Читать книгу: «"Du sollst nicht töten"», страница 2

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Als die Wärterin ankündigte, die Besuchszeit sei in fünf Minuten abgelaufen, konnte ich meine Tränen nicht mehr zurückhalten. Er versuchte mich zu beruhigen, aber auch ihm liefen Tränen über die Wangen. Schließlich erschienen zwei Wärter, und ich musste den Raum verlassen. Ich winkte ihm noch ein letztes Mal zu, und er nickte und lächelte – zurückwinken konnte er nicht, da seine Hände auf dem Rücken in Handschellen gelegt waren.

Bis am späteren Nachmittag des 15. Dezember 1993 wussten wir alle nicht, ob dies das definitive Datum war. Oder ob es doch nochmals einen Aufschub geben würde?

Die Stunden vergingen ätzend langsam, und ich begleitete ihn im Geist auf seinem letzten Gang. Um ein Uhr morgens unserer Zeit rief schließlich seine Frau an. Clifford war tot, gestorben durch eine Giftspritze; es war sein neunter Hinrichtungstermin gewesen.


Das erste Mal traf ich mich mit Mariam alias Mary in Huntsville, Texas. Eine rothaarige, sommersprossige Frau, etwa 40 Jahre alt. Sie trug ein Kopftuch und erzählte mir gleich, dass sie eigentlich Mary heiße, aber nun den moslemischen Namen Mariam angenommen habe und auch so angesprochen werden wolle. An diesem Treffen tauschten wir ein paar Nettigkeiten aus und schrieben uns später auch hin und wieder ein paar Sätze, doch ich spürte kein Bedürfnis, sie näher kennenzulernen.

Mariam war Engländerin und hatte ihr ganzes Leben in England verbracht. Sie war dort verheiratet und hatte zwei kleine Mädchen von sechs und acht Jahren. Im Teilzeitpensum arbeitete sie dort als Krankenschwester, ihr Mann in einem Büro. Durch eine Organisation bekam sie die Adresse von Clifford und fing an, ihm zu schreiben. Sie schrieben sich immer öfter, und es dauerte nicht lang, bis sie das Gefühl von Verliebtheit empfand. Sie hatte ein paar Fotos von ihm bekommen – er war ein gut aussehender Mann, sie war angetan davon, dass er sehr gut zuhören und schreiben konnte. Auch wenn er nur die Highschool absolviert hatte, war er doch an vielem interessiert. Zudem hatte er alle Zeit der Welt, ihr jeden Tag zu schreiben, und Mary genoss diese Aufmerksamkeit sehr. Sie konnte ihm sogar ihre Eheprobleme anvertrauen, und er half ihr, damit irgendwie zurechtzukommen.

Bald einmal erzählte er ihr dann auch vom Islam, und sie nahm alles dankbar auf. Sie besorgte sich einen Koran, begann ihn zu lesen, und in ihren Briefen besprachen sie jedes einzelne Kapitel. Schließlich fand sie, dass sie eigentlich nie eine richtig gläubige Christin gewesen sei und der Islam ihr viel mehr bieten könne.

Ihr irischer Ehemann war entsetzt, als sie ihm eines Tages erklärte, sie trete aus der katholischen Kirche aus. Zudem teilte sie ihm kurz darauf mit, sie habe sich entschieden, aus diesem eintönigen Leben auszubrechen, und sie gedenke, in Kürze nach Amerika zu ziehen. Mary gestand ihm, sich in einen Amerikaner verliebt zu haben und dass sie mit ihm ein neues Leben beginnen wolle. Sie erzählte ihm jedoch nicht, dass dieser Mann in der Todeszelle saß. Nach tagelangem heftigem Streit, vor allem um die Frage, was mit den beiden Mädchen passieren solle, verließ Mary ihren Mann und ihre Kinder und zog nach Texas.

In einem Spital in Houston fand sie rasch eine Anstellung als Krankenschwester und mietete nicht weit entfernt vom Gefängnis eine kleine Wohnung. Kaum richtig angekommen, konvertierte sie sehr zum Gefallen von Abdullah (alias Clifford) zum Islam, nannte sich von da an Mariam und trug immer ein Kopftuch und einen Gebetsteppich mit sich. Zwei Wochen später heirateten die beiden, eine rein amtliche Sache: Sie musste in einem Gemeindebüro die Papiere unterschreiben, und er anschließend dasselbe Papier in seiner Zelle. Kein Treffen, kein besonderer Besuch, keine Umarmung – nur ein amtliches Papier.

Eine Mutter verlässt ihre Kinder wegen eines Mannes, der zum Tode verurteilt ist, den sie nur durch ein Glasfenster sehen und mit dem sie nur per Telefonhörer kommunizieren kann. Sie heiratet einen Mann, mit dem sie nie einen Abend allein verbracht hat und den sie nicht einmal nach der zivilen Trauung in die Arme nehmen durfte. Das ist schwer zu verstehen, geschweige denn nachzuvollziehen.

Mariam fühlte sich unendlich tief verbunden mit diesem Mann, und der Islam schweißte sie zusammen. Sie glaubte daran, dass Allah ihre Gebete erhören und dass Abdullahs Strafe vielleicht doch noch in lebenslängliche Haft umgewandelt würde. Ihre Hoffnung ging so weit, dass er bei guter Führung nach Verbüßung seiner Strafe wieder freikommen und sie eines fernen Tages mit ihm zusammen noch die restlichen Jahre verbringen könne. Sie schmiedete bereits Pläne, wo und wie sie dann mit ihm leben werde.

Nach der Hinrichtung von Abdullah war Mariam am Boden zerstört. Sie wollte auf keinen Fall länger in Texas bleiben, sondern so schnell wie möglich zurück nach England. In der Zwischenzeit hatte ihr ehemaliger Mann die Scheidung durchgezogen und erreicht, dass Mariam ihre Kinder nicht mehr sehen durfte. Alles Bitten half nichts, der Ehemann wollte nichts mehr von ihr wissen, und Mariam musste in einer anderen Stadt ihr Leben noch einmal von vorne beginnen.

Danach habe ich nie mehr etwas von ihr gehört.


Im Laufe der vielen Jahre, in denen ich mit Gefangenen korrespondierte, habe ich etliche Frauen kennengelernt, die sich in ihre Brieffreunde im Gefängnis verliebt und sie manchmal auch geheiratet haben. Immer wieder habe ich in Gesprächen mit ihnen versucht herauszufinden, wie es so weit kommen kann. Es muss ihnen doch klar gewesen sein, dass diese Männer nie mehr freikommen – im Gegenteil, dass sie irgendwann hingerichtet würden. Es gibt nicht die geringste Chance auf ein gemeinsames Leben, darauf, eine Familie zu gründen …

Da ist auf der einen Seite ein Mann, der verurteilt ist und der weiß, dass seine Zeit begrenzt ist. Er ist womöglich seit Jahren in eine winzige Zelle eingesperrt, völlig isoliert von der Welt, und wünscht sich nichts mehr, als mit einem Menschen über seine Ängste, sein Leben, seine Tat, seine bevorstehende Hinrichtung, seine Gedanken über den Tod, über Gott – über alles, was ihn zutiefst beschäftigt – zu sprechen. Wer auch immer ihm schreibt, er ist einfach nur froh, endlich jemanden gefunden zu haben, dem er sich anvertrauen kann. Dieser Mann hat den ganzen langen Tag Zeit, um auf seine Brieffreundin einzugehen und ihr zu schreiben. Er hört sich ihre Sorgen an, gibt Ratschläge, vermittelt ihr das Gefühl, dass sie gebraucht wird. Oft hat er recht schnell das Gefühl, dass er sie liebe. Sie ist ja meist der einzige Mensch, der noch an seinem Leben teilnimmt.

Auf der anderen Seite eine sozial denkende Frau. Sie möchte etwas Gutes tun, möchte mit ihren Briefen etwas Menschlichkeit in ein verpfuschtes Leben bringen. Vielleicht ist sie auch einsam, vielleicht hat sie schlechte Erfahrungen in ihrem Leben gemacht. Auch sie ist froh, endlich jemanden zu haben, dem sie alles anvertrauen kann. Auch ihr bedeutet diese Brieffreundschaft immer mehr und wird zu einem wichtigen Teil in ihrem Leben. Je mehr sie sich verbunden und verstanden fühlt, desto leichter kommen auch bei ihr Gefühle auf.

Oft wird dann verdrängt, dass dieser Mann kein unbeschriebenes Blatt ist und dass er nun wegen eines Mordes zum Tode verurteilt wurde. Die Frau beginnt alles erdenklich Gute auf ihn zu projizieren – all das, was sie sich von einem Mann erträumt. Auf einmal sieht sie in ihm den idealen Mann, der Einzige, der sie versteht, der einfühlsam ist und sie bedingungslos liebt, so wie sie ist. Sie will gar nicht mehr daran denken, dass sie niemals die Gelegenheit haben wird, mit ihm zusammen zu sein. Sie versinkt in ihrer Fantasiewelt, was für beide ja auch schön sein kann: raus aus der brutalen Wirklichkeit, hinein in eine Welt voller Möglichkeiten.

Solange nur die beiden involviert sind in einer solchen Beziehung, ist das auch in Ordnung. Beide haben nichts zu verlieren, und es geht auch nur sie beide etwas an. Problematisch wird es dann, wenn, wie im Falle von Mary, ein Ehemann oder Kinder betroffen sind und Familien oder Beziehungen daran zerbrechen.

Aus eigener Erfahrung kann ich nur sagen, es ist oft eine äußerst schwierige Gratwanderung: Zu geben – und doch nicht zu viel –, zu nehmen – und doch immer Grenzen aufzuzeigen!

Grüße aus dem Radio

Es war wieder einer dieser feucht-heißen Tage in Texas; mein Auto hatte sich auf dem Parkplatz des Gefängnisses von Ellis One in einen Backofen verwandelt. Völlig erschöpft von der emotionalen Anspannung während meines Besuches bei Clifford und dieser Hitze, kam ich eine halbe Stunde später im Motel in Huntsville an. Obwohl es eine billige Unterkunft war, gab es eine Klimaanlage im Zimmer. Die kühle Luft half dennoch nicht, es roch muffig.

Ich zog meine Schuhe aus und schlüpfte gleich in die Flipflops, um mit meinen Füßen auf keinen Fall den garantiert mit Bakterien getränkten Teppich im Zimmer betreten zu müssen. Wie bei nahezu allen amerikanischen Motels gab es auch in diesem nur ebenerdige Zimmer, ständig gingen Leute vor dem Fenster hin und her, darum ließ ich die Vorhänge des Fensters immer zu. Ohne das Licht anzumachen, ließ ich mich aufs Bett fallen. Als ich die Augen wieder öffnete, bemerkte ich das blinkende rote Licht am Telefonapparat; jemand hatte eine Nachricht für mich an der Rezeption hinterlassen. An der Rezeption erzählte mir die ältere, rundliche Frau, die Dienst hatte, dass während meiner Abwesenheit ein Anruf von einer lokalen Radiostation für mich gekommen sei. Sie reichte mir einen Zettel mit einer Nummer und der dringenden Bitte um einen Rückruf.

Unter der Nummer meldete sich eine weibliche Stimme, die sofort wusste, wer ich war. Sie hatte von irgendjemandem erfahren, dass ich mit Clifford Phillipps in Kontakt stehe und ihn regelmäßig besuche. Da Mr. Phillipps in wenigen Tagen hingerichtet werde, sei mein jetziger Aufenthalt in Huntsville vermutlich der letzte Besuch bei ihm. Ob ich bereit wäre, ihnen ein Interview zu gewähren, das sie im Rahmen ihrer Berichterstattung über Cliffords Hinrichtung ausstrahlen möchten? Ich fühlte mich überrumpelt, sagte dann trotzdem zu, ihren Kollegen am folgenden Tag in einem mexikanischen Restaurant gleich um die Ecke von meinem Motel zu treffen. Sein Erkennungsmerkmal: eine Zeitung unter dem Arm.

Ein großer, hagerer und nicht unsympathischer Mann stellte sich als John Hudson vor, Reporter bei der lokalen Radiostation, und er lotste mich in eine ruhige Ecke des Restaurants. Zuerst bestellten wir etwas zu essen und plauderten über Belanglosigkeiten, doch er wurde zunehmend ungeduldiger und signalisierte, dass er so schnell wie möglich mit dem Interview beginnen wollte. Kaum hatte er das Mikrofon eingestellt, legt er los: Warum ich ausgerechnet jemandem schreibe, der zum Tod verurteilt worden sei? Ob mir klar sei, dass Clifford Philipps schuldig sei? Und ob ich wisse, dass er eine Frau umgebracht habe? Er wollte wissen, was mir in Bezug auf die bevorstehende Hinrichtung durch den Kopf gehe und ob ich mich entschieden hätte, dabei zu sein. Selbst die Angehörigen der getöteten Frau brachte er ins Spiel, er wollte wissen, ob ich mich auch mit ihrer Seite der Geschichte beschäftige und sie kontaktiert hätte?

Eine ganze Stunde dauerte das Gespräch, und ich beantwortete geduldig jede seiner Fragen. Ein paar Tage darauf wurde dieses Interview in der Umgebung von Huntsville ausgestrahlt.

In den 1990er-Jahren hatte jeder Gefangene noch die Möglichkeit, sich eines der kleinen, simplen Radios im Gefängnisladen zu kaufen, die dort von den Behörden zu völlig überteuerten Preisen angeboten wurden. Nur die Gefangenen, die etwas Geld von ihrer Familie oder von Freunden erhielten, konnten sich ein Radio leisten. Das Programm der lokalen Radiostation, das für alle Bewohner der Region gedacht war, wurde in den verschiedenen Gefängnissen gut empfangen und war bei den Gefangenen ausgesprochen beliebt.

Etwa zwei Wochen nach Ausstrahlung meines Interviews in Huntsville begann sich mein Briefkasten in Zürich mit Briefen aus Texas zu füllen. Der Sender hatte jedem Insassen, der bei der Redaktion nach meiner Anschrift fragte, meine genaue Adresse in der Schweiz bekannt gegeben, und ich wurde mit Anfragen von Gefangenen überhäuft. Falls Clifford nun hingerichtet werde, könnte ich vielleicht ihnen schreiben.

Ich war völlig überrumpelt und legte die Briefe vorerst auf die Seite. Noch lebte Clifford, und ich hatte weder die Absicht noch die Zeit, andere Brieffreundschaften anzufangen. Ein paar Monate später nahm ich die vielen Briefe trotzdem hervor, denn ich empfand es als feige von mir, nicht wenigstens zu antworten und zu erklären, warum ich nicht mehr schreiben wollte. Also las ich jeden einzelnen Brief und legte dar, dass Cliffords Tod für mich kaum zu verkraften war und ich das, so leid es mir tue, nicht noch einmal durchstehen könne.

Doch einige dieser Gefangenen gaben nicht auf und antworteten wieder. Jeder bat mich darum, wenigstens seine Adresse zu behalten für den Fall, dass ich meine Meinung ändern würde und doch eines Tages wieder mit jemandem korrespondieren möchte …

Das Ganze endete damit, dass ich ein paar Monate später doch wieder anfing, vier von diesen Männern regelmäßig zu schreiben. Und es blieb nicht dabei. Eine Kollegin stand in Briefkontakt mit einem Gefangenen in der Todeszelle in San Quentin, Kalifornien. Dieser wiederum hatte einen guten Freund im Gefängnis, der unbedingt eine Brieffreundschaft suchte. Also fragte sie mich, ob ich nicht vielleicht auch ihm schreiben könne …

Wie wichtig das Medium Radio für Gefangene ist, zeigt die Geschichte der Station KDOL, die ich im Internet fand.

»The Shout-out Show« auf Radio KDOL 96.1

Eine kleinere Radiostation, KDOL 96.1 in Livingston, Texas, durchbricht Gefängnismauern. Die »Shout-out Show« wird jeweils sonntags zwischen 14:00–19:00 Uhr ausgestrahlt und gibt Familienmitgliedern, Freunden und vor allem den Gefangenen in Polunsky Unit die Möglichkeit, sich per Radio zu verbinden.

KDOL, eine lokale Radiostation, die von Jim und Joy Wolf im Jahre 2003 gegründet wurde, sendet ihr Programm aus dem Hause der Wolfs im Zentrum von Livingston. Alles begann damit, dass die Wolfs mit einem Mann in der Todeszelle namens Greg Summers zu korrespondieren begannen. Dieser war ein eifriger Hörer ihres Programms und fragte sie eines Tages an, ob sie für ihn »Irish Blessings« spielen könnten. Daraufhin baten auch andere Gefangene darum, dass ihre Musikwünsche gesendet wurden. Im Mai 2005 wurde KDOL via Web Radio online gestellt, und die »Shout-out Show« entwickelte sich schnell von einem einfachen Wunschkonzert zu einem Kommunikationskanal zwischen Gefangenen und ihren Angehörigen.

Die Gefangenen erzählten sich untereinander von dieser Sendung. Da sie keine Möglichkeit haben, live anzurufen und so ihre Grüße und Nachrichten durchzugeben, schicken sie ihre Botschaften per Brief. Die Wolfs bekommen jede Woche zwischen 35 und 60 Briefe aus dem Gefängnis. Darin enthalten sind Musikwünsche und Dankesworte, aber auch Nachrichten für Familien und Freunde, in denen die Gefangenen ihre Zuneigung und Verehrung ausdrücken.

Zusätzlich erhalten die Wolfs jede Woche fast 250 Anfragen für »Shout-outs« von den Familienangehörigen und Freunden. Um diese Briefe und E-Mails alle durchzulesen und zu sortieren, arbeiten sie zwischen 60 und 70 Stunden pro Woche. Sie müssen vorsichtig sein, nichts zu verlesen, was eine Nachricht von einem Gefangenen an einen anderen Gefangenen sein könnte. Als einmal ein Gefangener von Huntsville wollte, dass man seinen Brief am Radio vorlese, der für seinen Sohn gedacht war, der im Todestrakt in Livingston einsaß, durften sie dies nicht tun, denn das Gesetz verbietet die Kommunikation von Gefangenen mit anderen Gefangenen.

KDOL macht auch eine eigene Sendung für diejenigen, die sterben müssen. Sie beginnt jeweils am Abend der Hinrichtung um 19:00 Uhr und macht es so möglich, dass Familien und Freunde jenes Mannes noch Worte der Unterstützung an ihn durchgeben können. Während der ganzen Sendung werden dann die von ihnen gewünschten Songs gespielt. Diese Sendung begann im Mai 2005 mit der Hinrichtung von Richard Cartwright und wurde danach vor jeder neuen Hinrichtung ausgestrahlt. Meistens kommen an diesen Abenden die Familienmitglieder und Freunde ins Studio und geben dort ihre Nachrichten persönlich durch!


Radio KDOL war wirklich etwas Besonderes. An gewissen Wochentagen und zu bestimmten Zeiten durften Angehörige oder Freunde eines Gefangenen anrufen und Nachrichten für ihn hinterlassen sowie ein Musikstück für ihn auswählen. Anschließend wurde der Name des Gefangenen aufgerufen, die Nachricht verlesen und die Musik für ihn gespielt.

Natürlich missfiel das den Gefängnisbehörden, denn nun gab es eine Möglichkeit für Angehörige und Freunde, mit den Insassen persönliche Nachrichten auszutauschen, ohne dass sie die Kontrolle darüber hatten.

Unzählige Male habe ich aus der Schweiz angerufen und Nachrichten für Pablo, Steven, Andy und andere übermittelt und Musikstücke für sie spielen lassen. Ich schaute auch jedes Mal kurz auf der Redaktion vorbei, wenn ich wieder Besuche in Livingston machte. So konnte ich meine Nachrichten persönlich am Mikrofon durchgeben.

Leider war es aber so, dass die Radiomacher immer weniger Spenden von Angehörigen und Freunden der Gefangenen erhielten, um die Miete des Hauses und die Unkosten zu bezahlen und den MacherInnen einen bescheidenen Lebensunterhalt zu ermöglichen. Zu alledem machten aber auch noch die Behörden der Stadt Livingston ihnen das Leben schwer, die alles daransetzten, die Genehmigung zu entziehen.

Als ich 2006 wieder in Livingston war und in der Station vorbeisehen wollte, um Nachrichten durchzugeben, war die Station geschlossen, und im Haus wohnten andere Leute. Niemand konnte mir je genau sagen, was geschehen war. Die Wolfs waren weggezogen, ohne eine Adresse zu hinterlassen.

Vorbei die Zeit, in der die Angehörigen, die meistens weit weg wohnten und keine Möglichkeit für einen persönlichen Besuch hatten, ihre Nachrichten per Radio durchgeben konnten. Noch Jahre später sprachen die Gefangenen von der guten Zeit mit Radio KDOL. Doch leider hat bisher niemand mehr eine ähnliche Initiative gestartet.


2.Pablo

Eine fatale Entscheidung

Inhaftierung: Mai 1992

Haftanstalt: bis 1999 Ellis One, ab dann

Polunsky Unit, Livingston, Texas, USA

Er war der liebenswürdigste und sanfteste Gefangene, den ich je gekannt habe. Über 20 Jahre habe ich ihm geschrieben und nach Hunderten von Briefen und den vielen Besuchen bei ihm bestand zwischen uns eine wahre und tiefe Freundschaft. Für mich war es schwer zu verstehen, warum dieser freundliche Mann im Todestrakt gelandet war und dort nun seit so vielen Jahren auf seine Hinrichtung wartete.

Aber – auch er war schuldig und bezahlte für eine Tat, die niemals hätte geschehen dürfen! Dass er seine Tat zutiefst bereute und alles gegeben hätte, die Zeit zurückzudrehen und alles ungeschehen zu machen, das spielte keine Rolle mehr. Nur hoffte er darauf, dass sein Anwalt es eventuell doch noch schaffen würde, die Todesstrafe, die gegen ihn verhängt worden war, in eine lebenslängliche Strafe umzuwandeln.

Pablo durchlief zunächst ein für Amerika typisches Migrantenschicksal. Seine Eltern waren sehr arm und lebten im Norden von Mexiko. Von Nachbarn erfuhren sie, man suche in den USA ständig Arbeitskräfte für die Landwirtschaft und man könne dort etwas verdienen. So machte sich die Familie mit ihren drei Kindern Isabel, Eliana und Pablito auf den Weg. Die Reise war Ende der 1960er-Jahre überhaupt nicht schwierig, denn die Grenze wurde noch kaum überwacht. Im Süden der USA warteten riesige Farmen auf die dringend benötigten und hoch willkommenen Arbeitskräfte für die Ernten, denn es war nahezu unmöglich, Amerikaner für diese harte und schlecht bezahlte Arbeit zu finden. Die Familie erreichte Texas und konnte für den Anfang bei Verwandten unterkommen. Sehr schnell fanden sie Arbeit auf einer der gigantischen Baumwollplantagen. Man stellte keine Fragen nach Aufenthaltsgenehmigungen oder sonstigen Papieren, und natürlich bezahlte man diesen Menschen nicht einmal das gesetzliche Minimum eines Stundenlohns. Die Farmer wussten genau, dass sich die Arbeiter wegen ihres illegalen Status nicht wehren konnten.

Die Mexikaner arbeiteten hart und waren froh, etwas zu verdienen. Alle mussten mit anpacken, auch die Kinder. Da blieb keine Zeit und kaum Möglichkeiten für die Schule – jede Hand wurde gebraucht. Pablo erzählte mir in seinen Briefen oft, dass er schon als kleiner Bub von frühmorgens bis spätabends in der brütenden Sonne arbeiten musste. »Das Schlimmste war aber nicht die brütende Hitze, sondern die Stacheln an den Baumwollkapseln, die wir pflücken mussten. Jeden Abend waren unsere Hände zerstochen und bluteten.« Pablo und seine älteren Geschwister wünschten sich nichts mehr, als eines Tages nicht mehr auf den Feldern arbeiten zu müssen und vielleicht doch einmal in eine Schule gehen zu können.

Die Familie entschied sich schnell, in Texas zu bleiben. Trotz der harten Arbeit ging es ihnen dort besser als in Mexiko, und dank den Löhnen aller Familienmitglieder konnten sie sich eine Unterkunft mieten und hatten genug zu essen. Mit der Zeit fanden sie sogar eine bessere Arbeit auf den Feldern von Gemüseanbauern.

Obwohl sie sich illegal im Land aufhielten, durften die Eltern die Kinder für die Schule anmelden – damit sie wenigstens eine rudimentäre Bildung erhielten. Pablo war schon fast ein Teenager, als er Lesen und Schreiben lernte, und er war ein sehr guter Schüler! Eine Highschool durfte er dann aber nicht mehr besuchen, dies ist in den USA keine Pflicht, und so endete Pablos Schulzeit schon nach wenigen Jahren. Er war jetzt ein kräftiger junger Mann, und seine Eltern erwarteten, dass er einen Job finden und zum gemeinsamen Haushalt beitragen würde.

Ständig auf der Suche nach Arbeit, packte er mal hier, mal dort an – überall, wo es gerade etwas zu verdienen gab. Ein Tagelöhner und Gelegenheitsarbeiter, das war eigentlich nicht das Leben, das sich Pablo erträumt hatte. Er war clever und fleißig, ohne weitere Bildung würde er nie aus dieser Umgebung rauskommen, das war ihm durchaus bewusst. Doch von seinem kleinen, unregelmäßigen Einkommen blieb nichts übrig für weitere Schulen, und zu Hause erwartete man von ihm finanzielle Unterstützung.


Pablo liebte die Fiestas, die Frauen und immer mehr auch den Alkohol. Er war beliebt, hatte viele Freunde und ging gerne und oft in die Bars von San Antonio. An diesen Abenden wurde viel getanzt, gefeiert und getrunken. Häufig kam der damals knapp 17-Jährige nachts betrunken nach Hause, was zu heftigen Streitereien mit den Eltern führte. So jung wie er war, hatte er doch schon etliche Frauengeschichten hinter sich, und sein Leben wurde mangels Perspektiven immer unsteter. Bis zu dem Tag, als er Wendy an einem Fest kennenlernte. Hals über Kopf verliebte er sich in die weiße Amerikanerin, dies war die Frau, mit der er eine Familie aufbauen und bis ans Lebensende zusammen sein wollte. Auch sie war verliebt, und so heirateten die beiden recht überstürzt. Pablo zog von zu Hause aus und fand Platz in Wendys kleiner Wohnung.

Durch diese Heirat konnte Pablo nun auch seinen Aufenthalt in den USA legalisieren, und er beschaffte sich die amerikanische Staatsbürgerschaft. Wendy ermunterte ihn, doch noch die Highschool zu absolvieren, und Pablo versuchte tatsächlich, neben seinen verschiedenen Hilfsjobs zur Schule zu gehen. Ob er die Highschool je abgeschlossen hat, weiß ich nicht – ich hab ihn nie danach gefragt, und er hat es mir von sich aus nie erzählt. Ich hab mich nur immer wieder gewundert, wie fehlerfrei seine Briefe waren.

Eigentlich hätte das Leben des jungen Paares gut verlaufen können, wenn Pablo nur nicht so viel getrunken hätte. Die beiden bekamen kurz nacheinander zwei Kinder, und Pablo vergötterte seine Familie – Tochter Cindy und Sohn Pablito waren sein Ein und Alles. Mit Wendy hingegen lief es nicht so gut, sie stritten immer öfter wegen Geld und wegen seines übermäßigen Alkoholkonsums. Ein paar Mal versuchte er, mithilfe der Organsiation AA – Alcoholics Anonymous – vom Alkohol loszukommen, allerdings hielt er nie lange durch. Für Wendy und die kleinen Kinder wurde die Situation unhaltbar. Nach einem besonders schlimmen Vorfall entschloss sie sich deshalb, zusammen mit ihren beiden Kindern zu ihrem neuen Freund zu ziehen.

An diesem Abend, an dem Pablos Leben völlig aus den Fugen geriet, hatte er nach der Arbeit noch ein Lokal besucht und schon einiges getrunken. Erst ziemlich spät machte er sich auf den Heimweg zu ihrer Wohnung in einem Block in einem Houstoner Arbeiterquartier. Pablo stieg die Treppen bis ins oberste Stockwerk hoch und schloss die Wohnungstüre auf, wo Wendy bereits wütend auf ihn wartete. Er hatte versprochen, gleich nach der Arbeit nach Hause zu kommen, um auf die Kinder aufzupassen. Sie war verabredet, und nun war es viel zu spät geworden! Pablo hatte keine Lust, sich ihre Vorwürfe anzuhören, er suchte nach Bier im Kühlschrank, konnte aber keines finden. Ohne ein Wort machte er sich nochmals auf den Weg, um Nachschub zu besorgen.

Das war für Wendy zu viel. Kaum hatte Pablo die Wohnung verlassen, packte sie so schnell sie konnte ein paar Sachen von sich und den Kindern zusammen und wollte gerade gehen, da stand Pablo bereits wieder in der Tür. Es gab einen heftigen Streit, und Wendy schrie, dass sie endgültig genug habe von seiner Sauferei und ihn verlasse. Die Kinder nehme sie mit, er solle sie alle von jetzt an einfach in Ruhe lassen. Sie versuchte sich mit den vollgepackten Taschen und den Kindern an ihm vorbeizudrängen, aber er hielt sie fest und ließ sie nicht durch. Pablo tobte, er werde es niemals zulassen, dass sie Cindy und Pablito mitnehme, und er sie umbringen werde, wenn sie es wagen sollte. Als Pablo merkte, dass seine Drohungen nichts bewirkten, ließ er plötzlich von Wendy ab und stürmte aus der Wohnung die Treppe hinunter zu seinem Auto. Im Handschuhfach seines Wagens schnappte er sich seinen Revolver und rannte zurück in die Wohnung. Wendy befürchtete inzwischen Schlimmes und flüchtete mit den beiden Kindern zur Nachbarin. Diese war schon öfter Zeugin schlimmer Auseinandersetzungen zwischen den beiden geworden; sie ließ die drei in ihre Wohnung und verriegelte die Tür.

Als Pablo zurückkam, war die gemeinsame Wohnung leer. Er hatte niemanden aus dem Wohnblock gehen sehen, also musste Wendy noch irgendwo da drin sein. Pablo wusste, dass die Nachbarin eine gute Freundin seiner Frau war, und war sich sicher, dass sich Wendy dort versteckte. Nachdem ihm auf sein Klingeln und Gepolter niemand aufmachte, trat er die Tür ein. Wendy und die Nachbarin standen in der Nähe der Tür – Pablo trat zurück auf den Flur und schoss, die Nachbarin wurde schwer verletzt, Wendy starb auf der Stelle.

Inzwischen war die Polizei eingetroffen, die Nachbarin hatte sie gerufen, kurz nachdem sie die drei bei sich aufgenommen hatte. Als die schwer bewaffneten Polizisten ins Treppenhaus stürmten, fanden sie Pablo mit der Waffe vor. Er richtete sie gegen sich selbst und schrie, er werde sich sofort erschießen, wenn die Polizisten näher kommen würden. Man versuchte ihm gut zuzureden, aber erst einem Psychologen gelang es, Pablo davon zu überzeugen, an seine Kinder zu denken und sich nichts anzutun. Er solle doch bitte die Waffe fallen lassen und sich ergeben – alles andere werde sich sonst zu einer enormen Tragödie für alle Zurückgebliebenen auswachsen. Nach langem Hin und Her ergab sich Pablo und gestand die Tat sofort.

Dass Wendy tot war, begriff Pablo erst, als er in der Zelle wieder nüchtern wurde. Seine größte Sorge war, was nun mit seinen beiden Kindern geschehen würde – sein eigenes Leben war nicht mehr wichtig. Er wusste genau, dass er nie mehr lebend aus dem Gefängnis rauskommen würde, um noch für die Kinder da zu sein. Durch seine unkontrollierbare Wut hatte er alles verloren, was er geliebt hatte.

Da Pablo nie genug Geld verdient hatte, um etwas für den Notfall auf die Seite legen zu können, bekam er vom Gericht einen Pflichtverteidiger zugeteilt. Dieser hätte versuchen können, auf Mord im Affekt zu plädieren – tat er aber nicht. Anscheinend gab es damals in Texas ein Gesetz, das Mord im Affekt als Tatbestand nur zuließ, wenn die Tat in der eigenen Wohnung oder im öffentlichen Raum passiert war. Da Wendy in der Wohnung der Nachbarin lag, als sie tot zusammenbrach, sah die Gesetzeslage anders aus. Die Tat wurde als vorsätzlicher Mord eingestuft. Hätte Wendy draußen im Flur gelegen – an einem öffentlichen Ort –, hätte Pablo für Mord im Affekt wahrscheinlich eine lebenslange Haftstrafe erhalten. Doch Pablo war alles egal, er wollte ohnehin nicht mehr leben. Die Verkündung des Todesurteils brachte ihn nicht im Geringsten aus der Fassung.


Die ersten Jahre nach seiner Verurteilung verbrachte Pablo im Todestrakt von Ellis One. Und langsam fand er sich mit dem Leben dort ab; er erwies sich als vorbildlicher Gefangener, war stets höflich den Wärtern gegenüber und schloss Freundschaften mit anderen Gefangenen, die, wie er, zum Tode verurteilt waren.

Doch seine Kinder fehlten ihm mehr als alles andere, und die Schuld, für den Tod ihrer Mutter verantwortlich zu sein, lastete schwer auf ihm. Cindy und Pablito lebten nun bei Verwandten, und diese hatten entschieden, dass es besser für die Kinder sei, jeglichen Kontakt zum Vater zu unterbinden. Die Briefe, die Pablo immer wieder an seine Kinder schrieb, blieben unbeantwortet.

Ursula und Pablo

Pablo war der erste Gefangene, der nach dem Interview bei Radio Huntsville mit mir Kontakt aufnahm. Seine berührenden Zeilen erreichten mich jedoch kurz nach der Hinrichtung von Clifford, und so fand ich erst nach etlichen Wochen die Kraft zu antworten. Ich bat ihn um Verständnis, dass ich jetzt wirklich nicht bereit für eine neue Brieffreundschaft sei. Zudem wolle ich auch gar nicht mehr mit jemandem aus dem Todestrakt korrespondieren, weil die Erfahrung, die ich erst vor Kurzem gemacht hätte, viel zu schmerzhaft gewesen sei. Und so gab ich ihm eine Adresse von einer Organisation, an die er sich wenden konnte, um eine Brieffreundin zu finden.

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