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Читать книгу: «Les Misérables / Die Elenden», страница 5

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IX. Was die Schwester über den Bruder erzählt

Um eine Vorstellung von der Häuslichkeit des Bischofs zu geben und zu zeigen, wie vollständig die beiden frommen Frauen ihre Handlungen und Gedanken, ja sogar ihre natürliche Furchtsamkeit, den Gewohnheiten und Wünschen des Bischofs unterordneten, ohne daß er sich auch nur die Mühe zu nehmen brauchte, ihnen Ausdruck zu verleihen, können wir nichts Besseres thun, als hier einen Brief Fräulein Baptistines an ihre Jugendfreundin die Frau Vicomtesse von Boischevron, wiederzugeben. Diesen Brief besitzen wir im Original.

Digne, den 16. Dec. 18 ..

Theuerste Freundin!

Es vergeht kein Tag, ohne daß wir von Ihnen sprächen. Es ist das unsere Gewohnheit, aber wir haben noch einen anderen Grund. Denken Sie Sich: Frau Magloire hat beim Waschen und Abstäuben der Wände Entdeckungen gemacht; unsre beiden Schlafzimmer mit ihren alten, weiß getünchten Tapeten würden jetzt ein Schloß wie das Ihrige nicht verunzieren. Frau Magloire hat die ganzen Tapeten heruntergerissen. Es war etwas dahinter. Mein Salon, in dem keine Möbel stehen, und der uns den Trockenboden für die Wäsche ersetzt, ist fünfzehn Fuß hoch, achtzehn im Geviert und hat eine bemalte und vergoldete Decke mit Balken, wie bei Ihnen. Als das Haus noch als Hospital diente, war ein Ueberzug aus Leinwand darüber. Dazu Holzwerk aus der Zeit unsrer Großmütter. Und mein Zimmer sollten Sie erst sehen! Frau Magloire hat unter wenigstens zehn darüber geklebten Tapeten Gemälde entdeckt, die ganz leidlich sind: Telemach, wie er von Minerva zum Ritter erhoben wird; derselbe in den Gärten, – ich kann mich nicht mehr besinnen, welchen; der Ort, wohin die Römerinnen sich einmal des Jahres begaben. Kurz, ich habe Römer, Römerinnen, (hier stand ein unleserliches Wort), und so weiter. Frau Magloire hat alles sauber abgewaschen und diesen Sommer wird sie einige unbedeutende Beschädigungen repariren, das Ganze überfirnissen, so daß mein Zimmer einem Museum gleichen wird. Außerdem hat sie auf dem Boden in einem Winkel zwei Consolen alten Stils gefunden. Sie sollten sechs Franken wieder zu vergolden kosten; aber es ist doch besser, wir geben das Geld den Armen. Auch sind sie nicht hübsch, und ich würde einen Mahagonitisch vorziehn.

Ich fühle mich recht glücklich, wie immer. Mein Bruder ist so gut! Er giebt alles, was er hat, den Bedürftigen und Kranken. Bei uns geht es auch infolge dessen sehr knapp zu. Das Klima ist hier im Winter sehr rauh, und man muß für Diejenigen, denen es am Notwendigen fehlt, doch etwas thun. Mit Licht und Heizung ist es in unserm Hause ziemlich gut bestellt, was doch gewiß große Annehmlichkeiten sind.

Mein Bruder hat so seine eignen Gewohnheiten. Er behauptet im vertraulichen Gespräch, ein Bischof müsse so sein. Denken Sie Sich: die Hausthür ist nie verschlossen. Jeder, der will, kann herein, und ist dann gleich in der Wohnung meines Bruders. Er fürchtet sich nicht, selbst des Nachts nicht. Das ist die Art Tapferkeit, die er haben muß, behauptet er.

Er will nicht, daß ich und Frau Magloire uns um ihn ängstigen. Er setzt sich allen Gefahren aus und duldet nicht einmal, daß wir thun, als bemerkten wir das. Man muß ihn eben verstehen.

Er geht bei Regenwetter aus, watet durch Wasser, reist zur Winterzeit. Er fürchtet sich nicht des Nachts, nicht vor gefährlichen Wegen und schlechten Menschen.

Verflossenes Jahr reiste er allein nach einer Gegend, wo sich Räuber herumtrieben. Uns nahm er nicht mit und blieb vierzehn Tage weg. Es widerfuhr ihm nichts, man hielt ihn für tot, aber er war gesund und munter. Er sagte: »Seht mal, wie die Räuber mich ausgeplündert haben«, und zeigte uns eine Kiste mit lauter Wertsachen, die in dem Dom von Embrun gestohlen waren. Die hatten ihm die Räuber geschenkt.

Bei der Rückfahrt konnte ich mich aber nicht bezwingen und schalt ihn ein Bischen, natürlich nur, während der Wagen rasselte, damit Niemand etwas hören sollte.

Anfangs dachte ich bei mir: Er läßt sich durch keine Gefahren zurückhalten, er ist schrecklich! Jetzt habe ich mich daran gewöhnt. Ich winke immer Frau Magloire, sie soll ihm nicht widersprechen. Er setzt sich Gefahren aus, wie es ihm gerade beliebt. Ich gehe dann mit Frau Magloire hinaus, bete für ihn und lege mich schlafen. Ich bin ruhig, weiß ich doch, daß, wenn ihm ein Unglück zustieße, so wäre es auch mein Tod. Ich würde dann zum lieben Gott mit meinem Bruder und Bischof kommen. Frau Magloire ist es schwerer gewesen, sich an seine sogenannten Unklugheiten zu gewöhnen. Aber jetzt hat sie es auch gelernt. Wir beten alle Beide, fürchten uns zusammen und schlafen ruhig ein. Käme der Teufel in das Haus, er würde unbehelligt bleiben. Wozu sollten wir uns auch fürchten? Es ist ja immer Einer bei uns, der stärker ist als der Teufel.

Das genügt mir. Mein Bruder braucht mir jetzt kein Wort mehr zu sagen. Ich verstehe ihn, ehe er spricht, und wir verlassen uns auf die Vorsehung.

So muß man es machen mit einem Manne, dessen Sinn großartig angelegt ist.

Ich habe meinen Bruder wegen der Auskunft gefragt, die Sie über die Familie de Faux zu erhalten wünschten. Sie wissen ja, er weiß Alles und führt Gedenkbücher, denn er ist gut königlich gesinnt. Es ist in der That eine sehr alte normannische Familie aus dem Steuerbezirk Caen. Vor fünfhundert Jahren gab es einen Raoul de Faux, einen Jean de Faux und einen Thomas de Faux, alles Edelleute, einer darunter ein Seigneur de Rochefort. Der Letzte war Guy Etienne Alexandre und war Regimentsoberst und hatte noch einen andern Rang bei den Chevaux-legers in der Bretagne. Seine Tochter Marie Louise heiratete Adrien Charles de Gramont, Sohn des Herzogs Louis de Gramont, Pair von Frankreich, Obersten der Gardes-Françoises und General-Lieutenant.

Theuerste Vicomtesse, empfehlen Sie mich den Gebeten Ihres Vetters, des frommen Herrn Kardinals. Was Ihre theure Sylvanie betrifft, so hat sie sehr recht gethan, daß sie die kurze Zeit, die sie bei Ihnen zubringt, nicht damit verloren hat, mir zu schreiben. Sie befindet sich wohl, arbeitet Ihren Wünschen gemäß und hat mich lieb. Weiter verlange ich nichts. Sie haben mir Kenntniß davon zukommen lassen, wie es ihr geht, und mich damit ausnehmend erfreut. Mit meiner Gesundheit steht es nicht allzu schlecht, obgleich ich alle Tage magerer werde. Leben Sie wohl. Es fehlt mir an Papier, und ich muß aufhören. Tausend herzliche Grüße.

Baptistine.

P.S. Ihr Enkel ist ein reizender Knabe. Wissen Sie, daß er bald fünf Jahre alt ist! Gestern sah er ein Pferd, dem man Knieleder angelegt hatte. Er fragte: »Was hat denn das Pferd an den Knieen?« Er ist allerliebst. Sein Brüderchen zieht einen alten Besen als Wagen durch das Zimmer und ruft: »Hottehü!«

Wie aus diesem Briefe erhellt, wußten die beiden Frauen mit jenem ihrem Geschlecht natürlichen Takt, der sie befähigt, einen Mann besser zu verstehen, als er sich selbst, auf die Eigenheiten des Bischofs einzugehen. So sanft und treuherzig auch alle Zeit sein Gebahren war, so that er doch viel Großes und Kühnes, ohne daß er es selber zu ahnen schien. Die Frauen zitterten, aber sie ließen ihn gewähren. Bisweilen unterstand sich Frau Magloire, ihm Vorhaltungen zu machen, ehe er einen bedenklichen Entschluß ins Werk setzte, nachher aber nicht mehr. Nie wurde er, sobald er erst eine Sache begonnen hatte, belästigt, nicht einmal mit einer Gebärde der Mißbilligung oder Ungeduld. Die Frauen hatten zeitweise, ohne daß es einer Erklärung seinerseits bedurfte, ohne daß er selbst sich dessen bewußt wurde, eine gewisse Ahnung, daß er nur deshalb in der und der bestimmten Weise handle, weil seine Pflicht als Bischof es ihm befahl: sie verhielten sich dann so still und unaufdringlich, wie zwei Schatten. Sie bedienten ihn mit passivem Gehorsam, und wenn sie ihm nicht anders gefällig sein konnten, als daß sie sich entfernten und ihn allein ließen, so thaten sie auch dies mit Freudigkeit. Ihr bewunderungswürdiger Zartsinn sagte ihnen, daß manche Fürsorge lästig sein kann. Daher verstanden sie, selbst wenn sie glaubten, er schwebe in Gefahr, – ich will nicht gerade sagen, – seine Gedanken, wohl aber sein Wesen so vollständig, daß sie nicht mehr auf ihn Acht gaben. Sie vertrauten ihn der Obhut Gottes an.

Uebrigens sagte, wie wir eben gesehen, Baptistine, der Tod ihres Bruders werde auch ihr Ende alsbald nach sich ziehen. Frau Magloire sprach so etwas nicht aus, dachte es aber.

X. Eine neue Erleuchtung

Einige Zeit nach dem Datum des so eben citirten Briefes that der Bischof etwas, das nach dem Dafürhalten der ganzen Stadt ein noch gewagteres Stück war, als seine Reise in das Banditengebirge.

In der Umgegend von Digne wohnte in völliger Einsamkeit ein Mann, der – schaudernd müssen wir es bekennen – seiner Zeit Mitglied des Convents gewesen war. Er hieß G.

In der kleinen Welt, die sich die Stadt Digne nannte, sprach man von dem Conventsmitgliede G. nur mit einer Art Entsetzen und Abscheu. Ein Mitglied des Convents – nein, so etwas! Das gab es zu der Zeit, wo die Leute sich duzten und Bürger nannten. Der Mann war gewissermaßen ein moralisches Ungeheuer. Er hatte zwar nicht für den Tod des Königs gestimmt, aber viel hatte nicht daran gefehlt. Er war doch immer »beinah« ein Königsmörder. Jedenfalls war er ein Schreckensmann gewesen. Warum in aller Welt hatte man Den bei der Rückkehr der angestammten Königsfamilie nicht vor das Prevotalgericht gestellt? Man hätte ihm ja nicht gerade den Kopf vor die Füße zu legen brauchen, weil milde zu sein nun einmal die Pflicht des Richters ist; aber eine Verurtheilung zu lebenslänglicher Verbannung hätte nicht schaden können. Ein Beispiel zu statuiren wäre doch nöthig gewesen! U. s. w. Dann war der Mensch ja auch ein Atheist, wie die revolutionären Kanaillen alle. – Gänsegeklatsch über einen Geier!

War denn G. auch ein Geier? Ja, der Vergleich stimmte, wenn man ihn nach seiner Menschenscheu beurtheilte. Da er nicht für den Tod des Königs gestimmt hatte, so war er von den Verbannungsdekreten nicht getroffen worden und hatte in Frankreich bleiben dürfen.

Er wohnte drei Viertelstunden von der Stadt, weitab von jedem Dorfe, weitab von jedem Wege, in einem versteckten Winkel eines öden Thales. Er hatte dort, erzählte man, eine Art Feld, ein Loch, eine Hütte. Weit und breit war dort kein Haus zu sehen, nie kam Jemand dort vorüber. Seit er in der Schlucht seine Wohnung aufgeschlagen, war Gras über den Pfad, der dahin führte, gewachsen. Man sprach von dem Ort mit derselben Abscheu, als wenn da das Haus des Henkers gestanden hätte.

Der Bischof indessen dachte an das Conventsmitglied und richtete bisweilen seinen Blick nach der Baumgruppe, die fern am Horizont den Wohnort des Einsiedlers bezeichnete. »Dort befindet sich eine Seele die vereinsamt ist«, sagte er und fügte innerlich hinzu: »Ich bin ihm auch einen Besuch schuldig.«

Allein, gestehen wir es nur, dieser auf den ersten Blick selbstverständliche Gedanke kam ihm bei eingehender Prüfung absonderlich, unmöglich, ja widerwärtig vor. Denn im Grunde genommen, theilte er die allgemeine Empfindung und das Conventsmitglied flößte ihm, ohne daß er sich klare Rechenschaft darüber gab, ein Gefühl ein, das an der Grenzlinie des Hasses liegt und das durch das Wort Abneigung treffend ausgedrückt wird.

Darf jedoch der Hirt sich von einem Schaf abwenden, weil es räudig ist? Nein. Aber solch ein Schaf!

Der gute Bischof war in Verlegenheit. Manchmal richtete er seine Schritte nach der Gegend hin, kehrte aber auf halbem Wege wieder um.

Da verbreitete sich eines Tages in der Stadt das Gerücht, ein junger Hirt, der dem Conventsmitgliede G. in seinem Schlupfwinkel Handreichungen leistete, sei gekommen, einen Arzt zu holen; der alte Halunke liege im Sterben; die Lähmung, an der er litt, greife weiter um sich; er werde die Nacht nicht überleben. Gott sei Dank! meinten Viele.

Der Bischof nahm seinen Stock, zog einen Ueberrock an, weil, wie schon erwähnt, seine Sutane zu schäbig geworden war, und machte sich auf den Weg.

Die Sonne ging zur Rüste und stand schon dicht am Horizont, als der Bischof an dem vervehmten Ort anlangte. Das Herz klopfte ihm schneller, als er erkannte, daß er vor der Behausung des Elenden stand. Er schritt über einen Graben, stieg über eine Hecke, ging kühnen Schrittes durch einen vernachlässigten Garten und erblickte plötzlich hinter einem hohen Gesträuch, am andern Ende eines Brachfeldes, eine niedrige, armselige, kleine und saubere Hütte mit vergitterter Façade.

Vor der Thür saß da in einem einfachen Rollstuhl ein Mann mit weißen Haaren, der sich mit Behagen im Sonnenschein wärmte.

Neben dem Greise stand ein Hirtenknabe und hielt ihm eine Milchsatte hin.

Während der Bischof sie betrachtete, sagte der Alte: »Danke, ich brauche nichts mehr« und wandte seinen freundlichen Blick von der Sonne dem Knaben zu.

Der Bischof trat näher. Bei dem Geräusch der Schritts wandte sich der Greis, und sein Gesicht drückte so viel Erstaunen aus, als man nach einem langen Leben noch zu empfinden fähig ist.

»Seitdem ich hier wohne«, hob er an, »ist dies das erste Mal, das Jemand zu mir kommt. Wer sind Sie, mein Herr?«

»Ich nenne mich Bienvenu Myriel.«

»Derselbe, den das Volk Se. Gnaden Herrn Bienvenu nennt.«

»Der bin ich.«

Ein Lächeln umspielte den Mund des Greises.

»In diesem Fall sind Sie also mein Bischof?«

»Eigentlich!«

»Treten Sie näher, mein Herr!«

Das Conventsmitglied reichte dem Bischof die Hand hin.

Dieser aber gab ihm die seine nicht und bemerkte nur:

»Ich sehe mit Vergnügen, daß man mich falsch berichtet hat. Sie sehen keineswegs krank aus.«

»Bald wird mir besser sein«, antwortete der Greis.

Er hielt inne und fuhr dann fort:

»In drei Stunden sterbe ich. Ich habe mich etwas mit Medizin beschäftigt und kenne die Symptome, die das Herannahen des Todes melden. Gestern waren mir nur die Füße kalt; heute ist die Kälte bis zu den Knieen emporgestiegen; gegenwärtig fühle ich, daß sie durch den Unterleib empordringt; wenn sie das Herz erreicht, wird mein Leben still stehen. Schönes sonniges Wetter, nicht wahr? Ich habe mich ins Freie bringen lassen, um mir die Welt zum letzten Male anzusehen. Sie können reden, das Sprechen greift mich nicht an. Sie haben wohl gethan, zu einem Sterbenden zu kommen. Es ist besser, wenn ich im letzten Augenblick nicht allein bin. Man hat sonderbare Einfälle: Ich hätte gern bis Tagesanbruch gelebt. Aber ich weiß, daß ich höchstens noch drei Stunden Frist habe. Dann wird es Nacht. Aber was schadet das? Das Sterben ist eine einfache Sache. Dazu braucht man nicht die Morgensonne. Wenn die Sterne scheinen, geht es auch.«

Dann, zu dem Hirten gewandt, fuhr er fort:

»Geh' schlafen. Du hast vorige Nacht gewacht. Du bist müde.« Der Knabe ging in die Hütte hinein.

Der Greis sah ihm nach und sagte halblaut, als spreche er mit sich selbst:

»Während er schläft, werde ich sterben. Der eine Schlaf wird den andern nicht stören.«

Dem Bischof war nicht so feierlich zu Muthe, wie wohl zu erwarten gewesen wäre. In dieser Art zu sterben lag nichts, was ihn Gottes Gegenwart ahnen ließ. Zudem – wir müssen dies offen heraussagen, denn auch die kleinen Widersprüche großer Seelen dürfen nicht übergangen werden – fühlte er sich, er, der gern über den Titel »Bischöfliche Gnaden« spottete, verletzt, weil er mit »Mein Herr« angeredet wurde, und war versucht, das Conventsmitglied »Bürger« zu tituliren. Er hatte nicht übel Lust, einen unceremoniellen derben Ton anzuschlagen, wie er Aerzten und Priestern ziemlich gewöhnlich ist, in seiner Art aber nicht lag. Der Mann da vor ihm, dieses Conventsmitglied, dieser Volksvertreter war einer der Mächtigen dieser Welt gewesen, und zum ersten Mal vielleicht in seinem Leben fühlte sich der Bischof geneigt, strenge zu verfahren.

Der Sterbende dagegen hatte etwas Bescheidenes, fast Demüthiges in seinem Wesen, als gehöre sich das so, wenn man nahe daran ist, in Staub zu zerfallen.

Der Bischof seinerseits, dem sonst Neugierde als eine Art Beleidigung erschien, beherrschte sich dieses Mal nicht und betrachtete das Conventsmitglied mit einer Aufmerksamkeit, die ihren Ursprung nicht in der Sympathie hatte und die sein Gewissen sonst getadelt hätte. Stand doch für ihn ein Conventsmitglied eigentlich außerhalb der Gesetze, ja sogar außerhalb des Gesetzes der Liebe.

G., mit seiner würdevollen Ruhe, seiner aufrechten Haltung, seiner kräftigen Stimme, war einer jener Achtzigjährigen, über die der Physiologe erstaunt. Die Revolution hat viele solche Männer gehabt, deren körperliche Kraft im Verhältniß stand zu der geistigen Kraft ihrer Zeit. Man merkte, daß der Greis ein Mann von erprobter Tüchtigkeit war. Er besaß, nahe wie er seinem Ende war, noch alle Merkmale der Gesundheit. Sein klarer Blick, seine feste Sprache, seine kräftigen Schulterbewegungen hätten den Tod in Erstaunen setzen können. Asrël, der mohamedanische Engel des Grabes, wäre umgekehrt und hatte geglaubt, er sei nicht vor die rechte Thür gekommen. Es war, als stürbe dieser Mann, weil es ihm so beliebte. Sein Todeskampf hatte etwas Freiwilliges. Nur die Beine waren unbeweglich und todt, der Kopf dagegen war voller Lebenskraft. G. glich in diesem feierlichen Augenblick jenem König in Tausend und eine Nacht, dessen Unterkörper in Marmor verwandelt war.

Der Bischof setzte sich auf einen Stein, der in der Nähe lag und begann ex abrupto:

»Ich muß es loben« – aber aus seiner Stimme klang ein Tadel, »daß Sie wenigstens nicht für den Tod des Königs gestimmt haben.«

Sein Gegner schien das Wort »wenigstens« nicht gehört zu haben. Er antwortete, indem er nicht mehr lächelte:

»Freuen Sie Sich nicht zu sehr: Ich habe für den Tod des Tyrannen gestimmt.«

»Welchen Tyrannen meinen Sie?«

»Der Mensch hat einen Tyrannen, die Unwissenheit. Gegen diese Tyrannei habe ich gestimmt. Denn diese Tyrannei hat das Königthum, die falsche Autorität, geboren. Die Wissenschaft ist die wahre Herrin des Menschen. Nur von ihr soll er sich lenken lassen.«

»Und von seinem Gewissen«, ergänzte der Bischof.

»Das ist dasselbe. Das Gewissen ist angeborene Wissenschaft.«

Der Bischof hörte mit einigem Erstaunen diese für ihn ganz neuen Gedanken.

Das ehemalige Conventsmitglied fuhr fort:

»Was Ludwig XVI. anbetrifft, so habe ich gegen seine Hinrichtung gestimmt. Ich halte mich nicht dazu befugt, einen Menschen zu töten, aber meine Pflicht gebietet mir, das Böse auszurotten. Ich habe für die Beseitigung der Tyrannei gestimmt. Die Prostitution des Weibes, die Sklaverei des Mannes, die Unwissenheit, die den Geist des Kindes umnachtet, soll ein Ende nehmen. Dies habe ich bezweckt, indem ich für die Republik stimmte. Brüderlichkeit, Eintracht, eine neue Zeit habe ich begründen wollen. Ich habe Vorurtheile und Irrthümer vertilgen helfen. Die Vernichtung der Vorurtheile und Irrthümer hat die Entstehung des Lichtes zur Folge. Wir haben die alte Weltordnung gestürzt, und indem die alte Welt, dieses Gefäß voller Leid und Elend, umstürzte, ist eine Freudenurne daraus geworden.«

»Die Freude ist eine sehr gemischte«, warf der Bischof ein.

»Sprechen Sie lieber von gestörter Freude, und gegenwärtig nach der verderblichen Wiederkehr der Vergangenheit im Jahre 1814 ist die Freude sogar verschwunden. Ja leider! Das Werk ist unvollendet geblieben, ich gestehe es. Wir haben die konkreten Institutionen der alten Weltordnung gestürzt, die Ideen, auf denen sie begründet war, haben wir nicht ganz austilgen können. Mißbräuche abschaffen genügt nicht, man muß die Menschen ändern. Die Mühle ist nicht mehr, aber der Wind weht immer noch.«

»Ihr habt das Alte zerstört. Das mag sein Gutes gehabt haben, aber ich habe kein Zutrauen zu einer Zerstörung, die der Zorn angestiftet hat.«

»Das Recht darf auch einmal in Zorn gerathen, denn der Zorn des Rechtes ist ein Element des Fortschritts. Gleichviel, man sage, was man wolle, seit dem Erscheinen Christi hat das Menschengeschlecht keinen so gewaltigen Schritt vorwärts gethan, als durch die große französische Revolution. Sie hat alle sozialen Uebelstände klar gelegt. Sie hat die Gemüther sanfter gestimmt; sie hat beruhigt, versöhnt, aufgeklärt; sie hat Ströme höherer Gesittung über alle Lande ausgegossen. Sie ist voller Güte gewesen. Die französische Revolution ist die Weihe der Menschheit.«

»Wirklich? Aber 1793?«

Der Mann des Convents richtete sich in seinem Stuhle mit erhabener Feierlichkeit auf und rief, so laut ein Sterbender irgend sprechen kann:

»Aha, da haben wir's! Ich wußte, daß Sie mir mit 1793 kommen würden. Nun, es war einmal eine Wolke, die fünfzehn Hundert Jahre gewartet hat, ehe sie geplatzt ist, und nun klagen Sie den Blitz an.«

Der Bischof fühlte vielleicht, ohne daß er sich dessen klar wurde, daß seine Ueberzeugungen etwas erschüttert waren. Aber er wehrte sich noch:

»Der Richter spricht im Namen der Gerechtigkeit, der Priester im Namen des Mitleids, das nur eine höhere Art von Gerechtigkeit ist. Der Blitz soll sich nicht irren.« Und indem er den Mann des Convents fest ansah, fuhr er fort: »Z. B. Ludwig XVII.?«

Sein Gegner streckte die Hand aus und faßte ihn beim Arm.

»Also Ludwig XVII.? Sehr wohl. Worüber beklagen Sie sich? Daß ein unschuldiges Kind zu Tode gemartet worden ist? Gut, das beklage ich auch. Daß ein Königskind gemartert worden ist, das bitte ich mir erst überlegen zu dürfen. Für mich ist der Bruder Cartouche's ein unschuldiges Kind, das auf dem Grève-Platze unter den Achseln aufgehängt wurde, bis es starb, – blos weil es der Bruder Cartouche's war, eben so sehr ein Gegenstand des Mitleids, als der Enkel Ludwigs XV., das unschuldige Kind, das in dem Thurm des Temple zu Tode gemartert wurde, blos weil es der Enkel Ludwigs XV. war.«

»Herr, ich verbitte mir solche Zusammenstellungen.«

»Wem thut mein Vergleich Unrecht: Cartouche? Ludwig XV.?«

Es trat eine Pause ein. Der Bischof bedauerte fast, gekommen zu sein und doch fühlte er sich seltsam ergriffen.

Der Sterbende fuhr fort:

»Ja, ja, Herr Priester, Sie lieben die Derbheiten der Wahrheit nicht; Christus aber liebte sie doch. Er nahm eine Geißel und trieb das Gesindel zum Tempel hinaus. Diese Geißel sagte unangenehme Wahrheiten. Als er sprach: Lasset die Kindlein zu mir kommen, machte er keine Unterschiede. Er hätte keinen Anstand genommen, den Sohn des Barabbas und den Sohn des Herodes zusammen einzuladen. Ich meine, die Unschuld ist an sich eine Krone. Sie bedarf keiner hohen Titel und ist in Lumpen ebenso achtunggebietend, wie im Königsgewande.«

»Sehr wahr!« flüsterte der Bischof.

»Bleiben wir bei dem Thema, fuhr G. fort. Sie haben von Ludwig XVII. gesprochen. Sehen wir zu, ob wir uns richtig verstehen. Beklagen wir alle unschuldigen kleinen Märtyrer, die geringen ebenso sehr wie die vornehmen? Gut, das will ich thun. Aber dann müssen wir auch weiter hinaufgehen als 1793. Ich will mit Ihnen über die Kinder der Könige weinen, wenn Sie mit mir die Kinder des Volkes beweinen.«

»Sie sind alle des Mitleids werth«, bestätigte der Bischof.

»In gleicher Weise«, rief G., »und wenn eine Wagschale sich senken soll, so sei es die des Volkes. Seine Leiden sind die älteren.«

Wieder trat eine Pause ein. G. brach zuerst das Stillschweigen. Er stützte sich auf den einen Ellbogen, griff mit dem Daumen und Zeigefinger an die Wange, wie man unbewußt zu thun pflegt, wenn man einen Schuldigen verhört und zur Rede stellt, sah den Bischof strenge an und begann dann mit Heftigkeit:

»Ja, Herr Bischof, das Volk leidet schon lange. Aber noch Eins. Warum kommen Sie zu mir und reden über Ludwig XVII. Ich kenne Sie nicht. Seitdem ich in diese Gegend gekommen bin, habe ich in dieser Einöde gewohnt, allein in meiner Hütte, ohne je auszugehen, ohne Verkehr mit irgend Jemand, abgesehen von dem Hirtenjungen. Ihr Name ist allerdings zu mir gedrungen und er klang nicht schlecht, muß ich sagen; aber das will nicht viel sagen; die Klugköpfe haben so viele Mittel und Wege, dem guten Volk etwas vorzureden. Und nun ich daran denke: Ich habe Ihre Equipage nicht heranfahren hören. Sie haben sie gewiß hinter dem Gehölz am Kreuzweg halten lassen? Ich kenne Sie nicht, sage ich Ihnen. Sie haben mir gesagt, Sie wären ein Bischof, aber das klärt mich nicht auf über Ihr moralisches Ich. Also, ich wiederhole meine Frage: Wer sind Sie? Sie sind ein Bischof, d. h. ein Kirchenfürst, Einer von Denen, die Wappen, Renten, große Präbenden haben, – das Bisthum Digne bringt 15,000 Franken festes Gehalt und 10,000 Franken Nebeneinkünfte, macht 25,000 Franken pro Jahr. – Sie sind Einer von Denen, die Bedienten und Köche haben, die sich's wohl sein lassen, die des Freitags Wasserhühner essen, in Palästen wohnen und im Namen Jesu Christi, der barfuß ging, in üppigen Galakutschen, mit Lakaien vorn und hinten, kutschiren. Alle diese Herrlichkeiten haben Sic und genießen Sie, aber das klärt mich nicht auf über Ihren inneren und wesentlichen Werth, den ich doch kennen muß; denn Sie sind doch offenbar mit der Absicht gekommen, mir Weisheit zu bringen. Mit wem spreche ich? Wer sind Sie?« Der Bischof senkte den Kopf und antwortete: » Vermis sum!«

»Ein Erdenwurm in einer Equipage!« murrte das Conventsmitglied. Jetzt war er hochfahrend und der Bischof bescheiden.

Letzterer hub mit sanfter Stimme wieder an:

»Sehr wohl. Aber erklären Sie mir doch, inwiefern meine Equipage da hinter den Bäumen, inwiefern meine üppige Tafel und die Wasserhühner, die ich des Freitags verspeise, inwiefern meine 25.000 Franken jährlich, inwiefern mein Palast und meine Lakaien beweisen, daß das Mitleid keine Tugend, daß Milde keine Pflicht ist und daß die Schreckensmänner des Jahres 1793 nicht unbarmherzig gewesen sind.«

Der Mann des Convents fuhr mit der Hand über die Stirn, als wolle er einen trüben Gedanken verscheuchen.

»Bevor ich Ihnen antworte, bitte ich Sie um Verzeihung. Ich habe ein Unrecht begangen. Sie sind in meinem Hause, Sie sind mein Gast und ich bin Ihnen Höflichkeit schuldig. Sind Sie mit meinen Ansichten nicht einverstanden, so ziemt es sich, daß ich mich damit begnüge, Ihre Gegengründe zu widerlegen. Ihr Reichthum und Ihr Glück geben mir Waffen an die Hand, Sie zu bekämpfen, aber der Anstand erheischt, daß ich mich solcher Waffen nicht bediene. Ich entsage diesem Vortheil für die Zukunft.«

»Ich danke Ihnen«, antwortete der Bischof.

»Nun die Erklärung, die Sie von mir verlangten. Wo waren wir doch stehen geblieben? Sie behaupteten ja wohl, 1793 seien wir unbarmherzig gewesen?«

»Gewiß. Denken Sie an Marat, der beim Anblick der Guillotine in die Hände klatschte!«

»Denken Sie an Bossuet, der die Protestantenhetzen mit Tedeums feierte!«

Die Antwort war schroff, aber sie drang dem Bischof bis ins Innerste wie eine Degenspitze. Er fuhr zusammen, fand keine Erwiderung, aber es verdroß ihn, Bossuet in dieser Weise erwähnen zu hören. Auch die Verständigsten haben ihre Götzen und ärgern sich, wenn die Logik gegen dieselben unehrerbietig ist.

Dem Sterbenden fing der Athem an auszugehen und zwang ihn ab und zu seine Rede zu unterbrechen, aber noch leuchtete völlige Geistesklarheit aus seinen Augen. Er fuhr fort:

»Meinetwegen können wir noch, so gut es geht, ein paar Worte plaudern. Außer der Revolution, die als ein Ganzes betrachtet, eine große Kundgebung des Menschentums war, ist 1793 auch eine Erwiderung. Sie schmähen die erbarmungslose Schreckenszeit, wie war denn aber die ganze Königszeit? Carrier ist ein Bandit; aber welche Benennung verdient Montrevel? Fouquier-Tinville war ein erbärmlicher Mensch, aber was meinen Sie zu Lamoignon-Bâville? Mailland beging Grausamkeiten, aber wie urtheilen Sie über Saulx-Tavannes, wenn ich fragen darf? Vater Duhêne predigte einen blutdürstigen Fanatismus, aber welches Urtheil erlauben Sie mir über Vater Letellier? Jourdan-Coupe-Tête ist ein Ungeheuer, aber doch noch kein so scheußliches wie der Marquis von Louvois. Herr Bischof, ich beklage das Schicksal der Erzherzogin und Königin Marie-Antoinette, aber auch jene arme Hugenottin thut mir leid, die 1685, unter der Regierung Ludwigs des Großen, nackt bis auf die Hüften an einen Pfahl gebunden wurde und die Wahl hatte, ob sie ihren Glauben abschwören oder ihr Kind, das dicht vor ihr nach der Mutterbrust schrie und zappelte, dem Tode preisgeben wollte. Was meinen Sie zu dieser einer Mutter angepaßten Tantalusqual? Herr Bischof, merken Sie sich, die Revolution hatte ihre Berechtigungsgründe. Was man damals aus gerechtem Zorn gefehlt hat, wird von der Zukunft entschuldigt werden. Ist doch ihr Endergebniß eine allgemeine Besserung der Zustände. Sie hat derb zugeschlagen, aber sie hat sich als eine Wohlthat für die Menschheit erwiesen. Aber ich halte ein, die Vortheile in unserm Meinungskampfe sind zu groß auf meiner Seite und übrigens fühle ich auch, daß der Tod näher kommt.«

Und die Augen von dem Bischof abgewendet, beschloß er ruhevoll seine Rede mit folgenden Worten:

»Ja, die Zornesaufwallungen des Fortschritts heißen Revolutionen. Sind sie vorüber, so wird man inne, daß die Menschheit hart angefaßt worden ist, aber, daß sie einen Schritt weiter gekommen ist.«

Er ahnte nicht, daß er eine nach der andern alle Verschanzungen erobert hatte, hinter denen der Bischof sich gegen seine Angriffe vertheidigte. Eine indessen blieb noch übrig, von der aus sein Widersacher seine letzte Waffe gegen ihn entsandte:

»Der Fortschritt,« begann er wieder mit seiner anfänglichen Heftigkeit, »soll an Gott glauben. Das Gute kann keinen unheiligen Diener haben. Ein Gottesleugner eignet sich schlecht zum Führer der Menschheit.

Der ehemalige Volksvertreter antwortete ihm nicht. Seinen Leib durchbebte ein Schauer. Aus seinem Auge quoll eine schwere Thräne die bleiche Wange hinab, und leise, den Blick in die Tiefen des Himmels versenkt, stammelte er vor sich hin:

»O Du! Ideal, Du allein bist!«

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