Читать книгу: «Wintertauber Tod», страница 5

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Michel verdrehte die Augen.

Weshalb würden Sie es sonst tun? Sie sind der Ausführende einer gesellschaftlichen Raison d’être, die sich auf die Grundsätze der Bibel stützt. Was glauben Sie, warum man gerade vor Gericht auf die Bibel schwören musste?

Ja, ja. Ist ja gut. Ich gebe auf. Ich weiß schon jetzt, dass ich Ihrer Argumentation nicht gewachsen bin. Sie werden auf alles eine Antwort haben. Das spüre ich genau. Was sind Sie von Beruf, Anita, wenn ich fragen darf?

Ich arbeite für die Heilsarmee.

Michel, der gerade sein Glas in einem Zuge leeren wollte, verschluckte sich gründlich. Anita sprang auf und schlug ihm energisch auf den Rücken.

Geht’s wieder? Soll ich noch einmal?

Nein, nein. Ist gut. Danke schön.

Er hustete noch ein wenig vor sich hin.

Mädchen, du hast einen ziemlich guten Schlag drauf. Entschuldigung. Ich wollte sagen, dass Sie sozusagen auf allen Ebenen ganz schön schlagfertig sind.

Hat die Heilsarmee Sie so erschreckt?

Nein, nein. Oh je. Das Bier ist mir fast durch die Nase rausgekommen.

Er leerte das Glas und winkte dem Kellner.

Carlo, noch eins, bitte. Wollen Sie auch noch einen Tee?

Sie nickte. Er deutete auf sie. Carlo nickte.

Wo ist denn eigentlich Ihre Uniform?

Die tragen wir doch nur an Weihnachten beim Singen. Und manchmal zu offiziellen Anlässen.

Die steht Ihnen sicher gut, denke ich.

So, so. Denken Sie. Haben Sie keine Uniform?

Nein, wo denken Sie hin! Uniformen tragen nur Verkehrs- und Streifenpolizisten. Zum Teil natürlich auch Beamte im Büro und am Schalter. Aber nicht in meiner Funktion. Zudem wär’s ja auch ziemlich schwierig, eine für mich aufzutreiben.

Beide lachten.

Bei uns bekämen Sie ohne weiteres eine. Wir haben eine eigene Schneiderei und genug Stoff.

Danke für das Angebot, aber ich bleibe vorerst bei der Polizei. Anita trank den letzten Schluck ihres Tees.

Ich würde gerne einmal einen Blick auf die Zeichen werfen. Wäre das möglich?

Welche Zeichen? Ach, Sie meinen die Blutzeichen?

Anita bejahte die Frage mit einem strahlenden Lächeln.

Das eine oder andere ist ja in der Presse veröffentlicht.

Ja, schon. Aber ich meine alle. Man müsste doch sicher alle sehen, um einem eventuellen Sinn auf die Spur zu kommen, oder?

Michel nickte. Er wusste natürlich, dass er es nicht durfte, aber – Unter einer Bedingung: Wenn Sie mit mir an einem der nächsten Abende Essen gehen und mir genau erzählen, warum Sie so, äh, ich meine, so –

Warum ich so bin wie ich bin?

Ja. Genau.

VIER

In der Nacht vom elften Tag seines Verschwindens ist der erst siebzehn Jahre alte Kochlehrling André Tillieux in den Freitod gegangen. Sein Leichnam wurde noch in derselben Nacht geborgen. Die Bestattung findet im engsten Kreis statt.

Solange rannen Tränen übers Gesicht, als sie die kleine Notiz in der Zeitung las. Sie hatte die Aufgabe, alle fürs Dorf wichtigen Zeitungsausschnitte zu sammeln und an das Schwarze Brett zu hängen. Dass sich der junge André, den sie nur flüchtig kannte, vor den Zug geworfen hatte, wusste sie zwar schon seit gestern, doch als sie es schwarz auf weiß sah, brach sie in Tränen aus, als wäre es erst jetzt Realität geworden. Nach einer Weile beruhigte sie sich und beschloss, diese Nachricht ebenso ans Brett zu hängen, auch wenn Andrés Selbstmord eigentlich – und hoffentlich – nichts mit den Blutzeichen zu tun hatte. All den Nachbarn, die über einen solchen möglichen Zusammenhang spekulierten, widersprach sie vehement, hatte es doch schon lange das Gerücht gegeben, dass André depressiv und suizidgefährdet war. Er war ja offenbar schon einige Male abgehauen. Hieß es nicht, er habe sich mal im Mittelmeer ertränken wollen, und sein Onkel Marnier, der Gute, habe ihn gerettet?

Gleichwohl heftete sie den Zeitungsausschnitt an das Brett, schließlich betraf es das Dorf. Nachdem sie auch die restlichen Zeitungen gesichtet hatte, beschäftigte sie sich mit der Liste für die Polizei. Tanner hatte sie gebeten, eine Art Stundenplan für die Leute von der Polizei zu machen, die in den nächsten drei Tagen alle Bewohner vernehmen würden. Oder vielmehr mit den Familien Interviews führen wollten. Sie hatte die Dorfbewohner in Familiengruppen unterteilt und ordnete jetzt jeder Gruppe eine Zeit zu, in der sie den Beamten zur Verfügung stehen müssten.

Wie praktisch, die Polizei musste nicht erst langwierig Termine aushandeln, sondern sagte einfach, wann sie zu erscheinen gedachte. Tanner hatte ihr versichert, dass die Leute das auf jeden Fall akzeptieren würden. Wenn nicht, hatte er gesagt, solle sie ruhig ein bisschen Druck machen. Unter seinem lächelnden Blick war sie ganz rot geworden. Das hatte sie geärgert. Auch als sie jetzt noch einmal daran dachte, fühlte sie die Wärme im Gesicht.

Tanner war von Michel über André Tillieuxs Tod bereits am Morgen danach unterrichtet worden.

Gegen elf Uhr nachts hatte der Zugführer des Sieben/Siebenundsechzigers – so hieß im internen Sprachgebrauch der Zug, der das Ringmauerstädtchen mit der Kantonshauptstadt verband – gemeldet, dass sie auf ihrer letzten Fahrt einen Menschen überfahren hätten, der quer auf den Schienen lag. Und zwar mitten auf dem großen Viadukt, das sich weit über das grüne Tal spannte. Der Lokführer, der nach wie vor unter Schock stand, hatte zwar sofort die automatische Notbremsung ausgelöst, doch für die Person war es zu spät gewesen.

Der bis zur Unkenntlichkeit zerfetzte Körper war noch in derselben Nacht in die Kantonshauptstadt überführt worden. Dort hatte man anhand von Ausweisen und Bankkarten, die das Opfer bei sich trug, die Identität feststellen können.

Michels Stimme machte keinen Hehl daraus, dass er diesmal Recht behalten hatte.

Du siehst, Tanner, harmlos hat die Sache nicht geendet.

Die Frage bleibt, wo sich André elf Tage lang aufgehalten hat.

Warum interessiert dich das?

Ich finde es grundsätzlich erschütternd, wenn ein Mensch Selbstmord begeht. Wenn es aber dazu noch ein gerade erst siebzehnjähriger Junge ist, wird eine kaum auszuhaltende Tragödie daraus. Und ich möchte wissen, wer oder was da versagt hat. Zudem weiß ich, dass es jemanden gab, vor dem André Angst hatte.

Hat er dir das gesagt?

Nein, ich habe ihn ja gar nicht gekannt. Die Sanders hat es mir erzählt. Sie ist eine Angestellte von Marnier und hat sich wohl ein bisschen um den Jungen gekümmert, vor allem seit Madame Marnier verreist ist. Offenbar gab es wohl auch Streit.

Zwischen Marnier und dem Jungen?

Ja. Aber auch zwischen Madame und Monsieur.

Und was willst du jetzt machen?

Gegenfrage: Ist eine gerichtsmedizinische Untersuchung angeordnet?

Sollte ich die denn anordnen?

Ja. Allein schon um die Drogenfrage zu klären. Der Rest ist, wie soll ich sagen?

Michel atmete schwer aus.

Okay, Tanner. Der Rest ist Gefühl. Ich verstehe. Und ich werde natürlich wieder mitmachen, ich Idiot. Letzten Endes willst du doch wieder nur Recht behalten.

Wieso das? Du hast doch prophezeit, dass der Fall bei dir landet, nicht ich.

Tanner war nach diesem Telefongespräch sofort ins französische Gasthaus gegangen, hatte Marnier sein Beileid ausgesprochen und seine weitere Hilfe angeboten, so man sie benötigte. Marnier saß bleich in der leeren Küche, sprach kein Wort und trank Rotwein. Er stellte Tanner stumm ein Glas hin, und Tanner trank es aus Solidarität aus.

Marnier hatte das Gasthaus geschlossen und offenbar seine Angestellten, soweit sie nicht im Haus wohnten, weggeschickt. Tanner blieb eine Weile stumm bei ihm sitzen, drehte zwischendurch einen penetrant tropfenden Wasserhahn fester zu und erkundigte sich leise, ob denn die Mutter von André eingetroffen sei.

Zimmer fünf. Unser bestes Zimmer.

Dies blieben die einzigen Worte, die Marnier sprach. Tanner erhob sich, verabschiedete sich und suchte Zimmer fünf. Nachdem er geklopft hatte, rief ihn eine matte Stimme herein.

Tanner stellte sich vor und sprach sein Beileid aus. Er war überrascht, wie distinguiert und vornehm sie gekleidet war. Sie sah aus wie eine Dame von Welt, worauf er überhaupt nicht gefasst gewesen war. Offenbar war sie aber krank – dies legte zumindest ihre auffallende Blässe nahe. Vorsichtig erkundigte er sich nach ihrem Befinden. Sie sprach exzellent deutsch, wenn auch mit starkem Akzent, und antwortete ziemlich offen.

Ja, ich bin krank. Ziemlich krank sogar. Und das alles ist so, hmm, so schlimm, so niederschlagend, dass es mich vollends umbringen wird. Wo soll ich nur anfangen?

Tanner wusste nicht genau, was sie damit meinte. Er schwieg jedoch, bis sie weitersprach.

Ich weiß, Sie wollten meinem Bruder helfen, André zu finden. Ich bedanke mich bei Ihnen.

Erst jetzt schaute sie ihn richtig an. Vielmehr: Sie musterte ihn regelrecht. Tanner hielt ihrem Blick stand. Dann wandte sie ihren Blick wieder ab.

Sie haben auch Vieles hinter sich, nicht wahr? Aber das geht mich nichts an und es interessiert mich auch nicht. Mich interessiert nichts mehr. Entschuldigen Sie, mein Name ist Helène von Sachsenstein. Der Name ist der meines zweiten Mannes. Er war Deutscher.

Tanner verabschiedete sich und bat um Erlaubnis, in ein paar Tagen noch einmal bei ihr vorsprechen zu dürfen.

Als er das Gasthaus verlassen wollte, traf er auf eine Kollegin der jungen Frau aus Wien. Er erkannte sie aufgrund der Fotografien, die er kürzlich studiert hatte. Tanner erkundigte sich bei ihr, wo er die Sanders finden könne. Die junge Frau antwortete sofort und bereitwillig.

Sie sei unter diesen Umständen spontan zu einer Freundin in die Hauptstadt gefahren, sie könne ihm aber gerne die Telefonnummer geben. Sol hätte gewusst, dass er nach ihr fragen würde und sie gebeten, ihm die Nummer der Freundin zu geben.

Sol? So nannte Marnier sie auch. Was war denn das für ein Name?

Wie ist der Vorname von Frau Sanders? Sol?

Die Kollegin lachte und begann in ihrer Tasche zu wühlen.

Nein, nein, das ist bloß eine Art Spitzname. Eine Unart in dieser Gegend, und im Gastgewerbe sowieso. Jeder Vorname wird verkürzt. Richtig heißt sie Solveig. Ihre Mutter ist nämlich aus Schweden. Der Vater ist Wiener. Oder Russe, der in Wien lebt, oder so ähnlich. Also, wie gesagt, sie heißt Solveig. Aber in der Hektik unseres Betriebs ist der Name zu lang. Auch auf der Serviceliste hat er kaum Platz. Ah, hier ist der Zettel ja.

Tanner bedankte sich und verließ das Restaurant.

Solveig Sanders.

Tanner murmelte den Namen ein paar Mal vor sich hin.

Solveig, du hast einen schönen Namen, und du bist ein kluges Kind.

Auf dem Heimweg versuchte er sie zu erreichen, doch es nahm niemand ab, und es gab auch keinen Anrufbeantworter.

Den Nachmittag verbrachte Tanner bei den beiden Schwestern im neuen Kommunikationszentrum, wie sie es neuerdings nannten. Um die beiden etwas abzulenken, schlug er vor, gemeinsam einen Namen für das neue Café zu suchen. Vorerst konnten sie sich aber noch auf keinen einigen.

Der nächste Morgen brachte den dreizehnten Tag seit dem Verschwinden von André Tillieux. Er war zwar tot, aber Tanner benutzte immer noch trotzig diese Zeitrechnung. Er begann mit dem Studium der Fotografien, die er von den blutigen Zeichen bestellt hatte. Ein Bote, beauftragt von Michel, hatte sie ihm ziemlich früh am Morgen vorbeigebracht. Den gleichen Satz Bilder hatte der befreundete Semiotiker erhalten und versprochen, sich so schnell als möglich an die Arbeit zu machen.

Tanner pinnte die großen Fotos an die Wände seines beeindruckend langen Flurs und stellte die Beleuchtung hell. Zum ersten Mal sah er alle Zeichen versammelt. Sein spontanes Gefühl, dass es sich um ein und dieselbe Handschrift handelte, bestätigte sich erneut und auf einen Blick. Egal, ob der Täter die Zeichen irgendwo abgekupfert oder sie selber geschaffen hatte, eine persönliche Note war deutlich zu erkennen. Sich nach gleicher Struktur wiederholende Bögen, Schwünge und andere malerische Eigenheiten waren zwingende Indizien dafür, dass sämtliche Zeichen aus einer Hand stammten.

Der Pinsel, den die Person verwendet hatte, dürfte etwa zwei Zentimeter breit und relativ steif gewesen sein, denn der Pinselstrich blieb gleichmäßig breit. Es waren insgesamt neunundzwanzig Haustüren bemalt worden. Erkennen konnte man elf verschiedene Zeichen. Einige wiederholten sich offensichtlich, bei anderen war es nicht ganz klar, ob sie fehlerhaft gemalt worden waren oder ob sie Varianten darstellten. Immerhin musste man berücksichtigen, dass der Täter alles nachts gemalt hatte und auch noch unter dem Druck, dass ihn jemand entdecken könnte. Die Nacht musste ungewöhnlich dunkel gewesen sein, denn in jener Nacht war Neumond, und es hatte geregnet. Zudem war die Straßenbeleuchtung im Dorf an vielen Stellen sehr dürftig, was laut Solène im Gemeinderat schon öfter zu Streitigkeiten geführt hatte.

Wenn der gleiche Täter tatsächlich auch für das Verschwinden der Katzen verantwortlich war, musste man davon ausgehen, dass er das Dorf wie seine Westentasche kannte, ebenso die Gewohnheiten der Bewohner (nota bene: auch die der Katzen), und dass er sich nachts in der Dunkelheit souverän und schnell bewegen konnte. Das Einsammeln der Katzen und das Malen der Zeichen dürfte sich jeweils zwischen zwei und vier Uhr abgespielt haben, denn dies war die Zeit, in der mit großer Wahrscheinlichkeit niemand mehr unterwegs war. Schon gar nicht in einer mondlosen, kalten Regennacht. Mit Sicherheit war das alles genau kalkuliert.

Ob der Täter allein gehandelt hatte oder mit Helfern, konnte Tanner noch nicht mit Bestimmtheit entscheiden.

Sollte es sich allerdings herausstellen, dass die Zeichen tatsächlich mit Katzenblut gemalt worden waren, so handelte es sich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit um einen einzelnen Täter. Tanner kannte es schon – Täter mit solchen Krankheitsbildern waren fast immer Einzeltäter.

Tanner hängte die Fotos um und versuchte, die Zeichen zu Gruppen zusammenzustellen. Einen Sinn konnte er immer noch nicht erkennen. Sie waren einfach zu abstrakt. Es gab nur wenige einzelne, die vage an eine Tierform erinnerten, so wie ein Kind es zeichnen würde.

Tanner schwankte zwischen den beiden Möglichkeiten, dass entweder das Blut allein die Botschaft war und die Zeichen weiter nichts bedeuteten oder dass die Zeichen einen wirklichen Inhalt transportierten und das Blut lediglich die Dringlichkeit der Aussage unterstrich. So wie beim Prinzip der Blutsbrüderschaft oder in Mythen und Legenden, in denen Verträge mit dem eigenen Blut unterschrieben wurden.

In diesem Augenblick rief Michel an.

Ich habe zwei Neuigkeiten. Eine ist hochbrisant und die andere wird dich nicht besonders überraschen. Welche willst du zuerst?

Ich bitte dich, Michel, sag’s einfach. Ich mag solche Spiele nicht.

Ja, ist ja gut. Also, es ist tatsächlich Katzenblut und zweitens – und jetzt pass auf!

Komm schon, Michel.

André Tillieux war bereits tot als er sich zum Selbstmord auf die Schienen legte.

Tanner schwieg.

Bist du noch dran?

Ja, sicher. Und was war die eigentliche Todesursache?

Eine durchschnittene Kehle.

Verdammt. Also hat er ihr doch die Wahrheit gesagt.

Welche Wahrheit?

Er hatte fürchterliche Angst vor einer Person, die der Teufel sei, obwohl alle dächten, er sei lieb. So war der Wortlaut von Frau Sanders.

Ach, du Scheiße! Im Bericht steht, dass es sich um ein sehr scharfes Messer und um eine geübte Hand gehandelt haben muss, denn die Kehle ist mit einer einzigen Bewegung durchschnitten worden. Auch sonst ist laut Bericht an seinem Körper rumgeschnipselt worden, was sich aber aufgrund des allgemeinen Zustands der Leiche nicht mehr so richtig rekonstruieren lässt.

Kannst du mir den Bericht schicken?

Nein, kann ich nicht. Schon allein die Tatsache, dass ich dir am Telefon davon berichte, ist strafbar.

Wieso? Das merkt doch keiner. Ist doch dein Fall.

Nein, ist es eben nicht. Die wollen Lerch und Thommen eine Chance geben, nachdem die beiden zehn Jahre dabei sind und all diese hochkarätigen Kurse absolviert haben. Zumal ich angeblich mit genug anderen Sachen beschäftigt bin.

Tanner lachte.

Das ist jetzt nicht dein Ernst, oder?

Doch, doch. Mit so was würde ich nie scherzen.

Na dann. Viel Vergnügen.

Ja, das kannst du laut sagen.

Einen Augenblick lang schwiegen beide.

Armer André Tillieux.

Du hast ihn doch gar nicht gekannt. Jetzt übertreib nicht.

Nein, aber ich habe sein Zimmer gesehen.

Sein Zimmer? Und was ist damit?

Es hat wie eine mittlere Müllhalde ausgesehen.

Und deswegen rührt er dich?

Es hat von seiner sehr kindlichen Unfähigkeit erzählt, die einfache Realität des Alltags zu bewältigen.

Ich verstehe.

Erneut schwiegen beide.

Also, Tanner. Ich halte dich natürlich trotzdem auf dem Laufenden. Ich muss jetzt mal –

Tanner ließ den Hörer sinken.

Und ich muss dringend mit dieser Sanders sprechen. Ich müsste mich schwer täuschen, wenn die schon alles gesagt hat, was sie weiß.

Er hatte sie gestern den ganzen Tag nicht erreichen können. Er wählte sofort die Nummer.

Diesmal meldete sich eine junge Stimme mit einem ängstlichen Hallo.

Guten Tag, mein Name ist Tanner, dürfte ich bitte –

Ja, ja. Ich hole sie gleich.

Hier ist Solveig. Ich bin so froh, dass Sie anrufen.

Sagen Sie mir bitte die Adresse und ich hole Sie mit meinem Wagen ab.

Fünfzig Minuten später ließ sie sich erleichtert auf den Beifahrersitz seines Wagens fallen. Die Tasche und ihren dunkelroten Wollmantel hatte sie auf den Rücksitz gelegt.

Jetzt atmen Sie mal ruhig durch, Solveig. Ich darf doch Solveig sagen? Sie sind ja ganz durcheinander.

Ach, Tanner, ich bin ja so froh, dass Sie gekommen sind. Ich habe furchtbare Angst.

Ich verstehe, dass Sie Angst haben. Aber hier in meinem Auto können Sie sich entspannen, Sie sind in Sicherheit. Wir werden über alles reden, auch über das, was Sie mir verschwiegen haben, und dann sehen wir weiter.

Tanner schaute sie von der Seite an und war nicht besonders überrascht, als sie bis an den Haaransatz rot wurde.

Sie müssen sich nicht schämen. Erstens konnten Sie nicht ahnen, was passieren würde, und zweitens hätte es wahrscheinlich an der ganzen Sache auch nichts geändert.

Danke, dass Sie das sagen.

Sie lächelte ihn an.

Woher wissen Sie eigentlich, dass ich Solveig heiße?

Ihre Arbeitskollegin hat es mir verraten. Ich hatte sie gefragt, was »Sol« bedeutet.

Ja, ich finde Sol auch nicht schön. Aber was soll ich machen?

Sie streckte sich und kuschelte sich bequem in den weichen Ledersitz. Trotzdem war die Anspannung, die von ihr ausging, mit Händen greifbar. Äußerlich war sie kaum wiederzuerkennen. Heute trug sie ihr reiches, goldblondes Haar offen. In weichen Wellen fiel es über ihre Schultern. Als er sie das erste Mal gesehen hatte, waren ihre Haare streng nach hinten gekämmt und straff geknotet. Ihr Kleid changierte in Grün- und Grautönen und passte perfekt zu ihren Augen.

Und? Wie fällt Ihre Inspektion aus?

Haben Sie gespürt, dass ich Sie anschaue?

Ja. Es war nicht zu übersehen.

Sie sind sehr gut angezogen. Das Kleid gefällt mir ausgezeichnet. Sehr diplomatisch. Aber danke für das Kompliment. Wohin fahren wir eigentlich?

Zurück an den See, aber auf die andere Seite. Ich lade Sie zum Mittagessen in mein Lieblingsrestaurant ein. Verraten Sie das aber nicht Ihrem Chef, wenn ich bitten darf. Der wäre sicher beleidigt.

Sie lachte.

Ja, und wie. Er ist ein guter Koch, aber er ist ebenso eingebildet. Er findet nämlich, er sei weit und breit der Einzige, der wirklich kochen kann.

Hat er für Sie schon mal ein Wiener Schnitzel gemacht?

Oh ja. Zu meinem Geburtstag. Das war sehr aufmerksam, aber es war natürlich kein Wiener Schnitzel, wie man es in Wien bekommt.

Das ist ja auch nicht nur eine Frage des Bratens. Das fängt schon bei der Tierhaltung an, ganz zu schweigen davon, wie das Fleisch geschnitten sein muss, in welchem Schmalz es ausgebacken wird, die Zusammensetzung des Brösels und so weiter.

Bravo. Ich sehe, Sie kennen sich aus. Ah ja, Sie wollten mir noch erzählen, warum Sie Wien kennen.

Um sie weiter zu beruhigen, begann Tanner, ihr von seinen verschiedenen Aufenthalten in Wien zu erzählen, die eine ganze Weile zurücklagen, denn sie hingen alle mit seiner Aus- und Weiterbildung als Polizeibeamter zusammen. Auch später hatte es immer wieder Gelegenheiten gegeben, Wien zu besuchen, wenn er zu dem einen oder anderen Kongress über polizeiliche oder gerichtsmedizinische Themen eingeladen worden war.

Solveig staunte.

Ich wusste gar nicht, dass Wien derart wichtig ist für solche Sachen.

Doch, doch. Wien hat sicher von allen Städten Europas die längste und wichtigste Tradition in polizeilicher Aufklärungsarbeit, in Labortechnik und vor allem in der Gerichtsmedizin mit all ihren Spezialgebieten. Dann gibt es traditionell starke Verbindungen zwischen Wien und den wichtigsten amerikanischen Zentren und Größen dieser Branche. Wien war ja immer eine Stadt des Todes. Genauer gesagt: des Sterbens. Wussten Sie das nicht?

Jetzt richtete sich Solveig auf.

Das stimmt überhaupt nicht. Wien ist lebensfreudig und fröhlich. Denken Sie nur an die lange Tradition des Praters. Oder waren Sie schon mal bei einem richtigen Heurigen?

Ja, sicher. Aber das, wovon ich spreche, ist ja nichts als die Kehrseite davon. Vielleicht braucht es gerade diese starke Fähigkeit zum Feiern, zum Lebendigen, um sich so intensiv mit dem Tod auseinandersetzen zu können, wie es in Wien seit langem Tradition hat. In Ihrer musikalischen und lebenslustigen Stadt gab es zum Beispiel das erste anatomische und gerichtsmedizinische Museum ganz Europas, vielleicht sogar der Welt. Und nicht zu vergessen: Freud, Schnitzler, Horvath –

Halt. Bitte, Tanner. Ich gebe auf. Sie haben ja Recht. Ich wollte vielleicht nur sagen, dass ich mich nicht gerne mit Tod und Gewalt beschäftige. Und wenn er dann plötzlich so nahe kommt wie jetzt, dann wird mir ganz anders und ich sehe Gespenster an allen Ecken und Enden.

Als sie das Restaurant am Hügel über dem See erreicht hatten und auf das Essen warteten, bat er Solveig, noch einmal exakt wiederzugeben, was André ihr über seine Ängste anvertraut hatte.

Solveig wiederholte Wort für Wort genau das, was sie das erste Mal erzählt hatte.

Gut.

Tanner spürte, dass sie noch nicht alles gesagt hatte. Sie blickte unruhig umher und wickelte sich in einer Art Endlosschleife nervös eine ihrer goldenen Locken um den Zeigefinger. Er wartete geduldig. Dann sprach sie leise und mit gesenktem Kopf weiter.

Ich habe gesehen, wie Monsieur Andrés Motorrad aus seinem Auto ausgeladen und hinters Haus gestellt hat. Und zwei Tage später hat er dann ganz überrascht getan, als er das Motorrad dort stehen sah. Wir dachten ja alle, André sei mit dem Motorrad zu einem Freund gefahren.

Und wieso haben Sie mir das nicht gleich gesagt?

Solveig zitterte, und Tanner hatte das Gefühl, als würde sie jeden Augenblick in Tränen ausbrechen.

Er nahm ihre Hand. Sie ließ es geschehen.

Ist es so schlimm?

Nein, ich weiß auch nicht, was es ist. Aber erstens schäme ich mich so, wenn jemand lügt. Auch wenn es mich gar nichts angeht. Das war schon immer so. Und zweitens war ich sicher die Einzige, die das mit dem Motorrad gesehen hat. Ich habe mir versucht einzureden, dass ich es vielleicht doch nur geträumt habe. Ich will nicht diejenige sein, die ihren Patron beschuldigt.

Und dann noch eine Spur leiser.

André wird doch wohl nicht ihn als Teufel bezeichnet haben, oder?

Nein, das ist schwer –

Tanner unterbrach seinen Satz, denn der Chef des Restaurants brachte den Fischteller persönlich an den Tisch.

Hallo, Tanner. Wie geht es dir? Mit soviel Schönheit am Tisch kann es ja nur gut gehen.

Ja, da hast du Recht. Darf ich vorstellen: Solveig Sanders. Sie arbeitet im Service bei der Konkurrenz. Bei Marnier. Solveig, das ist Stocker. Achtung, er duzt gleich alle. Nehmen Sie es nicht persönlich.

Freut mich, Solveig. Wenn du die Nase voll hast vom alten Marnier, dann kannst du hier arbeiten.

Vielen Dank. Zuerst probiere ich natürlich das Essen, dann überlege ich es mir. Falls es mir schmeckt.

Stocker lachte herzlich.

Das gefällt mir. Keine falsche Hochachtung. Bravo, Tanner. Ich gratuliere.

Ja, lass gut sein, Stocker. Lass uns jetzt in Ruhe essen, denn kalt schmeckt auch dein Essen nur noch halb so gut.

Sie wünschten sich einen guten Appetit und aßen schweigend. Bis Solveig flüsternd die Stille brach.

Er ist wirklich gut, dieser Stocker. Mutig, den Fisch mit einem Hauch dunkler Schokolade zu komponieren. Alle Achtung. Und bei aller Ausgefallenheit erscheint einem der Geschmack plötzlich absolut zwingend.

Sie haben Recht. Es ist vor allem dieser zarte Hauch von Ingwer, der den Fisch mit der Schokolade verbindet. Der diese Verbindung überhaupt erst möglich macht.

Vielleicht sollte ich wirklich hierher wechseln. Was meinen Sie?

Nicht so schnell, Solveig. Sagen Sie mir zuerst, warum Sie diese Arbeit machen.

Um Geld zu verdienen, natürlich.

Ach, nein. Das überrascht mich jetzt aber.

Solveig lachte und stieß ihn unter dem Tisch mit ihrem Schuh.

Hey, Sie haben ja Humor. Das überrascht mich jetzt aber.

Wieso?

Im Gasthaus neulich schienen Sie so streng und zurückhaltend, vorhin im Auto auch. Außerdem sehen Sie traurig aus.

Tanner hatte keine Lust, auf diese Bemerkung einzugehen.

Also, warum machen Sie diese Arbeit?

Also. Ich studiere Meeresbiologie im Hauptfach und setze ein Jahr aus, um Geld zu verdienen, wie ich bereits gesagt habe. Wollen Sie es noch genauer wissen?

Tanner nickte.

Mein Geld ist mir ausgegangen, weil ich … ach, egal, und mein Hauptprofessor ist für ein Jahr nach Südamerika gegangen. Da habe ich mir gedacht, ich nehme mir für ein, zwei Semester eine Auszeit und gehe in die Schweiz arbeiten. Ich habe das im Sommer schon öfter getan.

Warum ist Ihnen das Geld ausgegangen?

Interessiert Sie das wirklich oder ist das eine Art déformation professionelle?

Beides. Aber es interessiert mich wirklich. Und wissen Sie warum?

Sie schüttelte den Kopf.

Wegen Ihres Gesichtsausdrucks, als Sie sagten: ach, egal.

Was haben Sie denn da hineininterpretiert, Herr Kommissar?

Eine Mischung aus Ekel, Verletztheit und Enttäuschung.

Aha. Interessant. Und was schließen Sie daraus?

Soll ich Ihnen das wirklich verraten? Ich hatte in jenem Moment nämlich eine schreckliche Vision.

Heraus damit, aber wehe, Sie schummeln.

In meiner Vision kommt Geldmangel aber nicht vor.

Hey, das wird ja immer interessanter.

Tanner zuckte mit den Achseln.

Es ist leider nicht sehr originell, weil es die alte, die ewige Geschichte ist.

Sie lachte bitter.

Jetzt will ich’s aber wissen. Raus mit der Sprache.

Ihr Freund hat Sie betrogen und verlassen. Und da noch niemand wusste, nicht einmal er, dass Sie schwanger sind, haben Sie heimlich abgetrieben. Dann sind Sie aus Wien geflohen, weil Sie es nicht mehr ausgehalten haben. Jetzt, da ich auch noch vom Professor weiß, der für ein Jahr nach Südamerika ging, erweitert sich meine Vision dahingehend, dass ich denke, er war derjenige, der – Solveig starrte ihn eine Weile an, dann lachte sie ziemlich laut auf.

Oh je, oh je. Was Sie für eine Fantasie haben. Das mit dem Ekel stimmt sogar, aber aus einem ganz anderen Grund. Mein österreichischer Großvater ist vor einem halben Jahr gestorben, und darüber ist unsere halbe Familie auseinandergebrochen. Es gab schreckliche Erbschaftsstreitereien. Wirklich ekelhaft. Keine meiner Onkel und Tanten sprechen mehr miteinander. Das war wirklich schlimm. Ich hatte die Nase voll. Aber mein Gott, an was für schlimme Sachen Sie gedacht haben!

Sie schüttelte sich, als würde sie am ganzen Leib frieren.

Ist Ihr Leben denn so schrecklich, Tanner?

Ja, natürlich ist es das. Ein schrecklich glückliches und schrecklich schlimmes Leben. Das ganze Spektrum.

Zum Glück kam Stocker an den Tisch und erlöste so Tanner vor weiteren Fragen nach seinem Leben.

Und? Wie hat es geschmeckt?

Sein herausfordernder Blick galt Solveig.

Gar nicht schlecht, Herr Koch. Doch. Ziemlich gut. Es lohnt sich sogar, Ihr Angebot zu überlegen. Hätten Sie denn auch ein Zimmer für mich?

Ja. Selbstverständlich. Heißt das, du kommst?

Geben Sie mir eine Nacht Bedenkzeit.

Gut. Hier ist meine Karte. Ruf mich an oder verlang meine Frau. Ich lade euch jetzt zu meiner neuen Dessertkreation ein.

Selbstverständlich sagte da keiner der beiden nein.

Es gab Pfirsiche mit Gewürztraminersabayon und einigen Schokoladenblättern (dem Pfirsichblatt nachgebildet, versteht sich).

Es war köstlich. Sie aßen ohne zu sprechen. Und redeten sich ein, dass sie aus Andacht vor dem Dessert schwiegen.

Eine halbe Stunde später saßen sie wieder im Auto und fuhren – immer noch schweigend – durch den Regen, der mittlerweile ziemlich heftig eingesetzt hatte.

Auf der pfeilgeraden Straße, die zur anderen Seeseite führte, wandte sich Solveig zu Tanner und brach die Stille. Ihre Stimme klang selbst in ihren Ohren fremd.

Würden Sie bitte einmal anhalten?

Ja, selbstverständlich. Ist Ihnen übel, Solveig?

Sie schüttelte den Kopf. Er hielt beim nächsten Feldweg an und stellte den Motor ab. Der Regen prasselte auf das Dach und auf die Windschutzscheibe. Sofort konnte man nicht mehr nach draußen sehen. Tanner wollte die Scheibenwischer in Gang setzen, aber Solveig verhinderte es, indem sie ihre Hand auf seinen Arm legte. Sie schaute ihn jedoch nicht an. Ihre Hand blieb wie unbeabsichtigt auf seinem Arm liegen.

Hätten Sie heute Nacht ein Bett für mich, Tanner? Ich weiß nicht, wo ich hingehen soll. Ins Gasthaus zurück kann ich nicht. Zu der Freundin will ich nicht, die macht mich wahnsinnig. Morgen früh werde ich mich dann wegen Stocker entscheiden. Heute kann ich das noch nicht.

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