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BEWEGTES FAMILIENLEBEN IN ZÜRICH UND MUTTERS TOD

Huber war in der ersten Zürcher Zeit voll Bewunderung für seinen grossen Bruder. Was er zeichnete, komponierte oder malte, alles schenkte er August, der ihn ebenfalls nach Noten verwöhnte.44 Als Huber ins Teenageralter kam, änderte sich allmählich der Ton zwischen den Brüdern, Eugen wurde im Gespräch mit August aufmüpfiger. Als eines Tages eine unbeliebte Speise aufgetragen wurde, behauptete August moralisierend, «er glaube es wäre für den Charakter von höchst guter Wirkung, wenn man sich erst recht widrige Speisen geben liesse, dass überhaupt sich selbst Unangenehmes zuzufügen zur Stärkung des Charakters beitragen müsste». Von so viel Stärkung des Charakters wollte Eugen Huber nichts wissen. «Ich entgegnete darauf, da könnte man ja aus gleichem Grunde sich das Haus anzünden, damit man durch dieses ‹Unangenehme› gebessert würde.»45

Nach Pauline ging auch Emma ihren eigenen Weg. Ihr Abschied von der Familie war für Huber bestimmt schwierig, war sie doch seine Vertraute, seine Lieblingsschwester. Schon zu Lebzeiten des Vaters hatte Emma gewünscht, Diakonisse zu werden, doch waren die Regeln strikt. Sie durfte erst im 21. Lebensjahr ins Diakoniewerk Neumünster bei Zürich eintreten.46 Am 16. Dezember 1864 hatte sie ihr Ziel erreicht, sie wurde aufgenommen. Nach erfolgreicher Probezeit wurde Emma am 5. Mai 1867 eingesegnet. Die Mutter mit ihrer freigeistigen Weltanschauung war empört: «Der zweite Conflikt, den ich erlebte, war die leidenschaftliche masslose Bekämpfung der Mutter gegen das Orthodoxe Emmas und seinem Eintritt ins Asyl. Ich erinnere mich böser Stunden, und verstand damals von allem nichts»,47 erzählte Huber später Lina. Nun, Mutter Huber war nicht die einzige, die sich über Emmas Entschluss wunderte. Auch Schaggi konnte der Sache nichts abgewinnen. «Mich dauert, dass deine Schwester Emma in ein solches Leben eingetreten, sie, früher so lebhaft und heiter, soll sich so zurückziehen. Nehme dagegen auch Theil an der Freude, die euch durch die Heimkehr Pauline[s] bereitet worden ist.»48

Emma hatte ihre Berufung gefunden. Der Familie standen jedoch aufregende Zeiten bevor. Kurz nach Emmas Einsegnung wurde 1867 die hoch ansteckende Cholera in Zürich eingeschleppt. Das Diakoniewerk stellte ein Absonderungshaus zur Verfügung. Ein Los bestimmte, welche vier Pflegerinnen zum lebensgefährlichen Einsatz kamen. Die Leitung überliess Gott die Entscheidung, wer sich der Krankheit auszusetzen hatte, die Wahl fiel unter anderem auf Emma Huber. Alle vier Frauen überlebten. Dies war umso erstaunlicher, als jedes Jahr eine Anzahl junger Diakonissen starb, die sich in irgendeiner Form bei Patienten angesteckt hatten.49 Das Diakoniewerk stand deswegen immer wieder in der Kritik der Öffentlichkeit.

Besonders dramatisch war die Auseinandersetzung zwischen Mutter Huber und ihrem ältesten Sohn August. «Mit August betraf es eine Liebschaft mit einer netten Jungfer aus nicht gerade best beläumdeter Familie, aber einem braven Kind, das August seit der Industrieschule liebte und zwar treu und unschuldig, doch aber verständlich genug ihr von Liebe gesprochen und volle Gegenliebe erfahren hatte.»50 Mutter Huber konnte sich nicht mit dem Gedanken abfinden, August, das Familienoberhaupt, an eine ökonomisch zweifelhafte Partie zu verlieren. «Sie kämpfte dagegen mit allen Waffen und August war anfänglich hartnäckig», doch hielt er dem Druck nicht stand und die Beziehung kühlte ab. Er stürzte sich «in einen andern Strudel hinein», verlor dabei seine Gesundheit, «was ihn zwang, den Gedanken der Heirath auf Jahre hinauszuschieben».51 Erst zu diesem Zeitpunkt bereute Mutter Huber ihr abweisendes Benehmen.

Huber schrieb über diese Jahre später: «Es waren die Zeiten, da ich nach den glücklichen Schulanfängen anfieng, liederlich zu werden, allen fantastischen Erfolgen nachzujagen und anderes mehr. Meine Natur wehrte sich unter dem Einfluss der ruhelosesten häuslichen Vorkommnisse. Keine Liebe, kein Glück wurde mir zuteil.»52 Trotz allem ergriff Huber stets die Partei der Mutter.

Auch wenn Hubers Tagebuch vor allem unerfreuliche Vorkommnisse aufzeichnete, bestand sein Leben nicht nur aus Trübsinn. Mit seinen Freunden oder im Familienkreis unternahm er immer wieder kleinere oder grössere Reisen. Im Sommer 1866 begleitete er seine kränkliche Mutter nach Seelisberg. «Ich war nach Familienbeschluss zum Kavalier auserkoren, nahm voller Freude den Posten an.» Auf der Hinreise besuchten Mutter und Sohn in Luzern das Löwendenkmal. Gemeinsam fuhren sie auf das Rütli, «wo mich so recht die alt schweizerische Idee umwehte, wie sie alle, die Altväter da kamen und die Freiheit schworen, die wir Schweizer alle noch so tief lieben und für sie zu siegen, oder aber zu sterben bereit sind: wir schritten vorwärts, besuchten nacheinander die schönsten Plätze … von denen ich einige gezeichnet».53 Huber, ein typisches Kind seiner Zeit, liess sich von patriotischen Gefühlen hinreissen. Mit einem Urner Bergführer durfte er den Bauen besteigen. Als er nach dem Abstieg ins Hotel zurückkam, spielte jemand Klavier und Huber bedauerte, seine Flöte in Zürich gelassen zu haben.

Im Frühling 1868 richteten sich Mutters Zornesausbrüche unvermittelt gegen Eugen. Er beschloss, zu seiner Schwester nach Ägypten zu fliehen. «Es war alles angeordnet und das Geld schon gestohlen»,54 doch kam er mit seinen Plänen bei der Mutter schlecht an. «Da will ich ihr, der Mutter, ganz klar, die Gründe, anstatt nur den Plan angeben. Sie hört eine Weile – und dann werd ich Jesuit gescholten und verketzert. Auch August hilft! Ich bin ein Lümmel, gefehlter Bursche – und Herr Gott – so arg! Mit Prügeln hätte mich die Mutter traktiert, wenn ich nicht geflohen wäre! Und das um Nichts! Um die vernünftige Frage und Bitte!» Mutter Huber war derart aufgebracht, dass sie Trost bei ihrer Schwester in Höngg suchte «und erzählt die Sache dort natürlich nach ihrem Kopfe, mit ihrer Färbung. Auch dort hat sie mich als Jesuit verschrien! Oh! Oh! August verbietet mir, noch ein Wort von der Sache zu schwatzen. Mutter kommt und triumphiert, wie sie es denen in Höngg gesagt und sie ihr geholfen haben. – Oh das alles ertragen müssen an einem Tage! Wo ist ein Ausweg? Wo eine Rettung? Mich tödten? In die Limmath springen?»55 Nun, Huber beruhigte sich wieder. Typisch für die damalige Zeit und Mutters Einstellung ist auch die Verwendung des Begriffs «Jesuit» als Schimpfwort. Noch waren die Wunden des Sonderbundkriegs nicht verheilt.

Vor diesem Auftritt hatte Huber Pauline in Alexandria umsonst um Hilfe gebeten. «Wie erstaunt es mich, dass die Mutter wieder solche Scenen anfängt, besonders mit Dir, da Du ja bis dahin so bevorzugt warst. Diese Heftigkeiten sind eine Art Krankheit und es wird so Gott will, auch wieder ein Ende haben.» Interessant ist Paulines Vergleich von Männer- und Frauenkarrieren. «Du bist zu jung, um selbständiges Auskommen zu finden (die Frauen können das in deinem Alter, aber von den Männern wird mehr verlangt). Vor Allem … musst du an die Universität gehen, wenn das nicht geschieht, ist deine ganze Zukunft vernichtet.» Und dann spielte die Familiensolidarität. Pauline, die ihr Brot derart mühsam verdienen musste, erklärte sich bereit, 1000 Franken jährlich beizusteuern, damit Huber an einer Universität studieren könne. «Wie traurig ist unsere Familie, ich weiss, dass man so weit getrieben werden kann, dass man nicht mehr weiss, was man thut … ich würde Alles geben, dass du ein wahrhaft gebildeter junger Mensch wirst.56 Paulines Schreiben beruhigte Huber – wenigstens vorläufig. «Es hat mich dies wie der ganze Ton des Briefes ungemein gefreut und ich habe gleich geantwortet: ich erkenne, dass bei der Mutter diese Zornesausbrüche mehr Krankheit als bewusster Herzensakt seien, darum bleibe ich»,57 rapportierte er Kleiner. Ob Mutters Ausbrüche bereits Vorboten ihrer Krebserkrankung waren?

Huber beschrieb Lina, wie wenig er die Krankheit seiner Mutter verstand: «Da sie als Witwe an der grässlichen Krankheit von keinem ihrer erwachsenen Kinder begriffen, langsam, langsam dahin starb. Auch ich verstand sie zu spät, als sie mir sagte, sei brav – und weiter nichts.»58 Voll Hoffnung las er der Patientin sein neuestes Drama vor, «Die Böcke von Zürich, ein Schauspiel aus den Zeiten des alten Züricher Krieges». Die Mutter hatte alle ihre literarischen Arbeiten vernichtet und mochte ihren Sohn nicht aufmuntern. «Sie lag auf ihrem letzten Krankenlager, als ich ihr meine ‹Böcke› vorlas, und sie meinte, das sei alles recht hübsch, aber der Erfolg! Das sei eine bittere Sache.»59

Emma wurde zur Pflege der Todkranken nach Hause geholt. «Wir haben gar schon viel miteinander getheilt und die Zeit, die ich bei Hause zubrachte, als die liebe Mutter so todkrank und leidend war, wird mir unvergesslich bleiben, umso mehr, da ich spürte, dass du mit mir gefühlt hast, auch ohne Wort.»60 Die Erfahrung der entsetzlichen Krankheit schweisste Bruder und Schwester zusammen.

Im Alter von 20 Jahren war Huber nun Vollwaise. Im Gegensatz zu Lina hatte er dank Augusts Fürsorge ein Heim. Zudem erhielt er eine bescheidene Erbschaft. Er beschloss, das ganze Geld in sein Studium zu investieren. Kurz nach Mutters Tod verreiste Huber zu seinem Auslandjahr nach Berlin. Das Dichten gab er bis auf Weiteres auf.61 Ein neues Leben begann.

DIE BOLLEREI: LINAS LEBENSSCHULE UND ZWEITE HEIMAT

Am 14. März 1866 kam Lina zu Familie Vontobel in der Bollerei,62 ein «sehr besuchtes» Lokal, dessen «guter Mittagstisch und Bier» der Reiseführer anpries.63 Inzwischen war Lina etwas mehr als 14 Jahre alt und seit acht Monaten Vollwaise. Lina hatte genug vom täglichen Streit zwischen Schwester und Schwager, die sich «sogar einigemal schlugen. Du kannst dir kaum vorstellen», schrieb sie an Huber zurückblickend, «was ich damals gelitten, als Kind von 14 Jahren, ich zog daher vor, lieber zu ganz fremden Leuten zu gehen und kam so vom Regen in die Dachtraufe, zu H[errn] Vontobel».64

Der Einstieg in die Berufstätigkeit war schwer, das junge Mädchen erledigte die Arbeit einer Erwachsenen. Ihre ersten Erfahrungen geben einen traurigen Eindruck von der damals üblichen Kinderarbeit. Umsonst hatte sich Lina häuslichen Frieden erhofft. «Schon am ersten Samstag, den ich in der Bollerei verlebte, sollte ich ein Bild dieser Ehegatten mir entwerfen. Nach Feierabend etwa um ½ 12 Uhr fieng ich an, die Treppe nebst Hausgang zu fegen und putzen. Ich hielt während der Arbeit einigemal inne, denn ich hörte laut sprechen, machte aber wieder fort und kam so herab bis zur Stubenthüre; ich öffnete um fertig zu machen und hörte die rohesten Worte, die nur ein Fuhrmann sonst gewöhnlich gebraucht und die arme Frau V[ontobel] unter Thränen antworten: ‹Es ist ja schön, dass das junge Kind noch so spät arbeitet.› Nun wusste ich, um was es sich handelte. Dies war die erste Scene, die ich im Vontobelschen Haus erlebt, und nun nahm ich mir fest vor, die nächsten 8 Tage nimmer dort zu sein. Und doch wurden 8 Jahre daraus.»65

Schwester und Schwager wollten sie zurückholen, doch «so sagte ich mir, nein, lieber bei dieser Arbeit fast zu Grunde gehen, als in eurem Streit leben».66 Zu Beginn war Herr Vontobel unerbittlich. Schaute Lina zum Fenster hinaus, um zu sehen, wie Schwager Blatter als Kondukteur mit dem Omnibus der Linie Central-Tiefenbrunnen vorbeifuhr, rief sie der Wirt barsch zurück. «Ich begreife täglich weniger, wie ich in diesem Sklavendienst so lange ausgehalten. Wenn auch die letzten paar Jahre nimmer waren, was die früheren, so war doch Vieles zu wünschen»,67 kommentierte sie in der Rückschau. Als sich die Verhältnisse allmählich besserten, schuftete sie zwar weiterhin bis zur Erschöpfung und war oft kränklich, inzwischen jedoch anerkannten und schätzten Vontobels ihre Tüchtigkeit. «In den Räumen wirkte eine liebliche Erscheinung besonderer Art. Eine arme Waisentochter war von den Wirtsleuten sozusagen an Kindesstatt angenommen worden und wurde von ihnen gepflegt und besorgt»,68 berichtete Hubers Juristenfreund Emil Zürcher in einem Brief an seine Verlobte.

Ansehen genoss eine Kellnerin in der bürgerlichen Gesellschaft kaum, dieser Beruf lag nahe bei der Prostitution. Allein die Tatsache, dass eine Frau ausser Haus arbeitete, war für sie schlimm genug. Lina kannte die Vorurteile und achtete konsequent auf ihren guten Ruf. Das Schicksal ihrer Schwester Emma hatte ihr drastisch vor Augen geführt, in welch wirtschaftliche und soziale Bedrängnis eine junge Frau geriet, die vom Pfad der Tugend abkam. «In dieser … gewiss nicht immer angenehmen Stellung wusste sie sich mit einer solchen Würde zu bewegen, dass sie allen imponierte und … dass Niemand es gewagt hätte, in ihrer Nähe nur unziemlich zu denken, geschweige denn zu reden.»69 Als Fabrikarbeiterin hätte sie sich zwar nicht in gleichem Mass auf moralischem Glatteis bewegt, wäre jedoch ausschliesslich mit Frauen oder Personen aus ihrer eigenen sozialen Schicht in Kontakt gekommen. Selbst finanziell hätte sie sich um einiges schlechter gestellt.

Im Wirtshaus dagegen verkehrte Lina unter Männern und traf regelmässig auf interessante Persönlichkeiten in verantwortungsvoller Stellung. Die Bollerei wurde, wie Emil Zürcher schrieb, «von den geachtetsten Einwohnern Zürichs» besucht, etwa von Staatsschreiber Gottfried Keller, dem Präsidenten des Obergerichts Honegger, es kamen «Majoren und anderes Militär, Professoren», wie Stararchitekt Gottfried Semper vom Polytechnikum. Unternehmer vom linken Zürichseeufer, Politiker und Studenten tranken regelmässig ihr Bier an der Schifflände. Nach Linas Tod erinnerte sich Professor Escher an seine Jugendjahre und an «das Bild des feinen, schlanken Mädchens … das seinem zierlichen, freundlichen und doch so sicheren Wesens halber aller Liebling war».70 Oder nochmals Zürcher: «Sie war eine tüchtige Arbeiterin und ihre anmuthige Erscheinung hatte so manchen jungen und alten Mann an den Ort gefesselt und die Stube mit Stammgästen gefüllt.»

Nie hätte sich eine behütete höhere Tochter in einer solch vielfältigen, illustren Gesellschaft bewegen können. Bei Privateinladungen verabschiedeten sich die Herren nach dem Essen ins Raucherzimmer und führten dort ihre ernsthaften Gespräche, die Damen überliessen sie dem Kaffeeklatsch. Anders lag der Fall bei Lina. Während sie die Herrschaften bediente, hörte sie deren Diskussionen, Neckereien, Meinungsverschiedenheiten und oftmals auch mehr oder weniger alkoholbedingte Streitereien. Ihr wacher Geist erhielt unzählige Anregungen und entwickelte dabei Verständnis für politische Zusammenhänge. Der kritische Huber anerkannte rückblickend: «Du hast, meine Lina, den Menschenschlag der Politik in deiner früheren Stellung von einem eigenen Standpunkt aus zu beobachten Gelegenheit gehabt.»71

Vielen Gästen in der Bollerei war Lina mehr als eine Kellnerin; bei den einen erkundigte sie sich, wann ihr Schiff fahre, andere fragte sie, wann sie ins Theater oder ins Konzert wollten, um ihnen dann ihr Essen rechtzeitig zu bringen. Lina war sich ihres Ansehens bewusst: «Schon viele, viele Anträge sind mir gemacht worden in Hotels, Gasthöfen, Cafés, doch mein Plan, das Wirtschaftsleben aufzugeben, wird dadurch nicht geändert.»72 Sie träumte von einer leichteren Verkaufsstelle in einem Geschäft, wo sie auch das Handarbeiten erlernen könnte. Ihre Freude an solchen Arbeiten war auch den Gästen in der Bollerei bekannt. Der Mitarbeiter eines Seidengeschäfts brachte ihr jeweils kleine Restchen mit, die sie dann zum Beispiel in ein Fensterrouleau verarbeitete.73

Lina hatte einen lebensfrohen Charakter, wie ihre Schilderung der Silvesternacht 1873/74 belegt: «Und wage es auszusprechen, dass durch mich auch die allgemeine Fröhlichkeit bei den Gästen wachgerufen wurde.»74 Um halb sechs Uhr morgens kam sie endlich ins Bett, zweieinhalb Stunden später war sie wieder an der Arbeit.

Manchmal jedoch trauerte Lina ihrer verpassten Jugend nach: «Ich gelangte namentlich in jener Zeit zu der Einsicht, wie hart das Schicksal doch mit mir verfahren, wenn ich sah, wie viele junge Mädchen meines Alters in Zerstreuungen und Vergnügen ihre schönen Jahre verbrachten, während ich eigentlich so viel wie nichts vom Leben genossen.»75 In anderem Zusammenhang klagte sie: «Ich, die ich beinahe meine Gesundheit, meine schönen jungen Jahre dem Geschäft geopfert.»76

Lina beobachtete ihre Kunden scharf, und es ist zu vermuten, dass ihre verblüffende Menschenkenntnis auf die Erfahrungen im Wirtshaus zurückgeht. Typisch ist ihr Urteil über einen Herrn Zundel von der Bahnhofstrasse, mit dem Linas künftige Schwägerin Anna 1875 Probleme bekam. Während Familie Huber den Fehler bei Anna suchte, äusserte sich Lina skeptisch. Sie glaubte, «dass dieser Herr sicherlich nicht das Solideste sei in moralischer Beziehung». Zwar benahm er sich im Restaurant korrekt, «allein sein Blick, sein ganzer Körper, seine Sprache machten mich manchmal stutzen, weil ich es nicht im Zusammenhang mit seinen Reden fand; er wollte immer Moral predigen und das langweilte mich oft an ihm».77

In der Bollerei hatte Lina stille und weniger stille Verehrer. «Ich bewegte mich in einem Kreis, der wenngleich keineswegs beneidenswerth, doch derart war, mich meine verfehlte Erziehung nicht so fühlen zu lassen, wie ich erst später eingesehen. Ich hatte eine kleine Welt um mich gesammelt, die tagtäglich um mich war und sich bemühte, durch freundliche Worte, durch aufmerksame Bewunderung meines andauernden Fleisses und meines wenigstens äusserlich immer guten Humors, mich zu achten und zu bewundern. Das fühlte ich wohl, dass in dieser Art von Bewunderung immer ein klein wenig von Liebe vorhanden war, ist ganz klar, und in diesem Bewusstsein, geliebt und geachtet zu werden, trotz des schwierigen Berufes, vergingen die Tage.»78 Von ihrer Liebe zum Medizinstudenten Otto Stoll und von Gottfried Keller wird noch die Rede sein.79

Als Huber im November 1871 einen ersten schriftlichen Annäherungsversuch wagte, wimmelte ihn Lina energisch ab, seinen Schutz brauchte sie nicht. Ausführlich verwies sie auf das gute Verhältnis zur Familie Vontobel und insbesondere auf die enge Beziehung zur Wirtin. «Ich bin schon zu lange bei Herrn Vontobels, als dass ich denken müsste, wenns mit meiner Gesundheit schlimmer gienge, dass mich namentlich Frau Vontobel so gut als Ihr [sic] nur möglich, mich verpflegen würde …»80 Lina hatte nicht übertrieben. Im Juni 1872 schickten Vontobels sie zur Erholung ins sogenannte Nidelbad oberhalb von Rüschlikon. Die Wirtsleute kannten auch Linas kulinarische Vorlieben. «Wenn man mir in der Bollerei ein Fest machen wollte, so liess man mir nur eine grosse, mit viel Zwiebeln gebratene Bratwurst mit Blumenkohl oder Kartoffeln machen. Sowohl Herr als auch Frau V[ontobel] wussten das; und währenddem Fr. V. einmal eine Woche lang im Bett war, bestellte mir H[err] V[ontobel] jeden Abend das gleiche, so dass ich zuletzt so satt von Bratwurst war, dass ich lange keine mehr Essen [sic] mochte.»81

Nach der Vorladung Hubers ins Obmannamt war Lina zutiefst besorgt: «Seit Sonntag Nachmittag muss auch Fr[au] Vontobel ernstlich das Bett hüten. Es macht mich sehr bange um sie, denn sie liegt beständig in Fiebern, so dass der Arzt 2 bis dreimal täglich kommen muss.»82 Und am folgenden Tag: «Mit meiner armen Frau Vontobel stehts sehr schlecht, denn kaum noch glaubten wir gestern Abend, dass sie die Nacht noch verlebe. Heute früh ist sie sehr schwach, liegt in beständigem Fieberzustand von 39 bis 40 Grad. Die Arme, könnte ich ihr helfen. Herr V. geht’s auch sehr schlimm.»83 Während Huber in Bern auf Liebesbriefe hoffte, betreute Lina eine Sterbende. «Dieser Tag wird mir zeitlebens im Gedächtnis sein, denn jeder Augenblick drohte ihrem armen Leben ein Ende zu machen. … Um mich darfst Du Dir nicht bange sein, solange ich meine gehörige Nachtruhe habe so geht’s noch immer an. Es ist mir nicht möglich, länger zu schreiben, ich werde an die Arbeit gerufen.»84 Erst ein Jahr später fand sie in Genf die Kraft, Huber die schmerzlichen Stunden zu schildern: «Gegen 9 Uhr lag sie todt in meinen Armen, ich küsste ihre Leiche und war so betrübt, dass ich lebhaft wünschte mit ihr folgen zu können. Die vorhergehende Nacht wachte ich bis Morgens um 5 Uhr, nachdem den ganzen Tag in Angst und Kummer verbracht; die Diakonisse war so abgespannt, dass sie unmöglich eine 3te Nacht durchwachen konnte und so war ich gerne bereit sie abzulösen.»85 Friederike Vontobel-Boller starb im Alter von 50 Jahren.86 Lina hatte ihre mütterliche Freundin verloren. In ihrer literarischen Bildung und ihrem Umgang mit den Gästen war sie ein Vorbild für Lina. Lina kam nicht mehr dazu, mit ihr über ihre Beziehung zu Huber zu sprechen. Was hätte ihr wohl Frau Vontobel geraten?

Dank Gottfried Keller sind Einzelheiten aus dem Leben von Friederike Vontobel überliefert: Im Rahmen einer Publikation von Kellerbriefen veröffentlichte die Zeitschrift «Deutsche Dichtung» im Oktober 1890 eine Ode an Frau Vontobel. Am 26. Dezember 1873 hatte Keller diese Dichtung seinem Freund Friedrich Theodor Vischer87 zugeschickt, «ein wirkliches Biedermeierprodukt … vom rüden und borstigen Dr. Meyer genannt Schneckenmeyer»,88 kommentierte Keller boshaft. Arnold Meyer, Privatdozent am Polytechnikum, war Frau Vontobels Bewunderer.

«Nachruf an Frau Vontobel89

O Schicksal, an dem Menschenwille So schnell und unerwartet bricht!

Nun steht dies Herz für immer stille,

Das nur geschlagen für die Pflicht!

Du gehst dahin zum ew’gen Frieden

Als du ganz nahe sahest schon

Des Abends würdge Ruh hinieden

Als langen treuen Wirkens Lohn!

Geboren in des Wohlstands Schoosse,

Geadelt durch des Geistes Weh’n

Hast du, verfolgt von schlimmem Loose,

Das Glück stets nur von fern geseh’n.

Als Mädchen schon sahst du sie sterben

Die Rosen, die der Lenz uns bringt:

Kaum will dein Liebster um die werben,

Als seine Todtengloc’ erklingt.

Den Zweiten kannt’ ich: Freund der Wahrheit,

Als Mann noch voll von Ideal

War er erwacht zur Lebensklarheit

Als er erlag der Herzensqual.

Da weintest du; die letzte Flamme

Erlosch in dir mit seinem Tod;

Doch geistesstark wardst du zur Amme

Der Deinen nun, im Kampf ums Brod.

Und als sie beide leise wallten

Vom Lebe hin zur Ewigkeit

Sah man dich ruhlos um sie schalten,

Als Schwester der Barmherzigkeit.

Zum Abend wurde so dein Morgen,

Doch als du lebtest neuer Pflicht,

Beladen nun mit neuen Sorgen,

Ward deiner Gäste Kreis dein Licht.

Da kommen sie von allen Enden,

des Mittags und des Abends früh

Zum trauten Port der ‹…-Länden›

Zum Ausruhn von des Tages Müh.

Der Fabrikant, des Staates Leiter,

Der Studio voll der Illusion.

Der Philosoph, der Handarbeiter

Und auch der Schiffahrt derber Sohn.

Und soviel Freunde als der Gäste

Gewannst du dir, so schlicht und recht,

Denn jeden grüsstest du auf’s Beste,

Ob reich, ob arm, ob Herr, ob Knecht.

Gern nahmst du, wenn’s die Zeit erlaubte,

Theil an Gesprächen ernster Art;

Es sagte jeder, was er glaubte,

und widersprachst du, war es zart.

Und weisst du noch, vor vielen Jahren,

Als Vischer unsern Kreis beehrt,

Wie freudig überrascht wir waren,

Als du aus Klopstock ihn belehrt?

So warst du stets ein Bild der Milde,

Gekrönt durch edle Festigkeit.

Drum lieben wir dich noch im Bilde,

Fort, lange über deine Zeit.

So ruh denn sonst im Schooss der Erde,

Du wackre Wirthschaftsführerin;

So lange ich noch leben werde

Kommt ‹Rikli› mir nicht aus dem Sinn.»

Auf den 1. Januar 1874 übernahm eine neue Gerantin, Frau Weiss, das Lokal. Noch stand Lina der Abschied von Herrn Vontobel bevor. Dieser litt an einer schlimmen Erkrankung der Blase.90 Wiederum erlebte Lina Dramatisches: «Die Augen sind schon ganz trübe, die Kräfte nehmen von Stunde zu Stunde ab … Etwa um 1 Uhr in der Nacht ging ich noch zu ihm um zu sehen, wie es gehe und erhielt zur Antwort: Lina, ich muss bald sterben, es währt immer lang.»91 Der qualvolle Todeskampf zog sich über zwölf Stunden hin. David Vontobel war bereits bewusstlos, als sein Bruder auftauchte. Kaum hatte der Wirt den letzten Atemzug getan, nahm der ungebetene Besucher die Schlüssel ab, packte allerhand ein, selbst den Ehering der verstorbenen Frau Votobel liess er mitlaufen und wollte sich eben davon machen. Inzwischen war Lina aufs Waisenamt geeilt und kam mit dessen Direktor zurück. «O! es war grässlich solch ein Aufzug neben einer Leiche!»92 Der «schöne Bruder» musste seine Taschen leeren.

Ihre Wertpapiere hatte Lina bei Herrn Vontobel hinterlegt. Wenige Tage vor seinem Tod übergab er ihr die Unterlagen, ihren ausstehenden Lohn und ein Neujahrsgeschenk. Gross war Linas Überraschung, als sie einige Wochen später erfuhr, dass David Vontobel ihr testamentarisch tausend Franken vermacht hatte. Das war ein Drittel ihres Vermögens, das sie später in die Ehe einbrachte.

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9783039199105
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