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Bianca Bonnét und Michael Verskoff waren am frühen Morgen an den Rhein geschickt worden. Mitten auf dem Weg hatte ein früher Jogger einen toten Mann gefunden und den Notruf gewählt. Die Schicht hatte gerade gewechselt und Michael war wie immer mies gelaunt, wenn er so früh aus dem Bett geklingelt wurde.

Der Morgennebel hing noch in der Luft, es tropfte von den Zweigen der Bäume und es war empfindlich kühl. Wenn dann die Sonne ihre warmen Strahlen ausbreitete, war die Erinnerung an den Winter schnell verflogen. Es war kurz nach fünf. Der Jogger stand frierend und bleich neben einer Bank, die Streife, die schon vor Ort war, hatte ihn mit einer Decke und einem warmen Kaffee versorgt. Michael nickte Bianca mürrisch zu und ging zur Leiche. Bianca trat zu dem Mann in der Sporthose. Er hatte seine Mütze tief ins Gesicht gezogen und trat von einem Bein auf das andere.

„Guten Morgen, ich bin Bianca Bonnét von der Kriminalpolizei, das da hinten ist mein Kollege, Kommissar Verskoff. Herr …?“

„Beckert.“

„Herr Beckert, Sie haben den Toten gefunden, warum laufen Sie denn schon so früh hier herum?“

„Ist das jetzt verboten? Ich laufe jeden Morgen vor der Arbeit meine Strecke, dann bin ich frisch genug für einen langen Tag im Büro. Ich komme übrigens wegen Ihnen zu spät.“

Der Jogger hatte genauso schlechte Laune wie der Kommissar, Bianca war das gewohnt und blieb ruhig und freundlich.

„Das tut mir sehr leid, Herr Beckert, aber wir sind gleich fertig. Haben Sie etwas Ungewöhnliches bemerkt? War etwas anders als sonst?“

„Klar war etwas anders als sonst oder denken Sie, hier liegt jeden Morgen eine Leiche auf dem Weg. Ich dachte erst, es hätte wieder jemand seinen Müll hier abgeladen und bin näher heran. Dann sah ich, dass es ein Mensch war. Das ganze Blut war vollkommen ekelhaft, eine Sauerei. Ich hoffe, ich bin nicht hineingetreten, als ich geschaut habe, ob er noch atmet.“

„Haben Sie ihn bewegt?“

„Nein, als ich das Loch in seinem Hals gesehen habe, wusste ich, dass er hin ist.“

„Wie konnten Sie im Dunkeln ein Loch im Hals sehen?“

„Es war nicht dunkel.“

Er zeigte auf seinen Kopf, wo eine runde Taschenlampe von einem Stirnband gehalten wurde, und schaltete sie ein. Sofort wurde Bianca von einem grellen, weißen Licht geblendet. Sie kniff die Augen zusammen und bedankte sich für die Vorführung.

„Sehr gut, Sie können gehen, wenn die Kollegen Ihre Personalien aufgenommen haben. Wir werden uns gegebenenfalls noch einmal an Sie wenden. Bitte melden Sie sich, wenn Ihnen noch etwas einfällt.“

Sie gab ihm ihre Karte und nickte dem Mann noch einmal freundlich zu. Danach ging sie zu Michael hinüber, der gerade mit dem Notarzt sprach, der zuerst vor Ort gewesen war.

„Er war schon tot, als wir eintrafen, und das seit Stunden. Näheres zur Todeszeit können Sie bei der Obduktion erfahren, hier ist für uns Schluss. Man hat ihm die Kehle zerfetzt, er hatte keine Chance.“

„Danke, Doktor. Bianca, was sagt der Mann? Hat er etwas gesehen? Woher hat der Typ einen Kaffee?“

„Lieber Michael, der nette Kollege von der Streife hat ihm aus seiner Isolierkanne etwas angeboten, sicher wirst du nicht in den Genuss dieses Getränks kommen. Der Zeuge hat die Leiche nur gefunden, aber niemanden gesehen. Er hatte genauso schlechte Laune wie du so früh am Morgen. Hast du denn etwas erfahren?“

„Der Kerl ist tot, auf seiner Brust liegt eine kleine weiße Rose aus Stoff. Er liegt schon eine Weile hier und so wie es aussieht, sollte er auch direkt gefunden werden. Wo ist denn dein Schatz von der Spusi?“

„Er ist nicht mehr mein Schatz. Also hör auf zu sticheln. Komm, wir fahren ins Büro und ich koche uns einen schönen Kaffee.“

„Dazu sage ich nicht nein, meine liebe Kollegin.“

Die beiden stiegen in den Dienstwagen und fuhren zurück ins Präsidium. Bianca musste im Auto still vor sich hin grinsen. Vor einem Jahr hatte sie sich zum ersten Mal mit Pit Deicker von der Spurensicherung verbabredet, sie hatten sich öfter getroffen und ineinander verliebt, aber dann stellte sich heraus, dass Pit ein Kontrollfreak war. Er wachte eifersüchtig und cholerisch darüber, mit wem Bianca redete, telefonierte oder Mails austauschte. Selbst den Kellner, bei dem sie ihr Essen bestellte, musterte er argwöhnisch. Sie fühlte sich wie in einem Käfig, aber wenn Pit gerade mal nicht vor Wut platzte, war er liebevoll und ein guter Liebhaber. Vor zwei Monaten hatte sie sich endgültig von ihm getrennt und ging ihm nun so gut wie möglich aus dem Weg. Michael kümmerte sich in dieser Zeit ruhig und besonnen um sie, denn Pit veranstaltete die eine oder andere Aktion, mit der er Bianca beweisen wollte, dass sie nicht ohne ihn leben könnte.

Sie war froh gewesen, dass Pit heute Morgen keinen Dienst hatte und lehnte sich nun entspannt zurück. Michael ärgerte sie ab und zu mit ihrem „Schatz von der Spusi“, aber er durfte das. Seit sie wieder alleine war, benahm er sich freundlicher, war ausgeglichener, weil er das Rauchen aufgegeben hatte und er hatte sich sogar den Bart wieder abrasiert. Jeden Tag duftete er gut und war schlank und drahtig, weil er wieder begonnen hatte zu laufen.

„Wo fangen wir denn an? Weißt du den Namen des Mannes?“

Michael blätterte in seinen Notizen.

„Robert Weißlinger, neununddreißig Jahre, wohnt in Rüdesheim.“

„Weißlinger … Weißlinger … den Namen kenne ich doch … warte … das Mädchen, das neulich im Park gefunden wurde. Sie ist im Krankenhaus gestorben, ihr Stiefvater hieß Weißlinger und stand kurzzeitig unter Verdacht, aber ihm konnte nichts nachgewiesen werden. Er ist beim Verhör vor Trauer zusammengebrochen und hatte berichtet, dass die Kleine immer abgehauen ist, wenn es mal Streit gab. Es lief schon eine Vermisstenanzeige des Stiefvaters, was ihn erheblich entlastet hat. Die Frau, um viele Jahre jünger, hat das bestätigt, aber es kam den Beamten vor, als wäre sie eingeschüchtert gewesen. Auf die Frage, woher die alten Verletzungen und Narben stammten, gab sie an, dass ihr leiblicher Vater sie öfter geschlagen hat. Die Staatsanwältin musste sich geschlagen geben, weil der Oberstaatsanwalt sie zurückgepfiffen hat.“

„DIE Staatsanwältin? Deine Freundin?“

„Ja, meine Freundin Nele war zuständig, aber die Ermittlungen laufen nicht mehr in Richtung der Familie. Sie war sich sicher, dass er der Täter war.“

„Anscheinend hat ihn jetzt jemand dafür bestraft.“

„Die Rose war weiß. Wenn sie rot gewesen wäre, könnte man an ein Verbrechen aus Leidenschaft denken, aber sie war weiß und weiß steht für Unschuld, Reinheit, aber auch Abschied.“

„Ach ja, da spricht die hochsensible Frau. Nun guck nicht schon wieder so böse, ich bin doch froh, dass es dich gibt und du diejenige von uns beiden bist, die mit dem Herzen denkt.“

„Das hast du aber nett gesagt. Dankeschön.“

„Ich bin immer nett.“

Bianca begann zu lachen und rief dann in der Gerichtsmedizin an, um zu fragen, was es Neues gab. Sie brummte ab und zu in den Hörer, hörte lange und geduldig mit verkniffenem Gesicht zu und legte dann auf.

„Und?“, fragte Michael.

„Ein Stich in die Schulter, mit großer Kraft ausgeführt, Täter ist in etwa gleich groß, also eher klein, aber kräftig. Dann ein zweiter Stich in den Hals und der Doktor hat mir gerade erklärt, wie der Täter mit dem Messer in der Wunde herumgerührt hat. Widerlich. Ansonsten war er wohl danach sofort tot, weil es ihm die Halsschlagader zerrissen hat. Da hatte jemand Kenntnisse der Anatomie.“

„Nein, das muss man dafür nicht, denke ich, weil jedes Kind weiß, wenn man einem die Halsschlagader durchschneidet, ist man ziemlich tot.“

Bianca sah ihn grimmig an und erwiderte: „Kinder denken nicht an solche Dinge, nur Erwachsene. Tu nicht immer so überheblich, das bist du nämlich gar nicht.“

7

Lisa war am Nachmittag zum Supermarkt unterwegs. Es war Wochenende gewesen und am Montag der erste Mai, nun konnten die Leute endlich wieder einkaufen gehen. Dementsprechend voll war der Parkplatz und Lisa musste ihr Auto weit entfernt vom Eingang abstellen. Als sie die Tür öffnete, tat das der Fahrer des benachbarten Fahrzeugs, das rückwärts in der engen Lücke stand, auch gerade und die Türen schlugen krachend gegeneinander.

„Ach du Scheiße!“, rief ein sportlicher Mann Mitte zwanzig. „Meine Schwester erschlägt mich. Haben Sie keine Augen im Kopf?“

„Oh, es tut mir leid, ich habe nicht gesehen, dass da jemand im Auto sitzt. Sie haben mich ja auch nicht gesehen. Was nun? Rufen wir die Polizei?“

Der junge Mann lächelte Lisa aus sanften, grauen Augen an und strich sich eine kastanienbraune, mittellange Haarsträhne hinter das Ohr. Seine schmalen Lippen öffneten sich leicht und er zischte durch die weißen Zähne hindurch, als er die Beule in der Tür sah.

„Mist, das gibt Ärger. Sie müssen wissen, meine Schwester hat mir das Auto heute geliehen, weil ich noch Hundefutter holen will. Sie ist Staatsanwältin und sehr genau. Wir müssen die Polizei holen, sonst macht sie mir die Hölle heiß. Obwohl ich einer so hübschen Frau das gerne ersparen würde.“

Lisa senkte den Blick und errötete. Noch niemals hatte ein Mann so offensiv mit ihr geflirtet und wenn einer damit angefangen hatte, dann war sie schnell weggelaufen. Männer waren ihr im Allgemeinen suspekt, dieser hier war forsch und er gefiel ihr sehr gut. Als sie wieder aufschaute, sah sie sein unwiderstehliches Lächeln und nickte nur. Die Streife kam nach dreißig Minuten und nahm den Unfall auf, dann gab ihr der junge Mann seine Visitenkarte, denn es konnte nicht festgestellt werden, wer die Tür zuerst geöffnet hatte, also sollten sich die Versicherungen damit auseinandersetzen.

„Trinken Sie noch eine Tasse Kaffee mit mir auf den Schreck?“

„Ich … ich … muss einkaufen und … ich weiß nicht.“

„Nicht so schüchtern, das Schicksal hat uns zusammengeführt, es muss etwas bedeuten. Geben Sie sich einen Ruck, ich bin Sascha.“

„Ich bin Lisa, na gut, ich trinke mit Ihnen Kaffee.“

Sie liefen in Richtung Supermarkt und Sascha holte vom Bäcker zwei große Tassen Milchkaffee. Lisa hatte an einem Stehtisch gewartet. Sie unterhielten sich über belanglose Dinge wie das Wetter und den vollen Supermarkt, wobei Lisa zuhörte und Sascha redete. Er sah gut aus in seinem legeren, dunkelgrauen Jackett mit dem schwarzen Shirt darunter, dazu trug er Jeans und Turnschuhe. Außerdem war er locker und unterhaltsam, was man von Lisa nicht sagen konnte, denn sie war in seiner Gegenwart vollkommen eingeschüchtert. Sascha konnte seinen Blick nicht von der kühlen Schönheit mit den blauen Augen abwenden.

„Es wäre sehr nett, wenn wir uns mal wiedersehen könnten, aber Sie scheinen Angst vor mir zu haben. Oder finden Sie mich aufdringlich?“

„Entschuldigung, ich bin sonst nicht so. Sie haben mich eine wenig … ziemlich … durcheinanderge­bracht.“

„Sehr gut“, sagte er lachend und zwinkerte. „Geben Sie mir auch Ihre Telefonnummer, damit ich Sie anrufen kann, wenn ich noch Angaben für die Versicherung benötige?“

Lisa nahm einen alten Kassenbon aus der Handtasche und schrieb mit dem Kugelschreiber, den er ihr hingehalten hatte, ihre Telefonnummer drauf. Dann erklärte sie, jetzt endlich einkaufen zu müssen und verabschiedete sich. Sascha hielt ihre Hand ein wenig zu lange fest.

Im Supermarkt eilte sie durch die Gänge und suchte die wenigen Sachen zusammen, die sie benötigte. Dann bezahlte sie, nachdem sie eine halbe Stunde an der vollen Kasse warten musste und warf alles in den Kofferraum. Mit einem Seufzen stieg sie ein und fuhr heim nach Erbach, einem kleinen Weinbauort im Rheingau. Sie schloss die Tür auf, trug die beiden Einkaufstaschen in die kleine Wohnung und stieß mit dem Fuß die Tür zu. Ihre kleine Wohnung in dem Haus am Ortsrand war ihre Zuflucht, ihre Ruheinsel, denn hier wohnte nur noch die alte Frau Leisinger, ihre Vermieterin.

Die Wohnung befand sich im Dachgeschoss und hatte zwei Zimmer, eine Küche und ein Bad mit schrägen Wänden. Den Blick aus dem Fenster auf die endlosen Weinberge liebte Lisa sehr. Niemals wäre sie auf die Idee gekommen, in der Stadt zu wohnen, eine tief im Inneren verborgene Erinnerung war das Leben auf den Lande, aber sie hatte nach dem Unfall alles darüber vergessen. Gerne hätte sie gewusst, wo sie ihre Kindheit verbracht hatte.

Die Mutter hatte gesagt: „Wir sind weggezogen, weil du nicht an den Unfall und das alles denken solltest.“

Lisa hatte wie immer genickt, wenn die ihr so fremd gebliebene Frau etwas erklärte, denn sie hatte aufgegeben, alles zu hinterfragen. Sie räumte die Lebensmittel weg, öffnete ein Fenster und schaute hinaus. Langsam schlich die Dämmerung über den Horizont und setzte sich zwischen den Reben mit den grünen Blattspitzen fest. Die Sonne hatte sich heute nicht blicken lassen, nun saugte der Abend den Rest des Lichtes in sich auf.

„Sascha“, sagte Lisa mit einem Lächeln zu sich selbst.

Sie schloss das Fenster wieder, ging in die Küche mit den weißen Möbeln und kochte sich eine Tasse Tee zu den zwei Broten, die sie zusammen mit zwei kleinen Tomaten auf einem Brett ins Wohnzimmer balancierte. Dort ließ sie sich auf der breiten, schwarzen Couch nieder und schaltete den Fernseher ein. Der kleine Holztisch vor der Couch war überfüllt mit Büchern, den Fernbedienungen, dem Handy, einer Fernsehzeitung und einem Glas.

Plötzlich sprang Lisa auf und lief in den Flur, um in der Handtasche nach Saschas Visitenkarte zu suchen. Dort standen „Sascha Kritzek – Fotograf“ und seine Telefonnummer. In diesem Moment klingelte ihr Handy. Lisa eilte zurück auf die Couch sah auf das Display. Es war die Nummer, die auch auf der Visitenkarte stand und ihr Herz begann zu klopfen.

„Ja, bitte?“

„Hier ist Sascha, Ihr Unfallgegner. Ich hoffe, ich störe nicht.“

„Sie stören keineswegs, ich habe gerade an Sie gedacht.“

Wie gut, dass er nicht sehen kann, wie rot ich bin, dachte Lisa mit glühenden Wangen. Am Telefon fühlte sie sich sicherer als in der Realität. Sascha plauderte fröhlich weiter und hatte das Herz der jungen Frau längst erobert.

„Sie waren so schnell weg, da wollte ich doch mal fragen, wie es Ihnen geht. Ist alles in Ordnung? War ich zu aufdringlich?“

„Nein, es ist nur“, stotterte Lisa, „ich kenne das nicht, dass sich ein Mann für mich interessiert.“

„Nein, nicht möglich! Ich finde Sie atemberaubend. Wie kann ein Mann sich nicht für Sie interessieren? Darf ich Sie wiedersehen? Ich sterbe sonst und Sie wollen doch nicht an meinem Tod schuld sein.“

Lisa sagte lachend zu, als er sie dann noch fragte, ob sie am Wochenende gemeinsam spazieren gehen wollten. Sie verabredeten sich am Schloss Johannisberg, um von dort durch die Weinberge zu laufen und anschließend etwas zu essen. Lisa machte ihr Handy aus und den Fernseher an. Sie sah nicht hin, denn ihre Gedanken waren bei Sascha.

8

„Bitte, Frau Weißlinger, der Mann ist tot, also reden Sie endlich. Er kann Ihnen nichts mehr tun.“

Bianca saß auf der abgewetzten Couch im kleinen Wohnzimmer des alten Hauses in Rüdesheim Frau Weißlinger gegenüber und versuchte nicht zu atmen. Die Luft war abgestanden, roch nach Alkohol und kaltem Zigarettenrauch. Dazu kam eine unsägliche Mischung aus dem Gestank des nicht ausgelehrten Mülleimers und dem Katzenklo. Biancas sensible Nase und ihre Nerven wehrten sich heftig. Sie schaute Michael an, der am Fenster lehnte und angewidert dreinschaute. Hinter seiner Stirn brodelte es und er hätte diese kleine, magere Frau sehr gerne geschüttelt.

„Ich … er … Hanka … Robert war nicht immer so. Er hat mir und der Kleinen ein Zuhause gegeben, nachdem mich mein brutaler Ex-Freund aus dem Haus geprügelt hatte. Es war gut bis zur Hochzeit, als wir hier eingezogen waren, dann begann er, mich einzusperren und auch Hanka durfte nicht hinausgehen. Aber eines Tages stand die Lehrerin vor der Tür und hat mit dem Jugendamt gedroht, da hat er wenigstens Hanka gehenlassen. Ich habe geputzt und gekocht, alles war sauber und ordentlich. Dann kam ihm der Gedanke, dass wir, Hanka und ich, zu viel Geld kosten und er hat unser Essen rationiert. Wenn jemand zu Besuch kam, gab es immer Kuchen und Wein im Überfluss und er war dann lieb und nett.“

„Hat er Sie geschlagen?“, fragte Michael.

„Nicht immer, nur wenn ich etwas falsch gemacht habe, das habe ich ja auch eingesehen.“

„Verfluchte Scheiße, warum lasst ihr Frauen euch auch noch einreden, es wäre in Ordnung?“

Michael war der Kragen geplatzt, so erregt war er, als die kleine Frau nun auch noch gelächelt hatte.

„Aber wir hatten doch nur ihn. Robert hat uns gut versorgt. Dass er … dass er … Hanka …anfasst … das habe ich nicht gewusst. Ich hatte angefangen, nachts zu arbeiten. Manchmal saß sie heulend im Bett, aber sie hat nichts gesagt.“

„Wahrscheinlich hat er der Kleinen gedroht, ihr oder Ihnen etwas anzutun und dann hat sie geschwiegen“, erklärte Bianca sanft, die gesehen hatte, dass Michael nur noch raus wollte.

Um sie herum war nichts mehr peinlich sauber und gepflegt und die Seele dieser Frau war kaputt, sie hatte seit Tagen nur getrunken und geraucht. Mehrere schmutzige Kaffeetassen standen in der Spüle.

„Frau Weißlinger, Sie müssen mal wieder etwas essen, sonst werden Sie krank. Haben Sie Lebensmittel im Haus?“

Die Frau sah Bianca mit leerem Blick an und schüttelte den Kopf.

„Wozu noch essen? Es ist doch sowieso besser, wenn ich krepiere. Ich habe das Liebste auf der Welt verloren. Schade, dass ich nicht selbst die Kraft hatte, Robert zu erstechen, dann könnte Hanka noch leben. Nun ist alles so sinnlos.“

Bianca nahm ihr Telefon und rief einen Arzt an. Frau Weißlinger würde sich sonstwas antun, wenn man sie alleine lassen würde. Es wurde Zeit, dass sich Menschen wirklich um sie kümmerten. Als der Arzt da war, erklärte ihm Bianca, was passiert war und half Frau Weißlinger, ein paar Sachen zusammenzupacken. Dann wurde sie am Arm zum Rettungswagen geführt, der langsam davon rollte. Michael stand neben Bianca und hatte einen Arm um ihre Schultern gelegt.

„Sie kann es nicht gewesen sein, schade eigentlich, denn man hätte auf Notwehr plädieren können.“

Im Fall Hanka Weißlinger wurde weiter ermittelt, aber Bianca wusste, dass die Ermittler niemanden finden würden, der das Mädchen auf dem Gewissen hatte, denn ihr Peiniger war tot. Irgendwann würde man die Akte ohne Ergebnis schließen.

9

Kendra war die kleine Hanka nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Nachts träumte sie immer wieder diese Szene, in der das kleine Mädchen wimmernd aus dem Gebüsch gekrochen war. Dann sah sie ein offenes Fenster und den zerschmetterten Körper ihrer Schwester Nora tief unter dem Fenster im Schnee liegen. In ihren schlimmsten Nächten trat der Vater hinter sie und stieß sie vom Fensterbrett in die Tiefe und sie flog in Zeitlupe ihrer toten Schwester entgegen. Die schlug plötzlich die Augen auf, hielt ihr die ausgestreckten Arme entgegen, um sie aufzufangen, aber genau dann erwachte Kendra jedes Mal schreiend. Zurück blieb der Gedanke, ob Nora sie fangen würde, bevor sie auf dem Boden aufschlug.

Alle diese Ereignisse aus der Kindheit sah sie wieder deutlich vor sich. Am liebsten hätte Kendra alles vergessen, aber vielleicht sollte sie sich auch aktiv damit auseinandersetzen. Sie wollte das mit ihrer neuen Freundin Lisa besprechen, vielleicht könnte man sich irgendwo engagieren, um Kindern, die in Not waren, zu helfen. Sie stand schweißgebadet auf und war alles andere als ausgeruht. Am Nachmittag wollte sie sich mit ihrer Mutter treffen, die sie regelmäßig einmal im Monat zum Kaffee in die Altstadt einlud. Mehr Kontakt hatten sie nicht, auch wenn die Mutter extra in Kendras Nähe gezogen war. Sie konnte und wollte nicht verstehen, warum ihre Mutter zugelassen hatte, dass Nora gestorben war.

Sie ging ins Bad, trank danach eine Tasse Kaffee mit viel Milch im Stehen und zog sich an, um in die Universitätsbücherei zu fahren. Dort hatte sie eine Stelle als Bibliothekarin, die sie über alles liebte. Oft ließ sie sich für die Abendschicht einteilen, denn dann waren nur noch die wirklich interessierten Leser da. Die meisten Studenten gingen abends lieber feiern. Oft saß sie mit dem einen oder der anderen zwischen den Regalen auf dem Teppich und sprach mit ihnen über Kultur, Kunst und die Welt. Heute war Kendra zusammen mit Frau Schmidt im Frühdienst. Ihre Kollegin war Anfang sechzig und verliebt in den Hausmeister. Oft standen die beiden turtelnd am Getränkeautomaten. Wenn Frau Schmidt dann heimging, sah Kendra vom Fenster aus den Hausmeister mit einer kleinen Blume vor der Tür. Kendra war gespannt, ob und wann sich die beiden einmal außerhalb der Bücherei verabreden würden, aber sie befürchtete, dass dies niemals geschehen würde.

Heute Morgen war Frau Schmidt schon da. Sie sagte „Kendra“ und „Sie“, denn sich auf der Arbeit zu duzen fand sie unpassend. Kendra sagte „Frau Schmidt“ und es war ihr egal.

„Guten Morgen, Kendra, wie geht es Ihnen? Wir haben ja lange nicht mehr zusammen Dienst gehabt.“

„Guten Morgen, Frau Schmidt, mir geht es ganz gut. Und Ihnen? Möchten Sie einen Kaffee?“

„Nein, danke, ich hatte schon eine Tasse, von zu viel Kaffee schlägt mein Herz immer so heftig. Sie sehen aber gar nicht ausgeruht aus, Kindchen.“

„Ich schlafe in letzter Zeit schlecht. Erinnerungen, böse Träume.“

„Oh, wie furchtbar, in Ihrem Alter sollte man doch von der Liebe träumen und in den Armen eines netten Mannes schlafen. Was bedrückt Sie denn?“

„Sie haben doch sicher in der Zeitung von dem kleinen Mädchen, das verletzt im Park gefunden wurde, gelesen. Sie ist im Krankenhaus gestorben, ihr Stiefvater hatte sie misshandelt und vergewaltigt.“

Frau Schmidt nickte.

„Das arme Mädchen, ich habe es gelesen. Wie kann ein Mensch einem anderen so etwas Grausames antun? Ich frage mich dann immer, ob so etwas niemand mitbekommt.“

„Die Opfer schweigen aus Scham oder weil sie bedroht werden und oft haben sie keine Kraft, sich zu wehren oder Hilfe einzuholen. Ich finde, da wird zu wenig getan, aber der Stiefvater ist auch getötet worden. Das kann kein Zufall sein. Er hat es verdient, ich kann dem Täter nicht böse sein.“

„Oh, ich verstehe Sie, aber Gewalt ist auch hier keine Lösung. Es ist der falsche Weg, den Mörder zu töten.“

„Die Polizistin hat zu mir gesagt, dass man gar nicht gegen ihn ermittelt hat, aber dass ihn jetzt jemand zur Rechenschaft gezogen hat, zeigt doch seine Schuld ganz deutlich. Sie war so verstört und zerbrechlich … die kleine Hanka.“

Frau Schmidt runzelte die Stirn und legte einen Arm um Kendra.

„Woher wissen Sie das denn? Kannten Sie die Kleine?“

„Ich … ich … ich habe sie gefunden, im Park unter einem Busch. Sie hat so gewimmert, es war fürchterlich.“

Eine Träne lief aus Kendras Augenwinkel über die Wange und tropfte auf ihre Bluse. Frau Schmidt reichte ihr wortlos ein Taschentuch und drückte sie an sich.

„Wenn ich könnte, würde ich alle diese miesen Typen bestrafen, sie haben es nicht anders verdient. Aber keine Angst“, sagte Kendra mit geballter Faust, „ich weiß, es ist der falsche Weg.“

Dann schloss Frau Schmidt die Tür auf und die ersten Studenten strömten an ihr vorbei in die Bücherei. Einige knurrten mürrisch, andere riefen ihr ein fröhliches „Guten Morgen“ zu, drei junge Männer schwiegen, sodass Frau Schmidt ihnen eine herzliche Begrüßung entgegen schmetterte. Die drei Studenten zuckten zusammen und antworteten höflich, dann verteilten sie sich in den Regalreihen. Frau Schmidt lächelte und trat zu Kendra hinter die brusthohe Theke.

Kendra saß am Computer und aktualisierte die Aus- und Eingänge der Bücher. Ihre Kollegin trug die fertig bearbeiteten Bücher an die richtige Stelle im Regal und legte die Vorbestellungen in einem Korb ab. Die Technik hatte auch hier Einzug gehalten, aber es gab noch das Flair einer Bücherei. Kendra liebte den Geruch der Bücher und fühlte gerne die festen, trockenen Seiten. Wenn mal wenig zu tun war, schlenderte sie durch die endlosen Reihen der Regale, die fast bis zur Decke reichten und rückte den einen oder anderen Buchrücken zurecht. Manchmal las sie auch in einem Fachbuch, besonders die Psychologie und der Weinbau interessierten sie. So war ihr vor kurzem ein Buch in die Hand gefallen, das sich mit dem Thema Gewalt in der Familie beschäftigte und sie suchte nach Erklärungen für ihr eigenes Schicksal. Als sie es wieder ins Regal zurückstellte, fühlte sie sich nicht besser, sie konnte auch ihre Mutter nicht besser verstehen, nur eines war klar geworden: Niemals würde sie es zulassen, dass sich ein Mensch an ihr oder ihren Kindern vergreifen würde.

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