Читать книгу: «Les Misérables / Die Elenden», страница 4

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VI. Von wem er sein Haus bewachen ließ

Das Haus, das er bewohnte, bestand, wie schon erwähnt, aus einem Erdgeschoß und einem einzigen Stockwerk. Drei Räume im Erdgeschoß, drei Schlafzimmer im ersten Stock, darüber der Boden. Hinter dem Hause ein fünfundzwanzig Ouadratruthen großer Garten. Die beiden Frauen hatten den ersten Stock inne, unten wohnte der Bischof. Das erste Zimmer, das auf die Straße hinausging, diente als Speisesaal, das zweite als Schlaf- und das dritte als Betzimmer. In dieses Betzimmer konnte man nur gelangen, wenn man durch das Schlafzimmer ging, und dieses war nur durch den Speisesaal hindurch zugänglich. In dem Betzimmer war noch ein Alkoven, wo die von dem Bischof zu Gaste gebetnen Landgeistlichen schliefen.

Die ehemalige Apotheke des Hospitals, ein an das Haus angebautes und im Garten gelegenes Gebäude, enthielt jetzt die Küche und Vorrathskammer.

Außerdem befand sich im Garten noch ein Stall, der früher die Küche des Hospitals gewesen war, und in dem der Bischof zwei Kühe hielt. Wieviel Milch diese auch geben mochten, die Hälfte davon schickte er regelmäßig jeden Morgen den Kranken des Hospitals. »Das ist der Zehnt, den ich zahle,« pflegte er zu sagen.

Sein Schlafzimmer war ziemlich groß und schwer erheizbar. Da das Holz in Digne sehr teuer ist, so war er auf den Gedanken gerathen sich in dem Kuhstall einen Bretterverschlag machen zu lassen. In diesem Raum, den er seinen Wintersalon nannte, brachte er, wenn es sehr kalt war, den Abend zu.

In diesem Wintersalon, sowie in dem Speisezimmer waren keine andern Möbel, als ein viereckiger Tisch aus weißem Holz und vier Strohstühle. In dem Speisezimmer stand allerdings noch ein altes rosa angestrichnes Büffet. Aus einem eben solchen mit weißen Obertischtüchern und falschen Spitzen behangnen Büffet, hatte der Bischof den Altar gemacht, der in seinem Betzimmer prangte.

Seine reichen Beichttöchter und die frommen Frauen in Digne hatten oft Geld aufgebracht, um Sr. Bischöflichen Gnaden einen schönen neuen Altar für das Betzimmer zu verehren; dieses Geld hatte er auch angenommen und den Armen zugewendet. Der schönste Altar, entschuldigte er sich, ist die Seele eines getrösteten Unglücklichen, der dem Herrn dankt.

In dem Betzimmer standen zwei Betstühle aus Stroh und in seinem Schlafzimmer ein Armsessel gleichfalls mit Strohsitz. Hatte er zufällig sieben bis acht Besucher zugleich zu empfangen, den Präfekten, oder den General, oder den Stab des Regiments, das die Garnison von Digne bildete, oder Schüler des kleinen Seminars, so sah man sich genöthigt die Sessel und Stühle aus dem Wintersalon, dem Betzimmer, dem Schlafgemach zusammenzuholen. Auf diese Weise konnte man elf Stühle aufbringen.

Es kam aber auch vor, daß Zwölf zugleich kamen. Dann verdeckte der Bischof die Verlegenheit dadurch, daß er sich mit seinen Gästen stehend unterhielt.

Allerdings besaß er noch einen Stuhl in dem Alkoven, aber der Sitz war entzwei und es fehlte ein Bein, so daß man ihn an die Wand lehnen mußte, wenn man sich darauf setzen wollte. Desgleichen hatte noch Fräulein Baptistine in ihrem Zimmer eine sehr große Bergére, aus Holz, die vor Zeiten vergoldet gewesen und mit Pekingseide überzogen war, aber die hatte man durch das Fenster in das erste Stock hinaufwinden müssen, weil die Treppe zu schmal war. Sie konnte also nicht zur Aushülfe gebraucht werden, wenn es an Stühlen fehlte.

Fräulein Baptistine's sehnlichster Wunsch wäre gewesen, Salonstühle u. Canapee aus gelbem Utrechter Sammt mit Rosetten geschmückt und aus Mahagoniholz, das in Form eines Schwanenhalses geschnitzt war, anschaffen zu können. Aber das hätte mindestens fünfhundert Franken gekostet, und da sie in fünf Jahren Summa Summarum nur zweiundvierzig und einen halben Franken zu diesem Zweck hatte sparen können, so gab sie den Gedanken auf. Wer erreicht denn je sein Ideal?

Etwas Einfacheres kann man sich nicht vorstellen, als das Schlafzimmer des Bischofs: eine Glasthür nach dem Garten; ihr gegenüber das Bett: ein eisernes Hospitalbett mit einem Himmel aus grüner Serge; im Schatten des Bettes, hinter einem Vorhang, Toilettengegenstände, die noch die feinen Gewohnheiten des ehemaligen Weltmannes verriethen; zwei Thüren, die eine in der Nähe des Kamins, die andre nach dem Betzimmer; ein großer Bücherschrank; ein marmorartig angestrichner Kamin aus Holz, wo gewöhnlich kein Feuer brannte mit zwei eisernen Feuerböcken; über dem Kamin ein kupfernes, ehemals versilbertes Krucifix, das auf schäbigem Sammet befestigt und von einem früher vergoldeten Holzrahmen umgeben war. In der Nähe der Glasthür ein großer Tisch mit Tintenfaß, unordentlich hingeworfnen Papieren und dicken Büchern. Vor dem Tisch der Strohsessel. Vor dem Bett ein dem Betzimmer entlehnter Betstuhl.

Neben dem Bett hingen auf jeder Seite zwei Porträts in ovalen Rahmen. Kleine Inschriften mit Goldbuchstaben zeigten an, daß das eine Porträt den Abt von Chaliot, Bischof von Saint-Claude, das andre den Abt Tourteau, Generalvikar von Agde, Abt von Grand-Champ, von dem Cistercienser Orden, darstelle. Diese Porträts hatte der Bischof, als er in dem Hospital Wohnung nahm, in dem ehemaligen Krankenzimmer vorgefunden und sie dort hängen lassen. Waren es doch Bildnisse von Priestern, die vielleicht dem Hospital Schenkungen gemacht hatten, zwei genügende Gründe die Portraits zu behalten. Alles, was er von diesen Prälaten wußte, war, daß der König sie an demselben Tage, dem 27. April 1785, in ihre Aemter eingesetzt hatte. Diese Notiz hatte der Bischof, als Frau Magloire die Bilder eines Tages heruntergenommen hatte, um sie abzustäuben, auf einem vergilbten, auf der Rückseite des einen Portraits aufgeklebten Stückchen Papier gefunden.

Am Fenster hing ein Vorhang aus grobem Wollstoff, der schließlich so alt wurde, daß, um keinen neuen anschaffen zu müssen, Frau Magloire sich genöthigt sah, mitten drin eine große Naht zu machen. Diese Naht bildete ein Kreuz, und der Bischof machte oft darauf aufmerksam, mit den Worten; »Wie gut sich das ausnimmt!«

Alle Schlafzimmer ohne Ausnahme waren wie Kasernenstuben und Hospitalsäle, weiß getüncht. Indessen fand, wie weiterhin ausführlicher erzählt werden soll, Frau Magloire unter den gestrichenen Tapeten in Baptistinens Zimmer Malereien vor. Das Gebäude war nämlich, ehe es als Hospital benutzt wurde, Rathhaus gewesen und aus jener Zeit stammte diese Verzierung des Zimmers. Der Fußboden in den Schlafkammern bestand aus rothen Ziegeln, die allwöchentlich gewaschen wurden und war vor den Betten mit Strohmatten belegt. Im Uebrigen herrschte in diesem Hause, wo zwei Frauen walteten, von oben bis unten die peinlichste Sauberkeit. Dies war der einzige Luxus, den der Bischof gestattete: »Das entzieht den Armen nichts«, sagte er.

Indessen muß eingestanden werden, daß ihm von seinem einstigen Reichthume sechs silberne Tafelbestecke und ein Suppenlöffel übrig geblieben waren, an deren Anblick Frau Magloire Tag für Tag ihre Augen zu weiden pflegte. Und da wir den Bischof so schildern wollen, wie er war, so müssen wir noch erwähnen, daß ihm mehr als einmal das Geständniß entschlüpft war: Es würde mir schwer werden, wenn ich dem Silbergeschirr entsagen müßte.

Außer diesem Tafelgeschirr besaß er noch zwei große Leuchter aus massivem Silber, die er von einer Großtante geerbt hatte. Diese Leuchter enthielten zwei Wachskerzen und prangten gewöhnlich auf dem Kaminsims. Hatte der Bischof einen Gast zu Tische, so zündete Frau Magloire die beiden Kerzen an und stellte die Leuchter auf den Speisetisch.

In dem Schlafzimmer des Bischofs selbst, über dem Bett, befand sich ein kleiner Wandschrank, in dem Frau Magloire jeden Abend das silberne Tafelgeschirr verschloß. Freilich, abgezogen wurde der Schlüssel nicht.

Den durch die schon erwähnten häßlichen Gebäude entstellten Garten durchkreuzten vier Alleen, die in der Mitte an einer Senkgrube zusammentrafen. Eine andre Allee zog sich um den Garten längs der Mauer herum. Diese Wege umschlossen vier mit Buchsbaum eingefaßte Quadrate. Auf dreien zog Frau Magloire Gemüse, das vierte Beet hatte der Bischof mit Blumen bepflanzt. Hier und da sah man auch Obstbäume. Eines Tages sagte Frau Magloire mit gutmüthiger Ironie zu dem Bischof: Ew. Bischöfliche Gnaden wissen Alles recht schön auszunutzen, haben aber doch das Beet da mit Blumen bepflanzt, die nichts einbringen. Es wäre besser, wenn Salat darauf wüchse.« Frau Magloire, entgegnete der Bischof, Sie haben da keine richtige Ansicht. Das Schöne ist ebenso nützlich, wie das Nützliche.« Dann nach einer Pause: »Vielleicht noch mehr.«

Dieses Beet, das aus drei oder vier Rabatten bestand, beschäftigte den Bischof beinah ebenso sehr, wie seine Bücher. Er arbeitete darauf täglich ein bis zwei Stunden, gätete Unkraut aus, beschnitt die Pflanzen, grub Löcher, in die er die Schößlinge steckte u. s. w. Aber die Insekten verfolgte er nicht so eifrig, wie es ein richtiger Gärtner für wünschenswerth gehalten hätte. Mit botanischen Kenntnissen glänzen zu wollen war auch nicht seine Sache; er kannte nicht die Klassifikazionen und den Solidismus, ließ sich nie darüber vernehmen, ob er es mit Tournefort halte oder für die natürliche Methode sei, ergriff nicht Partei für die Antherenschläuche gegen die Kotyledonen, noch für Jussieu gegen Linné. Er studierte nicht die Pflanzen, sondern liebte die Blumen. Er ließ Gelehrte und Ungelehrte unbehelligt, und begoß vor allen Dingen jeden Abend im Sommer sein Beet mit einer grünen Gießkanne.

Keine Thür im Hause war verschließbar. Die Thür des Speisezimmers, die, wie wir schon erwähnt haben, unmittelbar an den Domplatz stieß, war ehedem mit Schlössern und Riegeln versehen gewesen, wie eine Gefängnißthür. Alles dieses Eisenwerk hatte der Bischof abnehmen lassen, und seitdem blieb die Thür Tag und Nacht nur eingeklinkt. Der erste Beste, der des Weges kam, konnte sie aufmachen. Anfangs hatte diese unverschlossene Thür den beiden Frauen viel Sorge gemacht, aber der Bischof hatte gesagt: »Laßt Euch Riegel an Eure Thüren machen, wenn Ihr das wollt.« Schließlich hatten sie sich beruhigt oder stellten sich wenigstens so. Nur Frau Magloire hatte von Zeit zu Zeit noch Anwandlungen von Angst. Wie der Bischof über die Sache dachte, erhellt aus einigen Zeilen, die er in einer Bibel an den Rand geschrieben: »Der Unterschied ist der: Die Thür des Arztes soll niemals verschlossen, die des Geistlichen immerdar offen sein.«

In einem andern Buche, das den Titel »Philosophie der medizinischen Wissenschaft« führt, hat er geschrieben: »Bin ich nicht ebenso gut ein Arzt wie sie? Auch ich habe meine Kranken; zunächst ihre, die sie Patienten nennen, und dann meine eignen, die ich die Unglücklichen nenne.«

Und an einer andern Stelle: »Fraget nicht den, der Euch um ein Obdach bittet, nach seinem Namen. Gerade derjenige bedarf der Zufluchtstätte, dem sein Name Verlegenheiten bereitet.«

Es ereignete sich, daß ein würdiger Pfarrer, wahrscheinlich auf Antrieb der Frau Magloire, ihn fragte; ob Se. Bischöflichen Gnaden sicher seien nicht eine gewisse Unvorsichtigkeit zu begehen, indem Sie Tag und Nacht das Haus für Jeden, der hinein wollte, offen ließen, und ob Sie nicht fürchteten, es könne ein Unglück geschehen in einem so mangelhaft gehüteten Hause. Der Bischof klopfte ihn mit mildem Ernst auf die Schulter und citierte: »Wenn der Herr nicht das Haus behütet, wachen die Hüter umsonst.

Er behauptete gern, der Priester habe so gut seine Tapferkeit, wie der Dragoneroberst. »Nur muß unsere Tapferkeit, fügte er hinzu, eine ruhige sein.«

VII. Cravatte

Hier dürfen wir eine Begebenheit nicht unerwähnt lassen, die am deutlichsten die Charaktereigenthümlichkeiten des Bischofs von Digne erkennen läßt.

Nach der Vernichtung der Räuberbande, mit der Gaspard die Schluchten bei Allioules unsicher gemacht hatte, flüchteten sich die Ueberreste unter der Anführung eines gewissen Cravatte in das Gebirge. Nachdem er sich eine Zeitlang in der Grafschaft Nizza verborgen gehalten, glückte es ihm nach Piemont zu gelangen, und von dort aus erschien er plötzlich wieder in Frankreich, in der Gegend von Barcelonnette. Zuerst wurde er bei Jauziers, dann bei Tuiles gesehen. Darauf versteckte er sich in den Höhlen des Joug de l'Aigle, und von dort aus rückte er durch die Schluchten der Ubaye und der Ubayette bis nach Embrun vor und räumte eines Nachts die Sakristei des Domes aus. Seine Räubereien verbreiteten Schrecken über das ganze Land. Aber vergebens heftete sich die Gendarmerie an seine Fersen: Er entkam immer und bisweilen ließ er es sogar auf einen Kampf ankommen. In die Gegend nun, die Cravatte beherrschte, kam eines Tages der Bischof auf einer Reise nach Chastelar. Der Maire suchte ihn auf und rieth ihm umzukehren. Cravatte durchstreife das Gebirge bis nach l'Arche und darüber hinaus. Selbst eine Eskorte biete keine genügende Sicherheit. Man setze nur das Leben der armen Gendarmen unnützen Gefahren aus.

»Ich gedenke ja ohne Eskorte zu reisen,« erwiderte ihm der Bischof.

»Das kann nicht Ihr Ernst sein. Bischöfliche Gnaden.«

»Das ist so sehr mein Ernst, daß ich jede Begleitung entschieden ablehne und binnen einer Stunde aufbreche.«

»Bischöfliche Gnaden wollen wirklich eine so gefährliche Reise unternehmen?«

»Ganz wirklich.«

»Und allein?«

»Ganz allein.«

»Bischöfliche Gnaden, das werden Sie nicht thun.«

»Im Gebirge, erklärte der Bischof, ist eine bescheidne, ganz kleine Gemeinde, die ich seit drei Jahren nicht besucht habe. Es wohnen dort gute Freunde von mir, gutmüthige und rechtschaffne Hirten. Von dreißig Ziegen, die sie hüten, ist eine ihr Eigenthum. Sie verfertigen recht hübsche bunte Wollenschnüre und spielen Gebirgsmelodien auf der Flöte. Sie haben das Bedürfniß von Zeit zu Zeit das Wort Gottes zu hören. Was würden sie zu einem Bischof sagen, der sich fürchtet? Was würden sie sagen, wenn ich nicht zu ihnen käme?«

»Aber denken Bischöfliche Gnaden denn gar nicht an die Räuber?«

»Sie haben Recht, daß Sie mich an die erinnern. Ich könnte mit ihnen zusammentreffen. Auch sie haben es nöthig, daß sie etwas von Gott hören.«

»Herr Maire, vielleicht will mich unser Heiland grade über diese Heerde zum Hirten einsetzen.« Wer kennt die Wege der Vorsehung?«

»Bischöfliche Gnaden, das Gesindel wird Sie ausplündern.«

»Ich habe ja nichts.«

»Sie werden Sie totschlagen!«

»Ei was! Einen harmlosen alten Priester, der seine Gebete murmelt? Was hätten sie davon?«

»Mein Gott, wenn Bischöfliche Gnaden den Kerlen begegneten!«

»Dann würde ich sie um eine milde Gabe für meine Armen ansprechen.«

»Um des Himmels Willen, Bischöfliche Gnaden, reisen Sie nicht! Sie setzen Ihr Leben aufs Spiel!«

»Weiter nichts? Ich bin nicht auf der Welt um mein Leben, sondern um die Seelen meiner Nebenmenschen zu behüten.«

Man mußte ihn also gewähren lassen. Er brach auf ohne andre Begleitung als einen Knaben, der sich erboten hatte, ihn zu führen. Seine Hartnäckigkeit machte großes Aufsehen und erregte große Besorgnisse.

Seine Schwester und Frau Magloire nahm er nicht mit. Er ritt auf einem Maulthier über das Gebirge, begegnete Niemandem und kam wohlbehalten bei seinen guten Freunden, den Hirten an. Er blieb vierzehn Tage bei ihnen, reichlich beschäftigt mit der Vollziehung seiner Amtspflichten. Kurz vor seiner Abreise beschloß er noch ein Tedeum abzuhalten und sprach mit dem Dorfpfarrer davon. Aber ach! Es war kein bischöflicher Ornat aufzutreiben. Ein paar alte verschossene Damastgewänder mit falschen Tressen war alles, was die ärmliche Dorfsakristei ihm zur Verfügung stellen konnte.

»Gleichviel! sagte der Bischof. Herr Pfarrer, wir kündigen unser Tedeum trotzdem an. Die Sache wird sich schon machen.«

Man hielt Umschau in allen benachbarten Kirchen, aber alle Herrlichkeiten, welche diese dürftigen Gemeinden hätten aufbringen können, würden nicht zur angemessenen Bekleidung eines Domkantors ausgereicht haben.

Während man sich noch in vollster Verlegenheit befand, wurde von zwei unbekannten Reitern, die sich sofort wieder aus dem Staube machten, in der Pfarrwohnung eine Kiste für den Herrn Bischof abgegeben. Dieselbe enthielt einen Chorrock aus Goldstoff, eine mit Diamanten besetzte Bischofsmütze, ein Erzbischofskreuz, einen kostbaren Krummstab, Pontifikalkleider, überhaupt sämtliche Gegenstände, die vier Wochen vorher in der Notredamekirche zu Embrun gestohlen worden waren. In der Kiste lag noch ein Zettel, auf dem geschrieben stand: »Von Cravatte an den Herrn Bischof Bienvenu.«

»Sagte ich's nicht, daß die Sache sich machen würde? triumphirte der Bischof. Wer sich mit einem Pfarrerrock bescheidet, dem sendet Gott ein Erzbischofsgewand.«

»Gott – oder der Teufel«, entgegnete scherzend der Pfarrer, und schüttelte den Kopf.

Der Bischof sah den Pfarrer fest an und wiederholte mit Nachdruck: »Gott.«

Dieses Abenteuer hatte die Wirkung, daß er auf dem Rückwege und in Le Chastelar der Gegenstand der allgemeinen Neugierde war. Im Pfarrhause zu Le Chastelar traf er Fräulein Baptistine und Frau Magloire, die auf seine Rückkehr dort warteten, und sagte zu seiner Schwester: »Nun, hatte ich nicht Recht? Mit leeren Händen ist der arme Priester zu den armen Gebirglern gegangen und mit vollen Händen kommt er zurück. Ich nahm nur mein Gottvertrauen auf die Reise mit und bringe einen Domschatz nach Hause.«

Am Abend, ehe sie sich zur Ruhe begaben, sagte er noch:

»Fürchten wir nie die Räuber und Mörder. Die Gefahren, die uns von der Seite drohen, sind äußere, geringfügige. Fürchten wir uns vielmehr vor uns selber. Die Vorurtheile sind die wahrhaft gefährlichen Räuber, die Laster sind die Mörder. Die großen Gefahren lauern in uns. Gleichviel, wer unsre Habe und unser Leben bedroht! Denken wir nur an das, was unsre Seele gefährdet.«

Dann, zu seiner Schwester gewandt, fuhr er fort: »Liebe Schwester, der Geistliche darf nie Vorsicht gegen seinen Nebenmenschen gebrauchen. Was unser Nebenmensch thut, läßt Gott zu. Beschränken wir uns darauf zu Gott zu beten, wenn wir glauben, daß eine Gefahr uns naht. Beten wir nicht für uns, sondern, daß wir nicht unserm Bruder Veranlassung geben in eine Sünde zu verfallen.«

Im Ganzen war jedoch sein Leben arm an Ereignissen. Wir erzählen diejenigen, die zu unsrer Kenntnis gelangt sind; aber für gewöhnlich that er immer dieselben Dinge zu derselben Zeit.

Was wurde aber aus dem Schatz des Domes zu Embrun? Wir gestehen, daß diese Frage uns in arge Verlegenheit setzt. Diese verführerischen Kostbarkeiten legten nur allzu leicht den Gedanken nahe, sie zu stehlen und zum Vortheil der Armen in bares Geld umzumünzen. Gestohlen war sie ja schon so wie so. Zur Hälfte war die Sache schon gethan; das gestohlene Gut brauchte blos noch eine andre Richtung einschlagen und nur die kleine Strecke zu den Häusern der Armen zu wandern. Etwas Positives können wir darüber freilich nicht behaupten. Es hat sich nur unter den Papieren des Bischofs eine kurze Notiz vorgefunden, die sich vielleicht auf diese Angelegenheit bezieht. Sie lautet: »Die Frage ist, ob es dem Dom oder dem Krankenhaus zukommt.«

VIII. Philosophie bei Tische

Der Senator, von dem oben die Rede gewesen ist, war ein kluger Mann, der unbekümmert um gewisse Hindernisse, wie Gewissen, Treu und Glauben, Gerechtigkeit und Pflicht, sein Schifflein aufs Trockne gebracht hatte. Nie war er von dem richtigen Wege abgewichen, der ihn zu seinem Ziele, der Förderung seiner Interessen, führte. Dieser ehemalige Staatsanwalt, den der Erfolg gemächlich gemacht hatte, war kein schlechter Mensch, denn er erwies seinen Kindern, seinen Schwiegersöhnen, seinen Verwandten, ja sogar seinen Freunden alle nur möglichen Gefälligkeiten. Er hatte nur das, was das Leben Angenehmes bietet, Vergnügungen, Glücksgüter, Gelegenheiten sich emporzubringen, seiner Beachtung werth gefunden. Alles Uebrige kam ihm dumm vor. Er besaß Geist und war gerade belesen genug, um sich für einen Schüler Epikurs zu halten, während er seine Philosophie doch höchstens einem Pigault-Lebrun verdankte. Er spaßte oft und mit Behagen über alles Unendliche und Ewige, selbstverständlich auch über die »Grillen« des Herrn Bischofs. Und so sicher war er seiner Sache, daß er sich nicht scheute, seine Witze in Gegenwart des geduldigen Myriel selber zum Besten zu geben.

Bei einer halboffiziellen Festlichkeit mußte einst dieser Senator und der Bischof bei dem Präfekten diniren. Bei dem Dessert platzte der Senator, angeheitert wie er war, aber noch fähig eines gewissen Grades von Selbstbeherrschung, wieder einmal los:

»Seien wir gemüthlich, Herr Bischof, und plaudern wir frisch von der Leber weg. Ein Bischof und ein Senator können einander nicht leicht ansehen, ohne mit den Augen zu zwinkern. Wir sind zwei Augurn, und da, dächte ich, könnte ich Ihnen ja mal ein ausführliches Geständniß ablegen, wie ich als Philosoph die Welt betrachte. Ich philosophire nämlich auf meine eigene Weise.«

»Daran thun Sie recht, Herr Graf. Wie man philosophirt, so schläft man. Sie schlafen auf einem Purpurbett, Herr Senator.«

»Ich behaupte also, Herr Bischof, daß der Marquis d'Argens, Pyrrho, Hobbes und Naigeon keine Schafsköpfe sind. Ich halte ihre Werke in Ehren und besitze sie in meiner Bibliothek, in Gold gebunden. Diderot dagegen verabscheue ich. Der Kerl ist ein Ideologe, ein Phrasenmacher, ein Revolutionär, der im Grunde doch an Gott glaubt und bigotter ist wie Voltaire. Voltaire hat sich über Needham lustig gemacht, aber sehr mit Unrecht; denn Needhams Aale beweisen doch, daß Gott überflüssig ist. Ein Tröpfchen Essig in einen Löffel voll Mehl gegossen thut dieselben Dienste wie das fiat lux, das ›Es werde Licht‹ der Bibel. Denken Sie sich einen größern Tropfen und einen größern Löffel, so haben Sie die Welt. Der Mensch ist der Aal. Was brauchen wir also einen »ewigen Vater?« Mir ist Jehowa lästig. Wer sein Gehirn mit dergleichen Hypothesen zermartert, wird mager. Sonst kommt nichts dabei heraus. Nieder mit dem »All«, das mir meine Ruhe nimmt! Es lebe das Nichts, das mich leben läßt, wie es mir gefällt! Unter uns gesagt, und um mein Herz auszuschütten, meinem Seelenhirten pflichtgemäß zu beichten, gestehe ich, daß ich es mit dem gesunden Menschenverstand halte. Ich bin nicht in Ihren Jesus vernarrt, der ewig und immer Entsagung und Selbstaufopferung predigt. Damit mag ein Geizhals arme Teufel abspeisen. Ich beiße auf so etwas nicht an. Wozu entsagen? Weswegen sich für Andere opfern? Ich sehe nicht, daß ein Wolf sein Leben für einen andern Wolf hingiebt. Halten wir uns doch an die Natur. Wir gehören zu den höheren Ständen, befleißigen wir uns also einer höhern Philosophie. Wozu steht man oben, wenn man nicht weiter sehen will, als es den unten Stehenden genehm ist? Genießen wir das Leben. Dieses Leben ist alles, was wir zu gewärtigen haben. Denn daß der Mensch eine andere Zukunft habe, anderswo, oben, unten, sei es wo es will, davon glaube ich kein Sterbenswörtchen. Also man empfiehlt mir Selbstverleugnung und Entsagung, ich soll immer hübsch darauf achten, daß ich richtig handle, soll mir den Kopf zerbrechen über das Gute und das Böse, das Gerechte und das Ungerechte, das fas und nefas! Warum? Weil ich über mein Thun Rechenschaft ablegen muß? Wann? Nach meinem Tode. Wer das glaubt, dem träumt. Den möchte ich sehen, der mich nach meinem Tode zu fassen kriegt. Ein Schatten soll es bleiben lassen ein Häufchen Asche zu packen. Sagen wir es offen heraus, was das Wahre ist: Wir gehören zu den Eingeweihten, die den Schleier der Isis gelüftet haben: Es giebt weder Gutes noch Böses; was existirt, ist das Werden. Halten wir es mit dem Reellen. Gehen wir den Sachen vollständig auf den Grund, Teufel auch! Man muß nach der Wahrheit wittern, sie aus der Tiefe herauswühlen und sie festhalten. Dann macht sie Einem Freude! Dann wird man schlau und kann lachen. Einem gescheidten Kerl wie mir macht man nichts vor. Herr Bischof, der Glaube an die Unsterblichkeit der Seele ist eine unsolide Spekulation, ein fauler Wechsel. Auf das Versprechen fall' ich nicht rein. Wir sind jetzt Seelen und dermaleinst werden wir Engel sein, mit blauen Flügeln an den Schulterblättern und – so behauptet ja wohl Tertullian – von Stern zu Stern wandern. Gut. Wir werden einst die Sprengsel des Sternenhimmels sein. Außerdem werden wir Gott schauen. Larifari! Laß mich doch Einer zufrieden mit dem läppischen Geschwätz vom Paradiese und vom lieben Gott! Selbstredend werde ich dergleichen Ansichten nicht mit meinem Namen in den Zeitungen abdrucken lassen. Man flüstert so was nur seinem guten Freunde inter pocula ins Ohr. Die Erde für den Himmel hingeben heißt einen guten Braten fallen lassen, um dem Schatten desselben nachzujagen. Mit dem Unendlichen imponirt man mir nicht. Ich bin ein Nichts. Ich heiße der Graf und Senator Nichts. War ich vor meiner Geburt? Nein. Werde ich nach meinem Tode sein? Nein. Was soll ich auf dieser Erde thun? Ich habe die Wahl. Leiden oder Genießen. Ich habe mich für das Genießen entschieden. Man muß fressen oder gefressen werden. Ich ziehe vor zu fressen. Lieber Hammer als Ambos. So lautet mein Wahlspruch. Nachher ist's vorbei. Das Loch, in das uns der Totengräber legt, ist das Ende. Darüber hinaus liegt nur die Nacht, in der ein Nichts dem andern Nichts gleicht. Ob Einer ein Sardanapal oder ein St. Vincenz von Paula gewesen, Nichtse sind sie dann alle Beide. Dies ist die Wahrheit. Vor allen Dingen also soll man leben. Genieße dein Ich, so lange Du es hast. Ja ja, ich verstehe mich auf Philosophie; ich lasse mich nicht mit Alfanzereien an der Nase herumführen. Allerdings müssen die unten herumkriechen, die Hungerleider, die Unglücklichen, auch etwas haben. Denen tischt man Märchen auf, Phantastereien über die Seele, die Unsterblichkeit, den Himmel, die Sterne. Das schmieren sie auf ihr trockenes Brod. Wer nichts hat, der hat den lieben Gott. Den muß man ihm schon lassen. Damit bin ich auch einverstanden, aber Naigeon's Philosophie ist mehr nach meinem Geschmack. Der liebe Gott ist gut genug für das Volk.«

»Das nenne ich reden«, antwortete der Bischof und klatschte in die Hände. »Das ist ja ganz etwas Ausgezeichnetes, solch ein Materialismus. Solche Ansichten kann nicht Jeder haben. Ja, wer diese Weisheit besitzt, der läßt sich nicht mehr täuschen, der ist nicht so dumm, sich in die Verbannung schicken zu lassen wie Cato; der wird nicht gesteinigt wie der heilige Stephanus, nicht lebendig verbrannt wie Johanna d'Arc. Die das Glück gehabt haben, sich zu einem so herrlichen Materialismus emporzuschwingen, haben die Freude, jeder lästigen Verantwortlichkeit los und ledig zu sein. Sie dürfen ohne Gewissensbisse zugreifen; Alles in die Tasche stecken; Aemter, Sinekuren, Titel, Macht, ob mit guten oder bösen Mitteln erworbene. Sie dürfen ihr Wort brechen und Verrath üben, wenn es ihnen Nutzen bringt, und nachher, wenn sie sich am Tisch des Lebens recht voll gegessen, ruhig in das Grab steigen. Wie angenehm das sein muß! Ich beziehe dies nicht speziell auf Sie, Herr Senator, kann aber nicht umhin, Ihnen zu gratuliren, Ihr großen Herren habt, wie ihr sagt, Eure eigne und eigens für Euch ausgedachte Philosophie, eine besonders ausgesuchte, feine, nur den Reichen zugängliche, die alle Lüste des Lebens vorzüglich würzt. Diese Philosophie ist von besonderen Forschern aus den Tiefen des wahren Seins hervorgeholt worden. Aber Ihr seid gemüthlich und habt nichts dagegen, daß der Glaube an den lieben Gott die Philosophie des Volkes sei, ungefähr so wie bei den Armen Gänsebraten mit Kastanien den Truthahn mit Trüffeln vertritt, der nur auf den Tisch der Reichen kommt.«

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