf, auch Hannah hatte noch nie von ihm gehört.

»Landesrat Brunner ist der Leiter des Anstaltswesens in Hessen-Nassau. Ihm unterstehen sämtliche Kliniken und Pflegeeinrichtungen für körperlich und geistig behinderte Menschen. Brunner war von 1933 bis 34 Landeskirchenrat und ist inzwischen SS-Obersturmbannführer. Ich habe ihn als skrupellosen und intriganten Mann kennengelernt. Er schreckt vor keinem Mittel zurück, um seine Ziele zu erreichen.«

»Sie sind gut informiert, Claudius.«

»Ich verfolge sehr genau, was die Nazis hinter verschlossenen Türen planen.« Er lächelte. »Nicht nur Joschi verfügt über gute Kontakte.«

»Was wissen Sie über Lubeck?«, fragte Malisha.

»Er ist für Brunner ein serviler und strebsamer Untergebener, der ihm die Drecksarbeit abnimmt, und somit unentbehrlich für ihn. Lubeck wird seine Beziehungen ausnutzen, damit Brunner Druck auf die Polizei ausübt. In den nächsten Wochen wird man verstärkt nach Ihnen und Ihrer Tochter suchen. Sie sollten sich mit dem Gedanken anfreunden, eine Weile unterzutauchen.«

»Warum gehen wir nicht nach Amerika? Oder nach England?«, fragte Hannah.

»Die Nazis erschweren die legale Ausreise von Juden«, erklärte Brendel. »Nur wer bereit ist, seinen Besitz in Deutschland zurückzulassen, hat überhaupt eine Chance.« Er wandte sich an Malisha: »Verfügen Sie über Vermögen?«

»Alles, was wir haben, ist in dem Koffer dort.«

»Das dachte ich mir. Wir werden also dafür sorgen müssen, dass Sie so lange von der Bildfläche verschwinden, bis sich die Wogen geglättet haben. Darum wird Joschi euch zunächst an einen sicheren Ort bringen.«

Joschi gestikulierte erregt. Hannah konnte ihm kaum folgen.

»Nein, ich muss hierbleiben«, sagte Brendel.

Sie werden dich totschlagen.

»Ich kann meine Gemeinde nicht im Stich lassen.«

»Aber Sie wurden angegriffen«, beharrte Malisha.

»Wenn sich meine Schäfchen verirrt haben, ist es meine Pflicht, sie auf den rechten Weg zurückzuführen. Gott wird über mich wachen.«

»Gott schläft tief und fest«, sagte Malisha.

»Nun, dann träumt er von Ihnen«, meinte Brendel lächelnd. »Sie müssen jetzt aufbrechen.« Er wandte sich um. »Auf Wiedersehen, Hannah. Gott segne dich.«

Joschi mahnte zur Eile. Hannah war sicher, dass sie Brendel wiedersehen würde, und sie hatte das seltsame Gefühl, dass er in ihrem Leben eine größere Rolle spielen würde, als sie sich im Augenblick vorstellen konnte.

*

»Da stecken Sie ja in einer schönen Geschichte drin.«

Brunner lief wie ein Tiger im Käfig auf und ab, die Hände auf dem Rücken verschränkt. Lubeck starrte auf die Hand des Chirurgen, der einen Faden in eine Nadel einfädelte.

»Sich mit einer Jüdin einzulassen«, dröhnte Brunner. »Sind Sie noch ganz bei Trost? Das kann Sie den Kopf kosten.«

Lubeck zuckte zusammen und versteifte sich. Trotz der Betäubung spürte er, wie die Nadel in seine Wange eindrang. Vor den hohen Fenstern der Universitätsklinik dämmerte ein grauer Januarmorgen. Vor zwei Stunden hatte ihn der Hausbeschließer des Mietshauses in der Wilhelmstrasse entdeckt, blutüberströmt, gefesselt und geknebelt mit Stoffstreifen. Er hatte Borsig angerufen, der ihn in die Klinik gebracht hatte. Von seinem Büro aus hatte er sofort Brunner alarmiert, doch der reagierte anders, als Lubeck sich erhofft hatte.

»Mann, Mann, Lubeck. Ich habe Sie Borsig anvertraut, damit Sie Dampf ablassen. Ich weiß, dass Ihre Arbeit belastend ist. Heyde hat mich mit Ihrem labilen Charakter vertraut gemacht. Sie können es weit bringen, aber dazu müssen Sie härter werden.« Er blieb stehen und schüttelte den Kopf. »Lässt sich von einer Judenschlampe den Kopf verdrehen. Menschenskind, Borsig kann Ihnen Weiber bis zum Abwinken besorgen.«

»Es war dieser Riese. Ein Kerl mit Narben im Gesicht.«

»An dem hat Borsig sich schon verhoben. Leider ging er uns bei der Razzia durch die Lappen. Ein schönes Nest hat die Gestapo da ausgehoben – Widerständler, Kommunisten, lauter Drecksgesindel. Na, sie werden die Kerle schon zum Singen bringen. Und danach geht’s ab ins KZ.«

Brunner blieb er vor dem Fenster stehen und wippte mit den Zehen, seine Stiefel knirschten.

»Am besten vergessen Sie das alles ganz schnell. Wenn rauskommt, dass meine Untergebenen mit Judenflittchen vögeln, kriege ich verfluchten Ärger. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie das wollen.«

»Die Polizei soll das Mädchen suchen. Das Biest soll ins Gas gehen. Und diesmal werde ich dabei zusehen.«

Brunner drehte sich abrupt um. »Mensch, Lubeck«, brüllte er, »sind Sie noch zu retten? Das bedeutet einen Riesenwirbel, Fragen und Erklärungen. Und am Ende wird man mich verantwortlich machen. Sie haben das Balg und ihre verdammte Mutter doch entwischen lassen!«

Lubeck verstummte erschrocken. Der Arzt ließ die Nadel fallen.

»Gehen Sie an Ihre Arbeit«, schrie Brunner. »Wenn ich je wieder von der Angelegenheit höre, lasse ich Ihren UK-Status aufheben und schicke Sie nach Polen zu den Besatzungstruppen. Haben Sie das kapiert?«

Er schwieg betroffen.

»Ob Sie das kapiert haben, Sie Blindgänger?«

»Ja, Obersturmbannführer.«

Es klopfte an der Tür.

»Jetzt nicht!«

Die Krankenschwester trat ein. »Entschuldigen Sie die Störung, Herr Brunner. Draußen wartet ein Herr von der Kriminalpolizei.«

»Ich komme gleich.«

Die Tür wurde geschlossen. Brunner lief dunkelrot an und drehte sich zu Lubeck um. »Gnade Ihnen Gott, wenn Sie mich in die Sache reinziehen!« Leiser fuhr er fort: »Woher wissen die überhaupt so schnell Bescheid?«

»Wahrscheinlich hat der Hausmeister geplappert, der mich gefunden hat.«

»Mmh. Wir überlegen uns etwas … warten Sie … ja, das geht. Sie waren auf der Suche nach dem flüchtigen Mädchen, haben die Situation unterschätzt und das Gör ist auf Sie losgegangen. Kein Wort von der Mutter, ist das klar?«

»Ja.«

Brunner riss die Tür auf und bat den Kriminalbeamten herein. Lubeck hob den Kopf und sah sein Ebenbild im Wandspiegel des Behandlungszimmers. Auf der linken Wange glühte ein hässlicher Schnitt, der von zehn Stichen zusammengehalten wurde. Für den Rest seines Lebens würde er entstellt sein. Dafür würde das Mädchen bezahlen. Sie alle würden dafür bezahlen!

399
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Возрастное ограничение:
18+
Дата выхода на Литрес:
25 мая 2021
Объем:
494 стр. 7 иллюстраций
ISBN:
9783839263648
Издатель:
Правообладатель:
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