Читать книгу: «"Du sollst nicht töten"», страница 3

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Aber Pablo ließ nicht locker. Er habe alles Verständnis der Welt, und es tue ihm leid, dass ich im Moment so leide. Sein Brief war einfühlsam und schön, und ich legte ihn auf die Seite für den Fall, dass ich doch eines Tages wieder jemandem schreiben wollte. Nach ein paar Monaten fühlte ich mich wieder bereit und begann Pablo zu schreiben. Pablo erzählte mir viel aus seinem Leben – von seiner Kindheit auf den Feldern, seinen Träumen, die er nie verwirklichen konnte, von seiner Familie und von seinen beiden Kindern, die er unendlich vermisste. Auch die Gedanken über seine Tat teilte er mir mit, über Gott, seinen Glauben und den Tod. Er beteuerte immer wieder, dass er alles dafür geben würde, seine Tat ungeschehen zu machen – dass er doch seine Wendy und die Kinder über alles geliebt habe.

Die Frage, ob Gott ihm vergeben werde, wenn er tot sei, und ob so etwas wie die Hölle auch wirklich existiere auf der anderen Seite, beschäftigte ihn sehr. Ich besorgte Bücher für ihn, die vom Sterben und dem Leben danach handelten, Bücher über das Christentum, die Reinkarnation, den Buddhismus und solche über Spiritualität. Pablo war auf der Suche nach Antworten, und ich versuchte, ihm so gut wie möglich dabei zu helfen.

In meinen Briefen berichtete ich von meinem alltäglichen Leben, von meinen vielen beruflichen Reisen in ferne Länder, meiner Familie, meinen Hobbys und Interessen. Wir diskutierten intensiv und lange über die amerikanische Politik, den Rassismus, den Kapitalismus und die soziale Ungerechtigkeit in den USA.

Es interessierte ihn brennend, wie das Leben in Europa und der Schweiz funktioniert, er wollte unsere Politik, unsere Mentalität, unsere Lebensweise und unsere Traditionen kennenlernen, denn er war nie in seinem Leben gereist, nie aus Texas herausgekommen.

Pablo war ziemlich klein und rundlich, nicht besonders attraktiv, aber sehr sympathisch. Alle Mitgefangenen, die ich kannte, mochten ihn, und er hatte auch nie irgendwelche Auseinandersetzungen mit den Wärtern. Er versuchte, mit ihnen immer anständig und freundlich zu bleiben, auch wenn dies oft nicht leicht war. Seine Haltung war: Es nützt eh nichts, sich zu wehren, damit macht man sich das Leben da drin nur noch schwerer. Pablo versuchte einfach nur, mit allen gut auszukommen und nie Anlass zu einer Beschwerde zu geben. Falls es dann vielleicht doch einmal zu einem Wiederaufnahmeverfahren käme, könnte ihm ein vorbildhaftes Benehmen nur helfen.

Wir korrespondierten abwechslungsweise auf Englisch und Spanisch, und es zeigte sich schnell, dass er trotz seiner Situation seinen Humor nicht ganz verloren hatte. Während meiner Besuche im Besucherraum gab es immer viel zu lachen; es war Pablo wichtig, dass unsere Gespräche auch eine gewisse Leichtigkeit enthielten, und auch ihm tat es gut, eine kleine Pause vom tristen Gefängnisalltag zu haben.

Leider war die Gefängniskost miserabel und sehr karg. In den ersten Jahren, als er noch in Ellis One einsaß, hatte Pablo einen Job bei der Essensvergabe ergattert, und es blieb stets etwas für ihn übrig. Die größte Freude konnte ich ihm machen, wenn ich während meines Besuches die 30 Dollar, die ich mitbringen durfte, in Root Beer, Cola, Sandwiches, Salat und Süßigkeiten für ihn investierte. Die Wärterin brachte ihm dann jeweils alles in mehreren Papiertüten in die Besucherzelle, und er konnte während unseres vierstündigen Zusammenseins alles aufessen. Manchmal steckte er die übrig gebliebenen Süßigkeiten in seine Socken und hoffte, dass man ihn auf dem Rückweg in seine Zelle nicht so genau durchsuchen würde. Er war einer der wenigen Gefangenen, denen die Wärter wohlgesonnen waren. Und so kontrollierten sie ihn nur oberflächlich oder drückten auch mal ein Auge zu, wenn sie ihn in die Zelle begleiteten.

Gegen Ende 1999 wurden alle zum Tode Verurteilten wegen eines misslungenen Ausbruchsversuchs einiger Gefangener ins Hochsicherheitsgefängnis von Livingston verlegt, etwa eine Autostunde von Huntsville entfernt. Für Pablo und auch alle anderen war dies ein sehr einschneidendes Erlebnis, denn in Ellis One hatten sie bei guter Führung noch ein paar Privilegien gehabt. So konnte er sich dort zum Beispiel mit Bastelmaterialien wie Holzstäbchen und Farbe in der Zelle beschäftigen und kleine Objekte herstellen, die er später verschenkte. Die Gefangenen durften in der Kleiderfabrik (oder, wie Pablo, im Essensservice) arbeiten, konnten während drei Stunden am Tag in einen Innenhof und mit anderen Gefangenen reden oder Basketball spielen. Die Zellen waren zum Gang hin mit eisernen Zellstäben versehen, was es ihnen erlaubte, durch die Zwischenräume miteinander zu reden. Es gab sogar einen TV-Apparat am Ende des Traktes, und so konnten sie durch die Zellenstäbe hindurch die Sendungen schauen, die die Wärter eingestellt hatten. Unten an den Türen gab es eine kleine Spalte. Mit viel Geschick und langen Angelruten, die sie selbst bastelten, gelang es ihnen, durch diesen Spalt hindurch kleine Dinge auszutauschen. Wenn kein Wärter in der Nähe war, ging da so einiges von Zelle zu Zelle – auch Zigaretten, die Pablo selber drehte und gegen Briefmarken »verkaufte«. Dies war essenziell für Pablo,

es gab ja kein Taschengeld, und er musste sich alles selber beschaffen.

In Livingston war alles auf einen Schlag ganz anders. Niemand durfte mehr arbeiten, keiner etwas basteln. In den Zellen herrscht totale Isolation, nichts, womit man sich beschäftigen könnte. Auch gibt es niemanden zum Reden, denn die Zellen in Livingston sind rundherum aus Beton, und eine eiserne Tür mit einer Klappe, die nur aufgeschlossen wird, wenn das Essen durchgereicht wird, bildet den einzigen Zugang zur Welt. Hoch oben an der Wand gelangt durch einen kleinen Fensterschlitz ein Streifen Tageslicht in die Zelle; um da hinauszusehen, muss man die Matratze geschickt zusammenfalten und sich daraufstellen. Allerdings sehen sie von diesem wackeligen Konstrukt nur auf den Parkplatz oder an den nächsten Gefängnisblock.

An diesem unwirtlichen Ort existiert keine Bibliothek, auch kein Kontakt zu anderen Gefangenen, jeder schmort 22 bis 23 Stunden pro Tag in einer winzigen Zelle – alleine. Dreimal pro Woche dürfen sie duschen, begleitet von einem Wärter, und zweimal in der Woche für ein bis zwei Stunden »Ausgang«: Die Todeskandidaten werden in eine Art großen Käfig in einem Innenhof gebracht, der auf allen Seiten von Gittern umgeben ist. Durch das obere Gitter können sie den Himmel sehen. Zwei dieser Käfige stehen nebeneinander, und durch das Gitter können sie mit dem Gefangenen im Käfig nebenan ein wenig reden. An den Wochenenden ist weniger Personal im Einsatz, folglich dürfen die Gefangenen an diesen zwei Tagen außer zur Dusche gar nicht aus der Zelle.

Für Pablo war Livingston die absolute Katastrophe. Er, der so gerne redete und unter Menschen war, der gerne arbeitete und sich mit allerlei kleinen Basteleien und Malereien beschäftigte, der gerne mit kleinen Dingen wie Esswaren und Zigaretten handelte, war abgeschnitten von allem, ihn umgab die totale Einsamkeit.

Seit er in Livingston saß, erhielt ich beinahe jede Woche Post von ihm, und ich fühlte mich manchmal etwas überfordert. In der Zwischenzeit hatte ich auf Ersuchen von Emma Wilcox, der Gefängnispfarrerin, angefangen, auch anderen Gefangenen zu schreiben, und es war zunehmend schwierig für mich, allen gerecht zu werden und schnell zu antworten. Es war mir bewusst, wie sehr sie auf meine Briefe warteten und enttäuscht waren, wenn der Wärter wieder nicht vor ihrer Zelle stehen blieb, um einen Brief durchzuschieben.

Meine Besuche im Gefängnis waren für die Gefangenen sehr wichtig. Pablo freute sich jeweils sehr auf meinen Besuch und zählte lange vorher schon die Wochen und Tage. Jedes Jahr im Herbst nahm ich Ferien und flog auf eigene Kosten in die USA. Zuerst verbrachte ich ein bis zwei Wochen mit Besuchen von Gefangenen in Kalifornien und Texas, anschließend flog ich in meine alte Heimat in Virginia, um noch ein paar Tage nur Ferien zu machen.


Stets hatte Pablo für mich gebastelt oder gemalt, und jedes Mal, wenn ich in Texas ankam und im Hotel eincheckte, lag ein Brief an der Rezeption für mich bereit. Einmal fand ich sogar einen Strauß Blumen mit einer Karte von ihm in meinem Hotelzimmer. Wie er das organisieren konnte, ist mir bis heute ein Rätsel.

Bis auf ein einziges Mal im Herbst 1999 waren die Besuche bei Pablo immer sehr schön. Ahnungslos ging ich ins Gefängnis und setzte mich auf den mir zugewiesenen Platz. Bald darauf wurde Pablo gebracht, und wir saßen uns wie immer gegenüber, getrennt durch die Glasscheibe. Plötzlich hörte ich, wie die Frau, die auf dem Stuhl neben mir saß, laut anfing zu weinen. Durch die Fensterscheibe vor ihr sah ich einen sehr jungen Mann, der verzweifelt versuchte, sie über das Telefon zu trösten. Pablo sagte mir, dass dies der Mann sei, der heute Abend hingerichtet werde, und die Frau, die neben mir weine, sei seine Mutter. Es war mir schlichtweg nicht mehr möglich, mit Pablo noch eine richtige Konversation zu führen – es brach mir das Herz, diese Mutter zu sehen, die neben mir die letzten Stunden mit ihrem Sohn verbrachte. Ich spürte ihre Verzweiflung, sah sie leiden, und ich sah ständig diesen jungen Kerl, der mein Sohn hätte sein können, und der versuchte, seine Mutter zu trösten. Unweigerlich hörte ich viel von dem, was sie sprachen, und irgendwann musste auch ich weinen. Dann trat ein Pfarrer dazu und betete mit den beiden, und am Schluss musste sich die Mutter durch die Glasscheibe endgültig von ihrem Sohn verabschieden. Keine letzte Umarmung, nur die Glasscheibe und ein Telefonhörer. Der junge Mann wurde abgeführt und seine Mutter aufgefordert, den Raum zu verlassen. Pablo hatte sich so auf meinen Besuch gefreut, und hier saß ich nun und weinte um den jungen Mann und seine Mutter, und ich konnte mich einfach nicht beruhigen.

Wenigstens hatten wir am nächsten Tag nochmals vier Stunden, doch mir ging das Ganze einfach nicht mehr aus dem Kopf. Der Staat Texas hatte den jungen Mann am Abend zuvor getötet, und ich wollte von Pablo wissen, wofür er so unmenschlich bestraft worden war. Pablo erzählte, der Junge habe mit Kollegen einen Laden überfallen und dabei sei ein Mann erschossen worden. Da niemand gestand und man nicht nachweisen konnte, wer der eigentliche Schütze gewesen war, hatten alle drei die Todesstrafe erhalten. Nach der Verurteilung habe der junge Mann dann auf alle Berufungen verzichtet und schriftlich erklärt, er wolle lieber sofort sterben, als jahrelang auf eine Hinrichtung zu warten. Und nun habe man das Urteil vollstreckt.

Dieses Erlebnis verfolgte mich noch lange.


Eines Tages schrieb Pablo, er habe jetzt noch eine zweite Brieffreundschaft mit einer Frau aus Deutschland angefangen, was mich erleichterte, denn nun gab es einen weiteren Menschen in seinem Leben, der sich um ihn kümmerte. Und diese Frau startete einen Spendenaufruf für Pablo, weil sie mit diesem Geld einen guten Anwalt für ihn engagieren wollte. Aufgrund eigener Erfahrungen und vieler Berichte über die wirklich sehr geldgierigen Anwälte in Texas hatte ich meine Zweifel, aber es war einen Versuch wert.


Weihnachten in der Zelle, Zeichnung von Pablo

Nach unzähligen Aufrufen und Bittbriefen an alle Freunde und Verwandten und mit dem eigenen Ersparten hatte sie nach etwa einem halben Jahr 50000 Dollar zusammengebracht! Damit reiste sie nach Texas zu einem Anwalt, der ihr empfohlen worden war. Von genau diesem Anwalt hatte ich schon einiges gehört, und das war nicht sehr positiv. Also bat ich Pablo, dass er diese Bedenken seiner deutschen Brieffreundin übermitteln solle, doch es war bereits zu spät, sie hatte den Vertrag schon unterschrieben, weil er auf sie einen guten Eindruck gemacht hatte.

Zu Beginn machte dieser Anwalt seine Arbeit sehr gut. Er fand heraus, dass ein psychologischer Gutachter vor Gericht behauptet hatte, der größte Teil der Mexikaner sei kriminell und würde sich niemals bessern, selbst wenn sie die Chance dazu hätten. Diese Aussage war ganz offensichtlich diskriminierend und hätte nicht zugelassen werden dürfen. Der Anwalt reichte deswegen Klage bei einem höheren Gericht ein, weil diese Aussage die Jury beeinflusst und wesentlich dazu beigetragen hatte, dass Pablo zum Tode verurteilt worden war.

Es dauerte wie immer viele Monate, bis das Urteil bekannt wurde. Darin hieß es, jeder mexikanische Gefangene, der von diesem voreingenommenen Gutachter beurteilt und anschließend zum Tode verurteilt worden war, hätte Anrecht auf einen neuen Prozess. Man hatte festgestellt, dass er in jedem Prozess die gleiche negative Beurteilung über mexikanische Männer abgegeben hatte. Mit diesem Gerichtsurteil bekamen gleichzeitig mit Pablo noch sieben weitere mexikanische Gefangene eine neue Chance!

Hoffnung kam auf, wir waren alle ganz euphorisch: Das Todesurteil gegen Pablo war mit sofortiger Wirkung aufgehoben, und er hatte jetzt gute Chancen, »nur« lebenslänglich ins Gefängnis zu müssen. Lebenslänglich hätte bedeutet, dass man ihn bei guter Führung nach 25 Jahren vielleicht freigelassen hätte. Und er hatte ja schon 15 Jahre davon abgesessen. Gewisse Gesetze waren in den letzten Jahren abgeändert worden, und Mord ersten Grades wäre gar nicht mehr zur Debatte gestanden. Da war Licht am Ende des Tunnels, und Pablo getraute sich, Pläne für die Zukunft zu machen.

Das Gericht entschied, der neue Prozess müsse innert sechs Monaten stattfinden. Das war nicht gut, für die Verteidigung blieb nicht viel Zeit für die Vorbereitung. Wir trösteten uns damit, dass sein Anwalt gut eingearbeitet war und mit solchen Fällen Erfahrung hatte – also verdrängten wir unsere Bedenken und warteten.

Drei Monate später erhielt Pablos Brieffreundin Sabine aus Norddeutschland einen Brief des Anwaltes. Er gedenke, in einen anderen Bundesstaat umzuziehen, um dort zu praktizieren. Zwar sei er bereit, Pablos Fall noch zu Ende zu führen, und er könne ihr versichern, dass er ihn erfolgreich vertreten werde. Die Sache sähe diesmal nämlich sehr gut aus für Pablo, nach der neuen Gesetzeslage werde er allerhöchstens noch eine lebenslängliche Strafe erhalten. Allerdings könne er leider gar nichts mehr tun, bevor sie ihm nochmals 50000 Dollar überweise. Und er brauche das Geld so schnell wie möglich.

Sabine war verzweifelt, diese Summe konnte sie niemals aufbringen, schon gar nicht in ein paar Tagen. Sie bat um Zeit, doch der Anwalt ließ nicht mit sich reden und stellte ein Ultimatum: Entweder sei das Geld in einer Woche da, oder er werde sich nicht weiter für Pablo engagieren. Und genauso verhielt er sich: Ohne Skrupel legte er den Fall nieder.

Das Gericht war nicht bereit, den Termin zu verschieben, und stellte Pablo einen Pflichtverteidiger zur Verfügung. Dieser hatte gerade sein Studium beendet und keinerlei Erfahrung in Sachen Todesstrafe. Auch schien er recht desinteressiert, besuchte Pablo kaum und sagte gleich zu Anfang, er werde es in den verbleibenden zweieinhalb Monaten wohl kaum schaffen, sich jetzt noch so richtig in den Fall einzuarbeiten.

Der neue Prozess begann, und der Staatsanwalt forderte nochmals die Todesstrafe. Pablos Pflichtverteidiger sagte kaum etwas während des ganzen Prozesses, er war äußerst schlecht vorbereitet und wusste über viele wichtige Umstände nicht Bescheid. Er berief sich darauf, dass man ihm zu wenig Zeit gelassen habe, diese Hunderte von Seiten durchzulesen, machte keine Einwände und ging etliche Male während der Verhandlung nach draußen, um zu rauchen. Am Schluss hielt er ein äußerst schlechtes und kurzes Plädoyer. Pablo wurde innert weniger Stunden zum zweiten Male zum Tode verurteilt. Unsere Enttäuschung und das Entsetzen waren grenzenlos! Eine Berufung war gesetzlich nicht mehr möglich, jetzt würde Pablo wohl bald ein Hinrichtungsdatum erhalten.

Pablo wollte nicht sterben, aber er hatte keine Hoffnung mehr. Er ließ sich nichts anmerken, und wir redeten wie immer über alles Mögliche, nur nicht über das, was jetzt unausweichlich schien. Allerdings waren jetzt öfters der Tod und unsere Vorstellungen von dem, was nachher kommt, ein Thema. Immer wieder wünschte er sich, seine beiden Kinder noch einmal zu sehen, sie waren inzwischen erwachsen. Aber der Sohn wollte schon zuvor die Beziehung zum Vater nicht mehr aufnehmen, und mit der Tochter hatte er nur wenig Kontakt in all den Jahren. Beide wollten einfach nichts mehr mit ihm zu tun haben, schließlich hatte er ihnen ihre Mutter genommen.

Wie erwartet, bekam Pablo nach einigen Wochen den Hinrichtungsbefehl zugestellt. Es wurde ihm im Namen des Staates Texas hochoffiziell mitgeteilt, an welchem Tag und zu welcher Uhrzeit er getötet würde. Er hatte noch drei Monate zu leben.

Ich besuchte Pablo zwei Wochen vor der Hinrichtung ein letztes Mal. Es ist kaum in Worte zu fassen, was es bedeutet, im Gefängnis für immer von jemandem Abschied zu nehmen. Pablo war ja nicht todkrank, er war ein Mann in mittleren Jahren und gesund. Doch die Geschworenen hatten entschieden, dass er nicht das Recht habe weiterzuleben. Und dabei war es genau dieser Pablo, der in meinen Augen eine zweite Chance verdient hätte. Er war ein herzensguter und freundlicher Mann – der eine katastrophale Entscheidung getroffen hatte. Eine Entscheidung, die ihm alles nahm, was er liebte, und ihn am Schluss auch sein eigenes Leben kostete.

Den Ablauf der Hinrichtung erklärte er mit einer unglaublichen Ruhe, und wir sprachen wieder über den Tod und das Leben danach – aber auch über seine Beerdigung und all das, was ihn jetzt noch so sehr beschäftigte. Dann kam die Wärterin, kündigte die letzten fünf Minuten an und forderte uns auf, Abschied zu nehmen. Wir konnten nichts mehr sagen, drückten unsere Hände gegeneinander an die Fensterscheibe, schauten uns nur noch an und weinten. Dann hieß es, ich hätte nun zu gehen. Ich winkte ihm noch ein letztes Mal zu und wartete, bis er durch die eiserne Tür verschwand.

Wie in Trance fuhr ich zurück ins Hotel und blieb stundenlang wie gelähmt auf dem Bett liegen. Man konnte nicht einmal ahnen, wie Pablo sich fühlen musste. Ich hatte mein Flugticket für den nächsten Tag und konnte zurückkehren in mein Leben, ihm blieben nur noch Tage, um von allem Abschied zu nehmen.

Am Abend von Pablos Hinrichtung waren meine Tochter und ich zu Hause in Zürich. Unerwartet kam ein Anruf aus den USA von Pablo! Man hatte ihm drei Anrufe bei Angehörigen und Menschen erlaubt, die ihm wichtig waren. Auch wenn ich versuche, mich zu erinnern, worüber wir in den zehn Minuten redeten – ich weiß es nicht mehr. Das Einzige, an was ich mich noch erinnern kann, ist, dass er am Schluss noch einen Scherz machte. Er sagte, dass er oben auf mich warte und im Begrüßungskomitee sein werde, wenn ich eines Tages auch an der Himmelstür erscheine … und »Good bye, wir sehen uns wieder«.

Eine Stunde später war er tot. Vergiftet. Im Namen des Staates Texas.

»Die Angst vor dem Sterben nehmen«

Emma Wilcox, pensionierte Pfarrerin einer evangelikalen Freikirche, wohnte zusammen mit ihrem kranken Ehemann etwa eine Autostunde entfernt von Polunsky Unit, dem riesigen Gefängniskomplex für Lebenslängliche und zum Tod verurteilte Männer. Äußerlich entsprach sie ziemlich genau dem Bild, das man sich von einer Texanerin macht: blond gefärbte und toupierte Haare, viel Make-up, Kaugummi kauend, Lippenstift und Fingernägel knallrot, etwas schrille und bunte Kleidung und dieser breite texanische Akzent. Jeden Tag besuchte sie drei bis vier Insassen des Todestrakts und verbrachte so fünf Tage die Woche im Gefängnis. Und dies alles neben der Betreuung ihres Ehemannes, der an Alzheimer erkrankt war.

Die Erste, die frühmorgens in der Autoschlange der Besucher vor dem Gefängnis wartete, war stets Emma Wilcox. Es war ihr wichtig, auch gleich als Erste kontrolliert und durchsucht zu werden, denn sie plante, jeden Tag so viele Insassen wie möglich zu besuchen. Da ständig etwa 350–400 Männer im Todestrakt einsitzen, kann man sich vorstellen, dass es Monate dauerte, bis jeder wenigstens einen Besuch von ihr bekam.

Es war aber nicht so, dass sie jeden besuchen durfte; der Insasse musste auch einverstanden sein. Die meisten, die vom Wachpersonal gefragt wurden, stimmten jedoch sofort zu, ob sie nun religiös waren oder nicht. Ein Besuch bot ihnen die Gelegenheit, für ein paar Stunden aus der Zelle zu kommen, Zeit im Besucherraum zu verbringen – eine sehr willkommene Abwechslung in ihrem tristen Gefängnisalltag. Dort sah man endlich wieder einmal andere Menschen von draußen. Und außerdem kaufte ihnen Mrs. Wilcox am Automaten immer etwas zu trinken und ein Sandwich, Meist wurde zuerst Persönliches besprochen, anschließend nahm sie jeweils das Neue Testament hervor und las ihnen mit ihrer leicht brüchigen Stimme die zuvor von ihr markierten Stellen daraus vor. Nicht alle hörten so richtig zu – aber es war einfach gut für sie, etwas anderes zu sehen als ihre vier Wände.

Ich lernte Emma 1996 im Besucherraum des Gefängnisses kennen. Wir beide warteten auf das Eintreffen unserer Gefangenen, was manchmal bis zu einer Stunde dauern konnte. Nach etwas Small Talk beugte sie sich zu mir und bemerkte, sie kenne meinen Namen, sie habe von etlichen ihrer besuchten Insassen von mir gehört. Sie wusste auch, dass ich ein- bis zweimal pro Jahr herkam, um Gefangene zu besuchen, und kannte auch Pablo und Steven recht gut.

Immer wieder trafen wir uns entweder vor dem Eingang des Gefängnisses oder im Besucherraum, und jedes Mal führten wir interessante Gespräche. Emma Wilcox war liebenswürdig, offen und freundlich, und sie betrachtete es als ihre Mission, den Menschen im Gefängnis von Jesus zu erzählen. Sie war zutiefst überzeugt davon, dass diese Männer, wenn sie erst einmal die Heilige Schrift kennen würden, mit ihrem Schicksal besser umgehen könnten: »Der Glaube kann ihnen Halt bieten und die Angst vor dem Sterben nehmen.« Die Gefangenen waren für Emma Wilcox von Gott geschaffene Wesen, die trotz ihrer Taten immer noch Menschen waren und dementsprechend behandelt werden sollten.

Eines Tages fragte sie mich, ob ich nicht vielleicht noch Kapazitäten hätte; sie kenne zwei Insassen, die wirklich niemanden hätten, der sie je besuchen würde und die weder Familie noch Freunde zum Schreiben hätten. Sie kritzelte mir ihre Namen und Nummern auf ein Stück Toilettenpapier und betonte, diese Männer lägen ihr sehr am Herzen und sie wäre mir äußerst dankbar, wenn ich mit den beiden – Eric und Fernando – einmal Kontakt aufnehmen könnte.

Zunächst zögerte ich, denn meine Tage waren mehr als ausgefüllt mit Besuchen. Zu jener Zeit besuchte ich fünf verschiedene Insassen aus dem Todestrakt, und da ich aus dem Ausland anreiste, hatte ich Anrecht auf acht Stunden Besuch pro Gefangenen. Trotzdem habe ich kurz nach meiner Heimreise begonnen, Eric, 38, und Fernando, 46, zu schreiben. Ein reger Briefwechsel folgte, und in den kommenden Jahren besuchte ich auch diese beiden Häftlinge regelmäßig.

Ich weiß nicht, wie viele Jahre und wie viele Besuche vergingen, aber irgendwann war Emma Wilcox nicht mehr da. Ich versuchte via Gefängnisleitung herauszufinden, was passiert sei. Doch es hieß nur lapidar, man wisse, dass sie krank sei, und deshalb komme sie nur noch sehr selten ins Gefängnis. Ein Jahr später, Mitte 2007, schrieb mir Fernando völlig entsetzt, dass die beliebte Pfarrerin Emma Wilcox verstorben sei. Welch bitterer Verlust, für viele Gefangenen im Todestrakt war sie die einzige Person gewesen, die sich je für sie interessiert hatte und zu der sie Vertrauen aufbauen konnten. Und es war leider niemand da, der ihren Platz hätte einnehmen können.

Meine Brieffreundschaft mit Fernando und Eric hielt nicht zuletzt wegen Emmas Initiative an. Doch eines Tages wurde Fernando in ein anderes Gefängnis verlegt. Sein Anwalt hatte auf Geisteskrankheit plädiert, und nach fast 30 Jahren in der Todeszelle wurde Fernando in ein spezielles Gefängnis für psychisch Kranke verlegt. Leider liegt es sehr weit von Houston entfernt, und es war mir nicht mehr möglich, ihn dort zu besuchen. Die Korrespondenz mit ihm wurde auch zunehmend schwieriger. Wir schrieben uns immer seltener, und in einem seiner Briefe erzählte er schließlich, dass er immer mehr erblinde und auch sonst nicht mehr gut beisammen sei.

In diesem neuen Gefängnis wurde er durch einen anderen Gefangenen stark beeinflusst und war Mitglied einer Freikirche geworden. Seit er zu den Wiedertäufern gehörte, drehten sich seine Briefe meist nur noch um seine religiöse Überzeugung. In meinen Antworten klammerte ich die Religion aber aus, denn ich mag es nicht, wenn man mich zu bekehren versucht. Also schrieb ich ihm meist über alltägliche Dinge und über Politik – etwas, was auch ihn sehr interessierte. In seinem letzten Brief schrieb er mir über die lächerlichen Sicherheitsvorkehrungen im Gefängnis wegen Covid-19. Sie hätten zuerst keine Masken tragen dürfen, aus Sicherheitsgründen – weil man sonst ihre Gesichter nicht gesehen hätte. Als es im Sommer 2020 zu einem großen Covid-19-Ausbruch kam, hätten sie plötzlich doch Masken, notdürftig hergestellt aus ihren alten Leintüchern, tragen müssen. Den Brief, den ich ihm daraufhin schrieb, bekam ich vier Wochen später mit zwei Stempeln – »entlassen« und »neue Adresse unbekannt« – versehen wieder zurück. Instinktiv wusste ich, dass da etwas nicht stimmen konnte, und forschte im Internet über seinen Verbleib. Dann fand ich die Notiz: Er war im Juli, kurz nach seinem letzten Brief, schwer an Covid erkrankt und kurz darauf im Spital verstorben –

Bei Eric sah die Sachlage anders aus. Nach vielen Jahren in der Todeszelle gelang es seinem Anwalt zu beweisen, dass sein IQ bei lediglich 68 lag. Fazit: Der kräftige Kerl, dem man wegen seines sympathischen Lächelns im Gefängnis den Namen Big Smile gegeben hatte, hätte gar nie zum Tode verurteilt werden dürfen. Ein Gutachten eines Schulpsychologen aus Erics Jugendzeit, das im Prozess vorgelegt worden war, bestätigte zwar, dass er geistig zurückgeblieben war. Doch obwohl laut Gesetz niemand zum Tode verurteilt werden darf, der einen IQ unter 70 besitzt, hatte man dieses Gutachten nicht anerkannt und ihn dennoch zum Tode verurteilt.

2005 wurde Eric aufgrund von mehreren neuen psychiatrischen Gutachten in ein spezielles Gefängnis verlegt. Die Gutachter waren zum Schluss gekommen, dass er tatsächlich nur einen IQ von knapp 68 habe und deshalb die Todesstrafe aufzuheben sei. Das Todesurteil wurde daraufhin von einem Gericht umgehend in »Lebenslänglich« umgewandelt. In Erics vorletztem Brief, den er mir 2015 schrieb, teilte er mir mit, dass er große Hoffnung habe, bald auf Bewährung freizukommen. Schließlich sei er nun schon 22 Jahre im Gefängnis – mehr als die Hälfte seines Lebens – für einen Mord, bei dem er nicht der Täter, sondern nur ein Mitläufer gewesen sei. Aber in Texas gilt: mitgegangen, mitgefangen – und alle vier, die bei dieser Schießerei nach einem Raubüberfall auf ein Restaurant dabei waren, wurden zum Tode verurteilt.

Im Sommer 2020 erhielt ich wieder einen Brief von ihm. Traurig berichtete Eric, dass er immer noch im Gefängnis sei. Die Freilassung auf Bewährung habe nicht geklappt. Im Sommer 2021 steht erneut die Entscheidung eines Rechtsausschusses an, ob man ihn auf Bewährung freilasse oder nicht. Seine ganze Hoffnung liegt nun auf einer positiven Beurteilung seines Falles. Er hatte mir vor Jahren während meiner Besuche immer wieder davon erzählt, dass seine von ihm über alles geliebte verstorbene Mutter ihm ein kleines Stück Land vermacht habe – grad genug, um einen Wohnwagen draufzustellen und im kleinen Garten davor Gemüse anzupflanzen. An diesem Plan hält er auch nach 28 Jahren unbeirrbar fest.

Eine Freilassung von Eric wäre ein Ergebnis ganz im Sinne von Emma Wilcox. Sie glaubte an Gerechtigkeit und dass einige dieser verurteilten Männer nochmals eine Chance im Leben bekommen sollten. Ihr Einsatz für die Männer im Todestrakt beschränkte sich ja nicht alleine auf das Vorlesen der Bibel, sie versuchte auch immer wieder, den Männern Mut und Hoffnung zu machen und sie zu trösten.

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