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AUSBRUCH AUS ALTSTETTEN: DIE GROSSFAMILIE HUBER

Im Gegensatz zu Lina spielten familiäre Bindungen und Verpflichtungen in Hubers Biografie eine zentrale Rolle. Der junge Eugen profitierte von diesem engmaschigen Netz. In erster Linie kümmerte sich sein älterer Bruder August (1841–1914) um ihn. Ebenso durfte Huber stets auf die materielle oder zumindest moralische Unterstützung durch Onkel und Tanten zählen. Später, nachdem er selbst zu Ansehen und Wohlstand gekommen war, erwarteten vom Schicksal weniger begünstigte Verwandte ihrerseits seine Solidarität. Huber drückte sich nicht vor dieser Pflicht, half gerne mit Rat und notfalls auch mit finanzieller Tat. «Wenn es den einen Familienmitgliedern gut geht, und anderen schlecht, so gehört man doch zusammen, mag auch noch so sehr diese Verschiedenheit des Schicksals in den Vorzügen oder Mängeln der Personen begründet sein. Also nimmt man es hin wie anderes, das einem trifft.»31

Es wäre verfehlt, solch traditionelle Strukturen in allzu rosigem Licht zu sehen. Erbschaftsstreitigkeiten vergifteten Beziehungen, Mädchen wurden oft verheiratet, bevor sie die Volljährigkeit erreicht hatten, Geldgeber fühlten sich bemüssigt, bei den Empfängern ihre Vorstellungen vom richtigen Leben durchzusetzen. Finanzgeschäfte führten regelmässig zu innerfamiliären Konflikten. «Es ist eine dumme Geschichte, aber sie liesse sich voraus sagen. Drum wollen wir jeden Falls klug sein, keine zu grosse Freundschaft anfangen, dann kann man auch in keine Ungelegenheiten kommen»,32 kommentierte Hubers Schwester Anna den Streit zwischen dem Onkel in der Enge und der Familie der Tante in Wiedikon wegen eines Darlehens.

Ein Blick auf Hubers Stammbaum (siehe S. 250/251) soll helfen, die komplexen familiären Verhältnisse etwas zu entwirren. Sowohl Hubers väterliche wie die mütterlichen Vorfahren lebten auf dem Land. Vater Hans Conrad Huber (1813–1862) und Mutter Anna Widmer (1818–1869) verbrachten Kindheit und Jugend in ihrer Heimatgemeinde Altstetten, bis 1934 ein eigenständiges Dorf nahe der Stadt Zürich. Anlässlich der Volkszählung von 1836 lebten 992 Personen im Dorf, 1850 noch 959. Zu den Auswanderern zählten auch Hubers Angehörige.

Hubers Eltern kamen in der Epoche der städtischen Vorherrschaft zur Welt. Seit Generationen behinderten Gesetze zugunsten der Stadt die Landschaft in ihrer Entwicklung. Eifersüchtig verteidigte Zürich seine Privilegien, doch liess sich die Landbevölkerung im 19. Jahrhundert nicht mehr ohne Weiteres bevormunden. Am sogenannten Ustertag, dem 22. November 1830, versammelten sich rund 10 000 Männer zu einem Protestanlass in Uster und verlangten eine neue Verfassung. Es war die Wende zum modernen Kanton Zürich. Die Kantonsverfassung von 1832 sicherte die politische Gleichstellung von Stadt und Land, 1837 war der wirtschaftspolitische Einfluss der städtischen Zünfte endgültig gebrochen. Zu diesem Zeitpunkt hatte Hubers Vater bereits seine erste Arzpraxis in Altstetten eröffnet. Der Aufstieg der Familie Huber ist typisch für die historische Entwicklung dieser Zeit.

Der Nachruf auf Hubers Vater aus der Feder seines Jugendfreundes Johannes Wyss-Schneebeli (1813–1898) gibt Auskunft über Hubers Grosseltern David (1786–1856) und Dorothea Huber (1790–1843): «Sein Vater war ein sehr ehrenwerther Arbeiter in einer Cattunfabrik, welcher gegen 40 Jahre täglich auf eine Stunde Entfernung in unentwegter Treue und mit der grössten Regelmässigkeit in dem nämlichen Geschäftshause seiner Arbeit und seinem mässigen Verdienste nachging.» Baumwolle, Cattun, war in unsern Breiten etwas Neues und fiel daher nicht unter die Regulierung durch die Zünfte. «Seine Mutter, eine stille, sorgsame Hausfrau und ihm vor allen verehrungswürdig.»33

Die Familie Huber lebte offenbar in engen materiellen Verhältnissen, dennoch finanzierte David Huber weitblickend seinen Söhnen das Erlernen eines Berufs. Damals schuldete der Lehrling dem Meister ein Lehrgeld und es spricht für die Offenheit der Eltern, dass sie in eine bessere Zukunft investierten und ihre Jungen nicht in die Fabrik schickten. Hans Conrad Huber, Eugens Vater, und seine Brüder Hans Heinrich (1814–1885) und David (1819–1880) nutzten die Chancen, die sich den Landbewohnern aufgrund der veränderten politischen Verhältnisse eröffneten. Die Brüder erlernten ein Handwerk. Hans Heinrich wurde Schreiner und blieb in Altstetten. Seine Geschwister wanderten in benachbarte Dörfer aus, die heute ebenfalls Teil der Stadt Zürich sind, Hans Conrad wagte sich gar bis ins Weinland. Der Jüngste der Familie, Spenglermeister David, lebte mit seiner Frau in der Gemeinde Enge und brachte es dort bis zum Friedensrichter.34 Da er kinderlos starb, ging ein Teil seines Erbes auf Kosten der Witwe an Neffen und Nichten, so schrieb es das Gesetz vor. Hubers Bruder August notierte zufrieden: «Ein über Erwarten günstiges Erbe.»35

Hubers Tante Regula (*1817), die einzige Tochter der Grosseltern David und Dorothea Huber, verheiratete sich mit Johannes Abegg aus Wipkingen. Auch sie verliess Altstetten, lebte in Wiedikon und starb früh. Regula Abeggs Nachkommen wurden erfolgreiche Kaufleute, die teils in Zürich, teils in Japan Karriere machten, es zu beträchtlichen Vermögen brachten und mit Huber lockere Kontakte aufrechterhielten.

Hans Conrad, Hubers Vater, der Älteste der Familie, verfolgte ehrgeizige Pläne: «In trautem Familienleben entwickelte sich rasch des lebhaften Knaben erste Anlagen; früh schon stand ihm als höchster Lebenswunsch das Ziel vor Augen, Arzt zu werden, und die begeisterte Ausdauer dieses jugendlichen Willens veranlasste denn auch seine Eltern, ihm alle zu jener Zeit [in den 1820er-Jahren] in ländlichen Verhältnissen mögliche Schulbildung zu theil werden zu lassen. Später lernte er dann als Externer eines Privatinstituts, welches ungefähr unseren jetzigen Secundarschulen entsprechen sollte, jedoch kaum die mittelmässigsten derselben erreichen würde, die Anfänge der lateinischen und französischen Sprache neben Fortbildung in der deutschen und in der Arithmetik.»36 Sein Fleiss ermöglichte ihm die Aufnahme an das medicinisch-chirurgische Institut in Zürich, wo er im Frühling 1830 als 17-Jähriger zu studieren begann.37 Den weiten Weg von Altstetten in die Stadt Zürich müssen die beiden Freunde Johannes Wyss und Hans Conrad Huber zu Fuss gemacht haben. Hans Conrad soll eine Vorliebe für Anatomie gehabt haben. «Sein eiserner Fleiss und sein glückliches Gedächtnis liessen ihn unter seinen Commilitonen bald eine hervorragende Stellung behaupten.» Der tüchtige Student erhielt im dritten Lehrjahr gar eine Prämie, wahrscheinlich ein Buchgeschenk. Im Frühling 1833 nahm die neu gegründete Universität Zürich den Unterricht auf. Zur Krönung seiner Studien schrieb sich der junge Mann als Nummer drei überhaupt und als zweiter Medizinstudent für ein Semester ein «und hier ging ihm ein neuer Gesichtskreis auf, mächtig ihn anregend nach allen Seiten hin. Vor allem aus fesselten ihn die Vorlesungen und die klinischen Vorträge Schönlein’s und förderten entschieden seine wissenschaftliche Anschauungsweise.»38

Die praktische Erfahrung eignete sich Hans Conrad Huber als «Gehülfe» bei Dr. Johann Jakob Hegetschweiler (1795–1860) in Rifferswil an. Hegetschweiler, Sohn eines Mediziners, hatte in Göttingen studiert; er durfte seine Ausbildung durchaus mit derjenigen seiner Stadtzürcher Kollegen vergleichen. Neben seiner Praxis führte er seit 1831 das Statthalteramt des Bezirks Knonau. Johann Jakobs bekannterer Bruder Johannes Hegetschweiler (1789–1839), ebenfalls Arzt, sprach als einer der Redner am erwähnten Ustertag 1830. Inzwischen war dieser Regierungsrat, das heisst Mitglied der Zürcher Exekutive geworden, trug als Mediziner massgeblich zur Berufung Schönleins an die Universität bei und ging als Gründer des Kantonsspitals, der Kantonsapotheke sowie der Tierarzneischule in die Zürcher Medizingeschichte ein.39 Beide Brüder waren nicht nur Ärzte und politisch engagierte Bürger, sondern auch begeisterte, fachkundige Botaniker. Landärzte stellten damals Medikamente selbst her. Johannes Wyss, Hans Conrad Hubers Jugendfreund berichtet, wie er als Bub mit seinem Vater Heilkräuter sammelte.40 Hubers Vater hatte auch in diesem wichtigen Bereich versierte Lehrmeister. In Rifferswil hatte Hans Conrad Huber nicht nur Gelegenheit, sein medizinisches Wissen zu vertiefen und mit Patienten zu arbeiten – er lebte in einem eleganten Umfeld, in dem die neuesten Ideen diskutiert wurden. Das herrschaftliche, 1827 erbaute «Doktorhaus» steht heute unter Heimatschutz.41

Nach einem Jahr kehrte Hans Conrad Huber 1834 in sein Heimatdorf Altstetten zurück und eröffnete eine Arztpraxis. 1836 heiratete er Anna Widmer (1818–1869). Diese hatte während zwei Jahren auswärts das Schneiderinnenhandwerk erlernt, war für ihre Zeit überdurchschnittlich gut ausgebildet.42 Für Hans Conrad Huber muss Anna Widmer eine gute Partie gewesen sein, düsterer sah es für die Braut aus, da sie als 17-jährige Waise gegen ihren Willen verheiratet wurde, wie Huber sich erinnerte.43

Über Hubers Vorfahren mütterlicherseits ist Folgendes bekannt: Im Alter von fünf Jahren hatte Hubers Mutter Anna ihren Vater Heinrich Widmer (1784–1823) verloren. Mit seinem Tod verschwand das Geschlecht der Widmer aus dem Dorf.44 Hubers Grossmutter Magdalena Widmer-Meyer (*1793) heiratete in zweiter Ehe einen Landwirt, Leonhard Weber, den späteren Gemeindepräsidenten. Es entstand eine Patchworkfamilie, wie man das heute nennen würde. Weber brachte aus erster Ehe die Tochter Küngold (1820–1880) mit. Das Paar hatte zudem ein gemeinsames Kind, Magdalena (1832–1876). Trotz des grossen Altersunterschieds stand diese jüngere Schwester Hubers Mutter sehr nahe, sie war Hubers Patin, das «Ebenbild seiner Mutter»,45 wie er sie Lina beschrieb.

Eugen Hubers Tante Magdalena Gwalter-Weber war die Vertraute seiner Mutter. Ihr Schicksal erlaubt einen Einblick in das Gefühlsleben der damaligen Zeit. Sie heiratete auf die andere Seite der Limmat ins Nachbardorf Höngg. Dort betrieb ihr Gatte Hermann Gwalter (†1877) eine erfolgreiche Landwirtschaft. Als sie im Alter von 44 Jahren an Herzversagen starb, hinterliess sie sieben Kinder, Sohn Emil stand vor dem medizinischen Abschlussexamen. Huber empfand den Onkel zwar als Ehrenmann, aber auch als barsch und hart. Nur 16 Monate später starb der Witwer an gebrochenem Herzen.46 Huber war überrascht, «wie ihm nun der Tod seiner Frau zu Herzen gieng, die er mit seiner Unerbittlichkeit so oft zur Arbeit getrieben, wenn sie fast nicht mehr konnte». Auch Huber quälten Schuldgefühle. «Es war nicht recht von mir, dass ich ihre mütterliche Zuneigung zu mir so wenig erwiderte –, aber früher hielt mich falsches Unabhängigkeitsgefühl und später der Plan, mit meiner lieben Frau zusammen das Versäumte nachzuholen ab, meine nächstliegenden Verwandten- und Gotteskindspflicht gehörig zu erfüllen.»47 Die Kontakte zwischen Zürich und «Höngg» waren stets sehr rege. Musste sich Mutter Huber über ihren Jüngsten ärgern, fand sie in der Familie ihrer Schwester stets ein verständnisvolles Ohr.

Eine ebenfalls sehr enge Beziehung verband Huber mit der Familie seiner anderen Tante. Küngold Weber heiratete 1837 Heinrich Gyr (1812–1888) aus Uster. Wie Hubers Mutter bei ihrer Trauung war auch sie erst 17 Jahre alt. Über Gyrs familiären Hintergrund ist nichts bekannt. Küngold und Heinrich Gyr suchten ihr Glück in der Fremde, sie wanderten nach Württemberg aus. Im Lauf seines langen Lebens machte der Unternehmer eine glänzende Karriere und erwarb ein enormes Vermögen. 1855 wurde Gyr Mitbegründer und von 1856 bis 1881 Direktor der Württembergischen Baumwollspinnerei. Diese lag in der Nähe von Esslingen auf einer Halbinsel am Neckar genannt «Brühl». 1871 erweiterte er die Unternehmung und kaufte die Mechanische Baumwollspinnerei in Bleichach/Allgäu hinzu.

Immer wieder verbrachten die Geschwister Huber Ferien bei Tante und Onkel Gyr in der Fabrikantenvilla. Als Huber kurz vor Abschluss des Gymnasiums in eine schwere Lebenskrise geriet, bat ihn seine Schwester Pauline, nicht die Nerven zu verlieren, und empfahl ganz selbstverständlich: «Gehe für einige Zeit zum Onkel in Esslingen oder auch vielleicht zum Onkel in der Enge.»48 Nach einem Fiasko in London lebte Pauline selbst 1874 einige Zeit bei den Gyrs, bis sie sich wieder aufgefangen hatte und nach Russland weiter zog. Wusste ein Familienglied nicht ein und aus, war der «Brühl» das letzte Refugium. Als Hubers Mutter 1869 gestorben und er Vollwaise war, fühlten sich Onkel und Tante zusätzlich in der Pflicht. «Ich führe hier ein Schlaraffenleben. Bald geht’s da, bald dorthin, ins Theater, auf Besuch»,49 berichtete Huber auf der Reise ins Studienjahr nach Berlin.

Heinrich und Küngold Gyr hatten nicht nur Söhne, die ins Geschäft eintraten, sondern auch mehrere Töchter; bei deren Verheiratung zählten nicht Gefühle, sondern wirtschaftliche Überlegungen. Huber sowie Lina blieben ein Leben lang mit der vorwitzigen Cousine Ida Gyr befreundet. Huber hatte gar kurz erwogen, um Idas Hand anzuhalten, sollte ihn Lina für immer abweisen.50 Trotz der in Aussicht stehenden guten Mitgift blieb sie unverheiratet. War daran ihr kaum sichtbarer kleiner Buckel schuld?51 Später empfingen Gyrs Eugen Hubers Frau Lina herzlich auf dem «Brühl» und zeigten weniger Vorbehalte als einige Angehörige in der Schweiz. Am Ende ihres Esslinger Besuchs 1883 notierte sie ihre Eindrücke. «Lebewohl du gastliches, strammes Haus, du blühender Garten, du traute Stille! Mit dankbarer Liebe will ich noch oftmals Euer gedenken, Ihr, die Ihr mich so freundlich aufgenommen und so weitherzig behandelt habt! Der Umgang mit Euch gab mir ein bisher noch nie empfundenes Bewusstsein, Freunde, wirkliche Freunde zu gewinnen, ist wohl eines der schönsten Ziele des Lebens und ein Kreis von lieben Bekannten mit allen ihren Licht- und Schattenseiten dient schon wesentlich dazu, uns das Gefühl der Zusammengehörigkeit zu verleihen. Wir fühlen uns Mensch unter Menschen und die Kluft, die sich unwillkürlich bildet, wenn wir an ein abgeschiedenes Leben gewöhnt sind, schwindet allmählich dahin bei solchem Zusammenleben.»52

Heinrich Gyr war der begüterte Clanchef, der für die Grossfamilie einzustehen hatte. Dass er diese Aufgabe übernahm, ist aus heutiger Sicht umso erstaunlicher, als seine Frau mit der Familie Huber nicht blutsverwandt war. Der Selfmademan Gyr hatte Achtung vor der eigenständigen Leistung anderer, wie Huber nach dessen Tod erfuhr: «Er hat stets grosse Sympathie und Vorliebe für dich empfunden und seine Freude bezeugt über die bevorzugte Stellung, welche du dir durch eigene Arbeit und Tüchtigkeit errungen hast.»53 Als Vetter Conrad Gyr diese Zeilen schrieb, war Huber zwar erst Professor in Basel, sein eigentliches Lebenswerk lag noch vor ihm.

Hubers älteste Schwester Anna weilte im Juni 1871 zur Erholung in Esslingen. Bei der Gelegenheit wurde sie Zeugin eines Streiks: «Letzte Woche machten die Fabrikarbeiter auch Streike, sie wurden aber durch Oncles energisches Einschreiten bald wieder zur Vernunft gebracht. … Oncle ärgerte sich nachher sehr, dass die Kerle auf solch niederträchtige Art eine Lohnerhöhung erzwingen können; aber er sagte, nur einige Tage ohne Arbeit würde ihnen mehr schaden, als eigentlich die Summe der Lohnerhöhung ausmache; warum thuns auch die Herren nicht vorher, dann würde es gewiss nicht so weit kommen.»54 Der Onkel, «der neben bei gesagt von allen so ziemlich gefürchtet wird», war und blieb Respektsperson, selbst seine Kinder «[waren] alle viel fröhlicher und ungezwungener», wenn er aus dem Haus war.55

Der gyrsche Reichtum weckte zwiespältige Gefühle. Ohne Bedenken nahm Huber von Onkel Gyr zum Abschluss seiner Studien ein Geschenk von 1000 Franken an. Während Huber gelegentlich spitze Bemerkungen über die Millionäre in der Familie fallen liess, schien sein Bruder August eher Bewunderung zu hegen. Jedenfalls war er in grosser Sorge, als bekannt wurde, dass Onkel Gyr 150 000 Franken (von einem Gesamtkapital von 13 Millionen Franken) in die Nord-Ost-Bahn56 investiert hatte und diese vom Konkurs bedroht war.57

Gyrs Bedeutung für sein damaliges Umfeld lässt sich daran ermessen, dass es sowohl neben der Firma im «Brühl» (inzwischen gehört das Land Daimler-Benz) wie in Bleichach eine Heinrich-Gyr-Strasse gibt. Für die Angehörigen jedoch zählte weniger das unternehmerische Geschick als die Verlässlichkeit Küngold und Heinrich Gyrs, ihr offenes Ohr und das gastfreundliche Haus.

DER STAMMHEIMER «LINGG HAUPTMÄ»

Dem Dorf seiner Kindheit – Stammheim im Zürcher Weinland – bewahrte Eugen Huber Zeit seines Lebens eine treue Anhänglichkeit. Immer wieder reiste er in die alte Heimat zurück, etwa bevor er 1869 zum Studium nach Berlin fuhr. «Das war zu schön, die ganze Macht aller Empfindungen, die mir das Heimathland ja erregt, sind stürmisch neu erwacht.»58 Bis zum Tod soll eine Zeichnung der St.-Gallus-Kapelle in Oberstammheim über seinem Bett gehangen haben, die er einst in der Sekundarschule gemacht hatte.59 Am Doktorhaus, in dem Eugen Huber am 13. Juli 1849 zu Welt kam, erinnert eine Inschrift an den berühmten Bewohner. Heute ist die stattliche Liegenschaft an der Hauptstrasse durch Anbauten erweitert und dient als Altersheim für das Stammertal.

Auch im 21. Jahrhundert bezaubert der Dorfkern mit seinen Fachwerkhäusern den Besucher. Landwirtschaft und Rebbau prägen das Bild. Der Charme könnte eine heile Welt vortäuschen, doch blieb dieser malerische Flecken von historischen Umwälzungen nicht verschont.60 Politisch teilte Stammheim das Schicksal der Zürcher Landschaft; Jahrhunderte lang führten die «Gnädigen Herren» aus der Stadt ein mehr oder weniger strenges Regime. Die französische Revolution schien den grossen Um- und Aufbruch zu bringen. 1798 feierten die Stammheimer den Untergang der alten Staatsordnung mit einem Freiheitsbaum. Die Freude währte nur kurz, in den folgenden Jahren plünderten französische, österreichische und russische Armeen das Weinland. In guten wie in schlechten Zeiten drückten die Steuern. 1808 löste der Kanton Zürich die über 1000 Jahre alte Zehntenverpflichtung an das – inzwischen aufgehobene – Kloster St. Gallen für 200 000 Gulden ab. Die Gemeinde musste den Betrag bei der Zürcher Staatskasse in Raten abstottern, eine schwere Last für die lokalen Steuerzahler.

Was hatte Hubers Vater bewogen, im Alter von 25 Jahren Altstetten den Rücken zu kehren? Es gibt nur Vermutungen. An der Universität war einer seiner Kommilitonen der Theologiestudent Hirzel aus Stammheim, zudem soll Hans Conrad Huber das Dorf vom Militärdienst her gekannt haben. Als er 1838 seine Praxis ins Weinland verlegte, zählte Oberstammheim rund 800 Einwohner.61 Es waren unruhige Zeiten. In Erinnerung an den Ustertag vom 22. November 1830 organisierten die Stammheimer jeweils eine Gedenkfeier.62 Ein Jahr nach Hans Conrad Hubers Niederlassung in Stammheim erfolgte in der Hauptstadt der konservative Züriputsch, doch bald mussten auch diese Herren ihre Macht abgeben. Eugen Huber verarbeitete die Ereignisse später in einer unveröffentlichten Novelle.63

Auch wenn dank dem Aufstand eines Teils der Landbevölkerung die Konservativen in Zürich kurzfristig Oberwasser hatten, blieben die neuen Ideen in Stammheim gegenwärtig. Ende 1842 gründeten neun Männer aus Oberstammheim eine Gesellschaft zur Pflege der Geselligkeit. In einem Lokal, das den Mitgliedern täglich zur Benutzung offen stand, lagen unter anderem die «Neue Zürcher Zeitung», der «Landbote» aus Winterthur oder «Der Deutsche Bote».64 1843 wurde eine Volksbibliothek gegründet. Aberglaube, die Furcht vor Hexen, bösen Geistern und Gespenstern, die Anwendung von Beschwörungsformeln zur Heilung von Krankheiten bei Menschen und Tieren hätten zusehends an Bedeutung verloren, weiss Chronist Farner zu berichten65 – eine erfreuliche Folge der Bibliothek? Völlig gefeit vor Aberglauben war jedoch selbst der Doktorsohn nicht; bei Gelegenheit liess er sich die Zukunft voraussagen. 1875 hoffte Lina, Hubers Dorf sowie das Häuschen der alten Wahrsagerin einmal zu sehen und kommentierte deren etwas gewagte Prognose: «Ein ‹Vaterlandsverteidiger› bist du gewiss im schönsten Sinne des Wortes, wenn auch nicht mit Schwert und Degen.»66

1841 kaufte Hans Conrad Huber von seinem Vorgänger Dr. Hirzel ein Fachwerkhaus im Dorfzentrum. Freiwillig oder unfreiwillig investierte er in die Liegenschaft, sodass sie bereits wenige Jahre später um einiges wertvoller war als die umliegenden Gebäude: Chirurg Huber traute sich wirtschaftlich einiges zu.

Der Doktorsohn gehörte zur Dorfelite, eine Stellung, die Huber offensichtlich genoss und manchmal ausnützte. Hubers Spitzname – der «lingg Hauptmä», der linke Hauptmann der Oberstammheimer Buben – rührte von seinem gelähmten rechten Arm her.67 Trotz seiner Behinderung aus frühen Kindertagen war er der Anführer der Bubenspiele; bei Kämpfen bediente er sich jeweils geschickt des gesunden linken Arms. Huber berichtete Lina von einer Geschichte, wie er als «lingge Hauptmä» zusammen mit Besuchern aus Zürich die Unterstammheimer Buben besiegte. Mit seinem Schulfreund Schaggi zog er als Ritter aus und spielte Tournier. Eine junge Zürcherin setzt ihm den Siegeskranz auf, stolz und ein bisschen verliebt spazierte Huber am folgenden Tag mit ihr durchs Dorf.68

Im Alter fiel es Huber auf, wie unbestritten für ihn die besondere Stellung gewesen war. «Ich war ein ‹Doktors› Sohn auf dem Land, ich war mir in den jüngsten Jahren bewusst, eine hervorragende Stelle zu haben und zwar ungesucht, von selbst. Was ich als ‹linker Hauptmann› leistete, das war nur die Folge dieser Prärogative. Und an dieser Idee hielt ich nach dem Tode des lieben Vaters fest. Ich lebte in ihr am Gymnasium, ich empfand den Schulerfolg als etwas Selbstverständliches.»69

Hubers Freund Jakob Schnurrenberger, genannt Schaggi, war ein uneheliches Kind, das bei der Landschreiberfamilie im Nachbarhaus lebte. «Schaggi war gewissermassen mein Diener; er trug die Kleidlein, die mir Mutter nicht mehr flickte, und dieser Umstand, den ich gar wohl erfasste, reichte hin, in meinen Augen den Schaggi zum Vasallen herabzudrücken. … In der Schule war Schaggi geschickt, aber natürlich nach meinen Begriffen, unter mir, wenngleich viel fleissiger als ich.»70 Als Sekundarschüler rückte Schaggi zum Klassenbesten auf und überholte mit seinen guten Noten den Freund. Nun strengte sich Huber an. Der Tod seines Vaters und Hubers Umzug nach Zürich beendeten vorzeitig den Wettbewerb. Doch selbst von Zürich aus fühlte sich Huber befugt, Schaggi Vorschriften zu machen. Als ihm dieser in einem Brief erzählte, er habe mit dem jungen Orelli, dem Sohn des neuen Dorfdoktors gesprochen, wies ihn Huber zurecht. Schaggis Antwort war vorsichtig-kleinlaut, er pflege weder Freundschaft noch Feindschaft. «Nun wäre es mir sehr leid, wenn du glauben würdest, dass ich ein Freund Orellis sei. Das bleibe fern von mir, denn ich weiss wohl, dass ich euch dadurch beleidigen würde.»71

Allein oder mit der Familie ging Huber gelegentlich auf kleine Reisen. Seit der Lehre wohnte Bruder August in Zürich, im August 1861 durfte ihn Eugen besuchen. In einem Brief an August beschrieb Huber den Familienausflug nach Ermatingen und Konstanz, wo die Familie das Münster und den Schiffplatz besichtigte. Morgens um vier Uhr dreissig fuhren sie los, abends um acht Uhr waren sie in Stammheim zurück.72

In der Korrespondenz mit dem grossen Bruder fällt der etwas altkluge Ton auf. Als Bezirksrichter Schuler starb, wurden «durch dessen Tod 18 Aemter unbesetzt».73 Hinter Hubers Zeilen hört man die Gespräche der Erwachsenen, wie auch bei Hubers Kommentar zur Gründung einer Bank, der Leihkasse: «In Stammheim ist man im Begriff eine Leihkasse zu entrichten, was sicher, besonders für die Ärmere Klasse eine wahre Wohlthat wäre.»74

Huber liebte Brombeeren und diese erinnerten ihn stets an Stammheim. «Ich weiss noch, wie ich zu den ersten mit besondrem Bewusstsein gekommen. Ich kletterte an einem Sommermorgen als etwa siebenjährig im Dutteltal an einem hohen steilen Waldbord hinauf und gab nicht nach bis ich oben war. Da aber gelangte ich zufällig an einen Platz voll der köstlichen Beeren und ass nach Herzenslust, indem ich mir sagte, das sei die Belohnung für meine Ausdauer. Von wem Belohnung? Vom lieben Gott, der mich zu den Beeren geführt.»75 Noch folgte der Knabe Huber offensichtlich der väterlichen Weltanschauung.

Vater Hans Conrad Huber war nicht nur in Stammheim tätig. 1845 übernahm er die Stelle eines Adjunkten des Bezirksarztes im benachbarten Andelfingen. Nach einigem Zögern verzichtete er 1861 auf dessen Nachfolge, zu ungewiss schienen ihm seine Aussichten. In Andelfingen besuchte er auch einen medizinischen Lesezirkel. Dagegen kandidierte er nie für ein politisches Amt. «Er mochte sich keine Verbindlichkeiten auflegen, welche ihm die Zeit, welche vor allem seinen Kranken gewidmet und geheiligt war, durch anderweitige Verpflichtungen schmälern konnten.»76

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