Читать книгу: «Wintertauber Tod», страница 3

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ZWEI

Es war noch tiefe Nacht, als das Telefon klingelte. Stöhnend nahm Tanner den Hörer ab.

Das kannst nur du sein, Michel! Wo brennt’s denn mitten in der Nacht?

Was heißt hier: mitten in der Nacht …!? Himmel Herrgott! Hat der Herr mich um etwas gebeten oder ich ihn? Wir von der Polizei können es uns nicht leisten, in den Tag hinein zu schlafen. Zudem muss ich ja arbeiten. Tag für Tag meine Brötchen verdienen. Und wenn du glaubst, ich hätte nicht jede Menge Wichtigeres zu tun, dann irrst du dich gewaltig!

Oh je, Michel! So früh am Morgen und bereits schlecht gelaunt?

Wie kommst du denn darauf, Tanner? Ich bin doch immer so.

Ja. Das stimmt auch wieder. Dickhäuter sind Morgen-, Mittag- und Abendmuffel.

Hey, Vorsicht. Ich habe abgenommen. Ganze zwanzig Kilo.

Ah ja, stimmt. Aber was sind zwanzig Kilo auf eine halbe Tonne?

Tanner, ich lege gleich auf, wenn du so weitermachst.

Nein, ist ja gut. Ich bin sehr stolz auf deine zwanzig Kilo.

Michel räusperte sich.

Von Tillieux haben wir nicht die Bohne einer Spur und auch keine Abgangsmeldung. War’s das?

Du drückst dich wieder einmal sehr kultiviert aus. Aber ich danke dir. Besonders, da du soviel andere Arbeit hast, du Armer. An was arbeitest du denn gerade? An einem neuen Konzept für deine Mittagsverpflegung?

Nein, du Idiot. Wir haben doch diese seltsamen Todesfälle in einem der städtischen Altersheime. Ach ja, wenn du mich schon fragst: Vielleicht könntest du mal einen Blick in die Akte –

Tanner unterbrach ihn.

Heute Abend. Punkt Acht. Bei mir. Im Smoking. Wir essen am weiß gedeckten Tisch. Wer weiß, vielleicht haben wir sogar zwei charmante Tischdamen. Und wenn du fünf Minuten zu spät kommst wie letztes Mal, schmeiße ich das Essen vor deinen Augen in den Abfall. Haben Sie mich verstanden, Herr Kommissar, Abteilung Leib und Leben?

Ay ay, Sir! Aber du weißt ja, man hat die Bezeichnung »Leib und Leben« abgeschafft. Wir sind jetzt eine stinknormale Mordkommission.

Wie schade. Ich finde »Leib und Leben« viel schöner.

Tanner legte auf.

Ach, dieser Michel!

Er legte sich noch einmal auf die Seite, wusste aber jetzt schon, dass er keinen Schlaf mehr finden würde.

Diese ewigen Anspielungen auf das Geld. Und dann wieder zu mir rennen, wenn er in seinem dämlichen Fall nicht weiterkommt. Typisch, typisch.

Tanner schlug die Decke zurück und beschloss, unter die Dusche zu gehen. Draußen war es noch dunkel, und er konnte nicht sehen, ob es erneut geschneit hatte oder ob der Schnee vielleicht schon wieder geschmolzen war. Er hatte in der Nacht eher das Gefühl gehabt, als würde es regnen.

Tanner stellte sich unter das warme Wasser und schloss die Augen.

Immer wieder das Geld. Michel konnte es einfach nicht lassen. Dabei war er selber schuld. Als Tanner durch seinen letzten Fall an ein kleines Vermögen geraten war, hatte er Michel einen Anteil geben wollen, doch der war zu stolz gewesen, es anzunehmen. Denn er hatte es nicht direkt vom Geldgeber persönlich angeboten bekommen. Was ja in seiner beruflichen Position auch gar nicht statthaft gewesen wäre. Es quasi als Geschenk von Tanner zu nehmen, wäre zwar legal, hätte jedoch für Michel die Bedeutung eines Almosens gehabt, wie er sich damals ausdrückte. Tanner hatte schließlich kapituliert und Michels Anteil auf einem Sperrkonto deponiert.

Er stieg aus der Dusche und trocknete sich ab.

Die Frage blieb die gleiche: War es nun positiv, dass Michel keine Informationen zu André Tillieux liefern konnte oder nicht?

Auf jeden Fall musste Marnier heute schleunigst zur Polizei gehen und offiziell eine Vermisstenmeldung erstatten. Nur so konnte die Maschinerie in Gang kommen. Immerhin war es, wenn man den heutigen Morgen mitrechnete, schon acht Tage her, seit der Junge verschwunden war.

Vielleicht sollte er, nach dem Frühstück und nach seinem Spaziergang, Marnier erneut im Restaurant einen Besuch abstatten und sich ein genaueres Bild über diesen jungen Mann verschaffen. Es konnte nicht schaden, in Form zu bleiben.

Für die Vorbereitung des Michelschen Gastmahls blieb ihm ja noch der ganze Nachmittag. Er nahm schon mal die Lammkeule aus dem Tiefkühler, denn er wollte sie nach dem Prinzip des langsamen Garens zubereiten. Und das konnte schon mal den halben Nachmittag in Anspruch nehmen.

Wie hatte Marnier seinen Neffen genannt? Ach ja: komplex. Was verbarg sich hinter diesem etwas allgemeinen Adjektiv? Sollte es vertuschen, dass Marnier ihn in Wirklichkeit nicht mochte? Oder dass ihm sein Wesen und Verhalten zutiefst fremd waren? Marnier hatte im Gespräch ziemlichen Wert darauf gelegt, dass von ihm selbst das Bild des liebevoll sorgenden Onkels entstand. Abgesehen davon sagte ihm sein Gefühl, dass der junge Mann tatsächlich in Schwierigkeiten steckte.

Wir werden sehen. Nur keine voreiligen Schlüsse ziehen. Das ist der Tod einer jeden Untersuchung.

Er griff zum Telefon und teilte Marnier mit, dass er bei der internen Befragung der Polizei nichts erfahren habe und dass Marnier jetzt dringend die Vermisstenanzeige aufgeben müsse. Marnier blieb sachlich und versprach, sofort zu handeln.

Danach bereitete Tanner sich betont ruhig sein Frühstück zu. Aber er kannte sich gut genug, um sich nichts vorzumachen. Der ewige Virus der Jagd hatte ihn wieder infiziert.

Als er sich auf seinen täglichen Spaziergang machte, begann eben gerade erst die Morgendämmerung. Es hatte tatsächlich nachts geregnet, der Schnee war größtenteils verschwunden, weswegen der Morgen dunkel, schwer und dumpf wirkte. Kein Vergleich mit dem schneehellen Tagwerden vom vorigen Tag. Viel freundlicher würde es heute wahrscheinlich auch nicht werden, denn am Himmel drängten sich bauchig schwarze Wolken. Einzig die Hügelkuppe entlang zog sich ein glitzernd heller Silberstreifen.

Die dunklen Zeichen an den Haustüren fielen Tanner erst nach einer Weile auf. Denn die ersten paar hundert Meter war er gegangen, ohne sich die Umgebung genauer anzusehen. Er machte den Spaziergang vom vorigen Tag in umgekehrte Richtung. Erst beim Haus, das direkt in der Haarnadelkurve stand, fiel ihm auf, dass jemand auf die beigefarbene Haustür ein dunkelrotes Zeichen gemalt hatte. Das Zeichen bedeckte etwa die Fläche von vier Männerhänden und war gestern bestimmt noch nicht dort gewesen, dawar er sich ganz sicher. Er blickte zu den anderen Häusern zurück und erkannte irritiert, dass alle Haustüren ein Zeichen in der gleichen Farbe trugen.

Verwundert setzte Tanner seinen Spaziergang die Eisenbahnschienen entlang fort. Beim Bahnhof weiter vorne hatte eben ein Zug gehalten, und es stiegen eine Handvoll Leute ein. Wahrscheinlich lauter Pendler, die in der Hauptstadt arbeiteten und hier wohnten. Vielleicht auch Schüler, die eine höhere Schule besuchten.

Als der Zug, noch in langsamer Fahrt, an ihm vorbeifuhr, hatte er das Gefühl, als starrten ihn die Leute durch die beschlagenen Scheiben seltsam an. Einzelne Hände wischten hektisch die Scheiben, um ihn besser zu sehen.

Irritiert schüttelte er den Kopf.

Ich bin heute einfach zu früh aufgestanden. Wer geht denn um diese Uhrzeit spazieren, noch bei dem Wetter? Kein Wunder, wenn mich die Leute wie eine Erscheinung anglotzen.

Bis auf weiteres begegneten ihm lauter Häuser, die sich ihm mit ihrer Rückseite präsentierten, so dass er nicht sehen konnte, ob die Zeichen sich bloß auf das verwahrloste Quartier beschränkten.

Innerhalb der nächsten halben Stunde steigerte sich sein Gang jedoch vom gemütlichen Gehen in ein atemloses Traben. Man konnte es nun beim besten Willen keinen Spaziergang mehr nennen. Kurze Zeit später war ihm klar, dass jemand in dieser Nacht auf sämtliche Haustüren des Dorfes Zeichen gemalt hatte. Genauer gesagt: nicht auf alle Türen. Es gab ein paar wenige Ausnahmen. Auch seine Haustür war nicht markiert. Beim Dorfbrunnen angekommen sah er, dass auch der Dorfladen verschont geblieben war.

Kurz entschlossen ging Tanner auf die Eingangstür zu.

Der Laden war leer, nicht einmal die Zwillinge waren zu sehen. Tanner wunderte sich, denn Solène und Solange ließen ihren Laden nie unbeaufsichtigt. Wenn sie mal kurz weggingen, schlossen sie normalerweise die Tür und hängten einen Zettel daran. Plötzlich hörte er im hinteren, für die Kundschaft nicht zugänglichen Bereich jemanden schluchzen.

Hallo? Solène? Solange? Ich bin’s, Tanner!

Einen Moment lang war es still, dann fiel etwas zu Boden. Tanner näherte sich dem Durchgang. Plötzlich stand Solange vor ihm, die Augen voller Tränen.

Ach, es ist schrecklich, Tanner. Wir fürchten uns alle. Ist an Ihrer Haustür auch so ein schreckliches Zeichen?

Nein, Solange. Es gibt aber noch andere Haustüren ohne Zeichen. Woher wissen Sie das?

Ich habe nachgeschaut, ganz einfach. Jetzt beruhigen Sie sich, Solange. Es wird sich alles klären. Setzen Sie sich erst mal auf diesen Stuhl.

Tanner nahm eine Packung Papiertaschentücher aus einem Regal, riss die Packung auf und reichte Solange eins.

Danke. Aber wissen Sie denn, was das zu bedeuten hat?

Nein, das weiß ich leider noch nicht. Aber wir werden es erfahren, da bin ich mir ganz sicher.

Aber die Zeichen bedeuten doch alle den Tod, nicht wahr?

So vorschnell sollten wir nicht urteilen, Solange. Warum sind Sie eigentlich allein im Laden? Wo ist denn Ihre Schwester?

Solène muss schnell eine Nachbarin nach Hause begleiten.

Warum denn das?

Sie hat sich plötzlich gefürchtet, alleine auf die Straße zu gehen.

Was für ein Unsinn. Fürchten Sie sich denn auch?

Fürchten nicht gerade, aber ein bisschen unheimlich finde ich es schon. Wer um alles in der Welt kann denn so etwas gemacht haben?

Das weiß ich natürlich auch nicht. Dumme Jungs wahrscheinlich, denen langweilig war.

Tanner gab sich alle Mühe, überzeugend zu sein, obwohl er seine eigene Behauptung ziemlich übermütig fand. In diesem Moment kam Solène zurück.

Ah, Monsieur tröstet unsere Solange. Störe ich?

Solange richtete sich sofort auf.

Spinnst du? Aber ich war froh, nicht mehr allein zu sein, ich gebe es zu.

Und wie erklären Sie sich, dass Ihre Haustür von diesen Schmierfinken verschont geblieben ist?

Guten Tag, Solène. Dafür habe ich keinerlei Erklärung. Meine Haustür ist aber nicht die einzige, die verschont wurde. Ihr Laden wurde auch ausgelassen.

Ja, klar. Da wohnt ja auch niemand.

Und die Kirche? Wer wohnt dort, Solène?

Was? Die Kirchentür haben die auch verschmiert? Schweinebande!

Warum denken Sie, dass es mehrere waren?

Weiß ich nicht. Aber immer wenn in dieser Gegend Unsinn gemacht wurde, steckte eine ganze Bande dahinter.

Was haben die denn so gemacht?

Ja, zum Beispiel das Feuer für den ersten August am Vorabend angezündet. Oder den Leuten die Fahrräder vertauscht. Oder dem Dorflehrer bei zehn verschiedenen Firmen Taxis bestellt.

Ich weiß nicht, ob das in dieselbe Kategorie fällt. Und ob es sich um eine Gruppe handelt, bezweifle ich.

Was glauben denn Sie, Herr Tanner?

Ich finde, die Zeichen haben eine eindeutige Handschrift. Es könnte sich sehr wohl um eine Einzelperson handeln. Aber das muss man natürlich näher untersuchen.

Solange blickte ihn mit großen Augen an. Dann zog Solène ihre Schwester vom Stuhl hoch.

Ja, ich glaube, die Polizei hat damit schon begonnen. Ein Streifenwagen ist soeben gekommen. Weiter vorne im Dorf. Die Gruber hat stellvertretend für alle Anzeige gegen unbekannt erstattet.

Na ja, dann ist ja alles in besten Händen. Warum ich eigentlich gekommen bin: Würden Sie mir die Ehre erweisen und heute Abend bei mir speisen? Wie dumm von mir, die bedruckten Einladungskarten mit Goldprägung habe ich jetzt prompt vergessen. Ein guter Freund aus einem befreundeten Kanton wird auch noch zu Gast sein. Ich würde mich sehr freuen, wenn Sie ja sagen würden.

Die Schwestern schauten sich einen Moment an. Solène antwortete für beide.

Selbstverständlich erweisen wir Ihnen die Ehre. Um wie viel Uhr?

Punkt acht, wenn ich bitten darf. Meine Adresse ist Ihnen ja bekannt. Ah, ja. Sie sind beide keine Vegetarier, äh, ich meine, Sie sind keine Vegetarierinnen, oder?

Diesmal war Solange schneller.

Gott bewahre, nein. Wir sind große Fleischanbeterinnen.

Dann verabschiedete man sich.

Wieder draußen auf der Straße, sah Tanner tatsächlich einen Streifenwagen. Die beiden Beamten liefen gerade von einem Hauseingang zurück zu ihrem Wagen.

Guten Tag, die Herren. Mein Name ist Tanner. Ich bin ein Freund und Berufskollege von Kommissar Michel. Sie untersuchen die Zeichen an den Haustüren?

Guten Tag. Wagner. Das hier ist mein Kollege Stoffel. Haben Sie uns etwa gerufen?

Nein, nein. Das war Frau Gruber von der Gemeindeverwaltung. Zudem ist meine Haustür eine der wenigen, die nicht bemalt wurde. Soweit ich gezählt habe, sind etwa sieben Türen im ganzen Dorf nicht bemalt.

Da haben Sie ja Glück gehabt.

Wie man’s nimmt. Was halten Sie denn davon, Wagner?

Der Beamte zog seine Mütze aus und strich die Haare glatt.

Wahrscheinlich ein dummer Streich. Natürlich ärgerlich das Ganze, aber ich würde da nicht viel machen. Schwamm drüber!

Also, ich meine, schnellstens abwaschen und vergessen.

Die beiden Polizisten grinsten etwas verlegen. Es war offensichtlich, dass sie nicht so recht wussten, was sie mit der ganzen Sache anfangen sollten.

Darf ich Ihnen einen Vorschlag machen, meine Herren?

Ja, was denn?

Ich würde als erstes die Leute bitten, vorerst gar nichts abzuwaschen. Dann würde ich von zwei bis drei verschiedenen Türen Materialproben nehmen und ins Labor bringen.

Wieso denn das?

Haben Sie sich die sogenannte Farbe denn mal näher betrachtet? Nein. Wieso auch. Es ist halt irgendeine Farbe, die man sprayen kann.

Es tut mir leid, ich muss Sie korrigieren. Erstens wurde hier eindeutig mit einem Pinsel gearbeitet und zweitens könnte es sein, dass es sich bei dem aufgetragenen Material möglicherweise um etwas anderes als Farbe handelt.

Um was denn?

Es war Stoffel, der die Frage ziemlich forsch stellte.

Möglicherweise handelt es sich um Blut, meine Herren.

Die beiden Beamten schauten sich etwas perplex an.

Auf den Arm nehmen können wir uns selber!

Das glaube ich Ihnen ungefragt, meine Herren. Meine erste These können Sie gleich an Ort und Stelle kontrollieren, wenn Sie sich eines der Zeichen genauer anschauen. Vielleicht entdecken Sie sogar ein Pinselhaar, aber ganz sicher können Sie den Pinselstrich erkennen.

Wagner schaute argwöhnisch, gab sich aber einen Ruck.

Stoffel, du wartest hier.

Er ging zurück durch den Vorgarten, kniete sich vor die Tür und betrachtete eingehend das gemalte Zeichen. Dann kam er mit schnellen Schritten zurück.

Tanner, ich muss mich bei Ihnen entschuldigen. Sie haben vollkommen Recht. Es wurde mit einem Pinsel gemalt. Und vielleicht ist es wirklich, äh … es riecht auf jeden Fall nicht nach Farbe.

Er roch an seinem Fingernagel, offensichtlich hatte er ein bisschen Material weggekratzt.

Falls sich herausstellt, dass es sich tatsächlich um Blut handelt, würde ich diese Information vorläufig unter Verschluss halten. Nicht an die Presse, nicht an die Dorfbewohner. Verstehen Sie, was ich meine?

Ja, klar, da bin ich ganz Ihrer Meinung. Stoffel, du gehst jetzt von Tür zu Tür und bittest die Leute, die Zeichen nicht abzuwaschen, bis die Polizei es erlaubt. Sag den Leuten, sie könnten sonst mit keinem Schadenersatz rechnen.

Das ist ein kluger Schachzug, Wagner. Und Stoffel, falls Sie jemanden antreffen, der schon gemerkt hat, dass es sich um keine gewöhnliche Farbe handelt, verpflichten Sie ihn zum Stillschweigen. Womöglich unter Androhung von schwerwiegenden Konsequenzen.

Stoffel blickte zu Wagner.

Herr Tanner hat Recht. Vielen Dank für Ihre Hinweise. Wo erreichen wir Sie?

Ich wohne da vorne in dem weißen Haus im Park. Ansonsten weiß Michel Bescheid. Er kommt heute Abend um acht Uhr sowieso zu mir.

Tanner setzte seinen Weg fort, sein Ziel war das französische Restaurant. Er hatte jetzt wirklich große Lust auf einen guten Kaffee. Um diese Uhrzeit war das Restaurant natürlich leer, zumal ganz offensichtlich auch niemand in den Gästezimmern übernachtete. Alle Zimmerschlüssel hingen wohlgeordnet an dem kitschig rustikalen Schlüsselbrett an der Wand hinter der kleinen Rezeption. Erst heute bemerkte er den Wechselrahmen mit den Fotos aller Angestellten des Gasthauses. Der Gast sollte sich von Anfang an eine Vorstellung über den Betrieb und seine Mitarbeiter machen. Tanner nahm kurz entschlossen das Bild von der Wand und begab sich damit in die kleine Gaststube.

Auf der Übersicht waren insgesamt dreizehn Personen zu sehen. Ganz zentral natürlich der Patron samt Gattin. Auf der linken Bildhälfte insgesamt vier Mann Küchenpersonal, zwei Köche, ein Lehrling – André Tillieux – und eine Küchenhilfe. Auf der rechten Seite das Servicepersonal, Zimmermädchen, Gärtner und die Haustechnik.

Zum ersten Mal sah Tanner ein Bild von André Tillieux. Schmal, mit großen Augen, schaute er melancholisch in eine imaginäre Ferne und wirkte in seinem Kochkostüm alles in allem eher unglücklich und fehl am Platz. Vielleicht war ihm die Kleidung einfach nur zu groß, wer weiß. Oder er ließ sich nicht gerne fotografieren? Tanner wusste um die relative Aussage eines einzelnen Fotos. Vielleicht konnte er heute noch andere Bilder sehen, auf denen André einen ganz anderen Eindruck machte.

Hallo Tanner. Ich habe Sie gar nicht kommen sehen. Wollen Sie ein Glas Wein?

Tanner drehte sich um. Da er Marnier sonst immer nur in seiner ewig weißen Küchenkleidung gesehen hatte, dauerte es einen Moment, bis er ihn erkannte. Er trug einen schwarzen Anzug mit einem stahlgrauen Hemd und wirkte überraschend elegant.

Guten Tag, Marnier. Ich sehe, Sie waren in der Stadt und haben die Anzeige gemacht.

Stimmt. Die haben gesagt, ich müsse jetzt Geduld haben, bis äh, ja, bis sie vielleicht irgendwelche Resultate haben. Ich bin jetzt noch viel mehr in Unruhe als vorher.

Ja, das verstehe ich. Wir werden gleich darüber reden.

Ja, entschuldigen Sie. Was wollen Sie trinken?

Ich hätte gerne einen Milchkaffee, und wenn ich noch ein Croissant dazu bekommen könnte, wäre ich mehr als zufrieden.

Kommt gleich. Ich werde mich in der Zwischenzeit kurz umändern. Also, ich meine, die Kleidung.

Er wandte sich ab, drehte sich dann aber noch einmal um.

Ah ja, Sie haben das auch mitbekommen mit den Schmierereien an den Haustüren, oder? Meine Leute sind ganz aufgeregt. Als ich in die Stadt aufbrach, habe ich es gar nicht gesehen, es war noch zu dunkel. Als ich vorhin zurückkam, war das Haus ein Bienenschwarm. Ich musste erst mal alle beruhigen und an die Arbeit schicken. An meiner Haustür ist auch so eine Schweinerei. Hier beim Restaurant zum Glück nicht. Was halten Sie davon?

Tanner machte eine vage Handbewegung.

Die Polizei ist bereits im Dorf und sondiert die Lage. Bald werden wir mehr wissen. Die Leute reagieren offenbar zum Teil sehr erschreckt. Ich hoffe, es kommt zu keinen übereilten Schlussfolgerungen.

Marnier nickte.

Ich habe jetzt andere Sorgen. Also, ich bin sofort zurück.

Marnier machte einen sehr viel nervöseren Eindruck als gestern. Wahrscheinlich, weil jetzt das Verschwinden von André offiziell deklariert war. Diese Erfahrung hatte Tanner oft gemacht. Von dem Augenblick an, da die Polizei eingeschaltet war, wurde für viele Leute eine Sache erst richtig real. Und dramatisch. Auch wenn sonst gar nichts Neues passiert war.

Tanner betrachtete die Fotos der anderen Angestellten. Ob es jemanden gab, den André besonders mochte? Waren es eher die jüngeren Frauen vom Service oder seine deutlich älteren Kochkollegen? Anhand der Bilder allein eine Prognose zu machen war unmöglich. Marnier hatte gestern behauptet, André habe zu ihm selbst das größte Vertrauen. Gut, er war sein Onkel, und solange André minderjährig war, hatte er von seiner Schwester so etwas wie die elterliche Verantwortung übernommen. Das allein sagte aber noch nichts über das wirkliche Verhältnis Andrés zu seinem Onkel aus.

Mit Ausnahme einer jungen Frau des Servicepersonals, die S. Sanders hieß, und einem Mann namens Viet Dang, der in der Küche half, hatten alle anderen ausschließlich französische Namen. Im nächsten Augenblick servierte die junge Frau, die er gerade auf dem Foto gesehen hatte, den Milchkaffee und das Croissant.

Guten Tag, hier ist Ihr Kaffee.

Ich habe gerade Ihr Bild gesehen, Frau Sanders.

Er deutete auf den Wechselrahmen.

Aufgrund des Fotos schließe ich, dass Sie noch nicht so lange da sind. Stimmt das?

Ja, das stimmt. Sehen Sie das denn dem Bild an?

Schauen Sie selber. Alle anderen Fotos sehen vom Stil und vom Papier her älter aus.

Gut erkannt, das ist mir noch nie aufgefallen. Also, ich bin seit ungefähr drei Monaten hier.

Und Sie stammen aus Wien, würde ich sagen.

Ebenfalls richtig. Sehen Sie das auch dem Foto an?

Sie lachte und strich sich eine blonde Strähne aus dem Gesicht.

Das habe ich nämlich in Wien machen lassen.

Nein, das höre ich an Ihrer schönen Sprache.

Darf ich meinerseits daraus folgern, dass Sie Wien kennen?

Darüber reden wir ein andermal. Sagen Sie, können Sie mir etwas über André sagen?

Sie blickte über Tanner hinweg und sprach plötzlich betont laut. Lassen Sie sich den Kaffee schmecken. Rufen Sie mich, wenn Sie noch etwas brauchen. Ich bin drüben in der großen Gaststube und bereite den Mittagstisch vor. Wir haben heute einige Reservierungen.

Lieber Tanner, haben Sie den Kaffee bekommen? Danke, Sol. Sie können jetzt gehen.

Betont gelassen sah die Kellnerin ihn an. Dann lächelte sie Tanner zu und ging. Marnier sah wieder so aus, wie Tanner ihn kannte. Der weiß gekleidete Chefkoch Marnier le Grand. Mit seiner gewohnten Kleidung hatte Marnier auch wieder etwas mehr von seiner Ruhe zurückgewonnen.

Was soll ich jetzt tun, Tanner? Die Anzeige habe ich gemacht.

Wenn Sie wollen, dass ich Ihnen helfe, müssen Sie mir viele Fragen beantworten. Auch muss ich alle Ihre Angestellten befragen dürfen, aber zuerst möchte ich sämtliche Fotos sehen, die Sie von André haben. Ach ja, und dann muss ich sein Zimmer sehen.

Warum sein Zimmer?

Ich muss mir ein möglichst genaues Bild von André machen, sonst kann ich überhaupt nicht helfen. Ich muss mich in seine Gedankenwelt einfühlen können. Sonst hat alles keinen Sinn. Meine Mutter sagte immer: Zeige mir, wie du wohnst, und ich sage dir, wer du bist.

Gut. Ich verstehe. Soll ich Ihnen das Zimmer gleich zeigen?

Ja, bitte. Pardon, wo ist eigentlich Ihre Frau, Marnier? Ich habe sie seit Tagen nicht mehr gesehen.

Sie ist für ein paar Wochen bei ihrer Schwester in Kanada.

Weiß Ihre Schwester denn, dass ihr Sohn spurlos verschwunden ist?

Ja, sicher, ich habe es ihr vorgestern gesagt. Sie wird morgen oder übermorgen hier eintreffen.

Und was ist mit dem Vater?

Von André, meinen Sie?

Ja.

Er ist schon seit vielen Jahren tot. Verkehrsunfall mit Motorrad. Sehr tragisch. André war damals noch nicht mal vier Jahre alt.

Und ist Ihre Schwester wieder verheiratet?

Ja, aber ihr zweiter Mann, den sie erst vor drei Jahren geheiratet hat, ist im letzten Sommer an Krebs gestorben. Bitte, hier ist das Zimmer von André. Wir durften es ja nicht betreten, da war André sehr eigen. Er hat darauf bestanden, seine Privatsphäre zu haben.

War? Sie haben gesagt, André war sehr eigen.

Oh, mon dieu, nein, das habe ich nicht gemeint. Sie verstehen, Deutsch ist eine schwere Sprache und –

Tanner winkte ab.

Und? Haben Sie seine Privatsphäre respektiert?

Selbstverständlich. Er musste dann halt sein Zimmer auch selber putzen und so. Das, äh, ist die Konsequenz.

Marnier und Tanner waren während des Gesprächs die Treppe bis unter das Dach des Gasthauses gestiegen.

Ich werde jetzt ganz allein in das Zimmer gehen und eine Weile da drinnen bleiben, Marnier.

Ich verstehe. Ich muss an den Herd. Wir haben bestellte Gäste und die wollen etwas zu Mittag essen. Sie finden mich dann in die Küche.

Tanner stand noch eine Weile im Gang, bis er Marniers Schritte nicht mehr hörte. Dann erst öffnete er die Tür.

Abgestandene Luft schlug ihm entgegen, zudem waren die Vorhänge dicht zugezogen, so dass man vom Zimmer nicht viel erkennen konnte. Er tastete nach einem Lichtschalter.

Das kleine Zimmer mit abgeschrägter Wand sah aus wie eine Müllhalde. Das zerwühlte Bett, der kleine Tisch und jeder Zentimeter des freien Raumes waren mehrschichtig übersät mit Kleidern, Schuhen, Zeitschriften und vielem mehr.

Tanner lächelte.

Selber putzen? Oh je. Ordnungsliebend ist er nicht, der André, das steht schon mal fest.

Tanner bahnte sich vorsichtig einen Weg durch das Chaos, möglichst ohne etwas zu verändern, öffnete Vorhang und Fenster, ließ die kalte Morgenluft ins Zimmer. Er befreite den einzigen Stuhl von einem Stapel frisch gebügelter Bettwäsche, die André dem Geruch nach zu urteilen selber nie gewechselt hatte.

Privatsphäre gab es hier jede Menge, allerdings war sie keinesfalls malerisch oder besonders appetitlich. Tanner setzte sich behutsam auf den Stuhl und schaute sich um. Der einzige Ort, der nicht vom Ordnungsprinzip Zufall regiert war, schien das Gebiet um den ziemlich teuren CD-Player mit Sennheiserkopfhörern zu sein. Die CD-Hüllen lagen ordentlich aufgereiht nebeneinander, was ja durchaus von praktischem Nutzen war. Hätte André eine bestimmte Musik hören wollen – ein Griff und er hätte die CD zur Hand. Eine saubere Unterhose zu finden – dazu hätte man schon einen ganzen Suchtrupp losschicken müssen. Aber wer weiß, vielleicht folgte Andrés Stapelbildungssystem ja einer unsichtbaren Logik. Tanner hätte ein mehrstrophiges Lied über die Diskussionen mit seinem eigenen Sohn zu singen gewusst, was imaginäre Ordnungsprinzipien anbelangte.

Von seinem Stuhl aus konnte Tanner den schmalen Kleiderschrank öffnen. Er war komplett leer. André hatte offenbar nie etwas eingeräumt, sondern sich von Anfang an für die allgemeine Bodenhaltung seiner Siebensachen entschieden. Vielleicht bedeutete der leere Schrank auch, dass er sich hier nicht hatte niederlassen wollen.

Tanner betrachtete die Wände.

An der Wand über dem Bett hing ein einziges Bild. Es war ein kleinformatiges Poster der isländischen Sängerin Björk. Offensichtlich hatte sie das Bild persönlich signiert. Quer über das Bild war mit dickem Filzstift ihr Name geschrieben.

Er nahm sich die CD-Sammlung systematisch vor. Tatsächlich fand er hier nicht den allgemein verbreiteten Hip-Hop-Verschnitt der durchschnittlichen Altersgenossen von André, sondern ein breites musikalisches Spektrum, bis hin zu klassischer Musik. Die Zauberflöte war gleich in drei verschiedenen Aufnahmen vorhanden.

Tanner schaute sich um.

Also, was habe ich bis jetzt? Was Ordnung und Sauberkeit betrifft, ist André eindeutig noch im Ferkelalter. Musikalisch hingegen kann man ihn als fortgeschritten einstufen.

Er schloss das Fenster. In diesem Moment klopfte es sehr leise an die Tür, dann ein Kratzen.

Interessant. Klingt nicht wie das erste Mal.

Tanner fuhr sich durch die Haare und schloss mit sich schnell eine Wette ab, dass es die junge Frau aus Wien war, die vor der Tür stand.

Kommen Sie herein, Frau Sanders.

Woher wussten Sie …?

Ja, das war nun nicht besonders schwer. Treten Sie näher.

Sie setzte sich zögernd auf den Rand des Bettes. Offenbar erstaunte sie die Unordnung im Zimmer nicht besonders.

Sie sind nicht das erste Mal hier, oder?

Sie schüttelte den Kopf.

Was haben Sie denn für ein Verhältnis zu André?

Energisch richtete sie ihren Kopf auf.

Ich habe kein Verhältnis mit André.

Das habe ich ja auch nicht gesagt.

Stimmt. Entschuldigung. Was soll ich sagen – ich mag ihn, und ich hatte von Anfang an das Gefühl, er braucht ein bisschen Hilfe.

Nachdem Madame abgereist ist, noch mehr.

Wann ist Madame denn abgereist?

Sie überlegte einen Moment.

Vor etwa drei Wochen.

Und wissen Sie, warum?

Monsieur und Madame haben viel gestritten. Ich glaube, es ging um Geld. Aber genau weiß ich es auch nicht. Aber sagen Sie bitte niemandem, dass Sie das von mir haben.

Keine Angst. Hat Monsieur auch mit André gestritten? Sie brauchen nur mit dem Kopf zu nicken, wenn es stimmt.

Sie nickte heftig.

Vielen Dank. Sie gehen jetzt besser wieder an Ihre Arbeit. Wir werden bei einer anderen Gelegenheit miteinander reden. Es wäre nicht gut, wenn man Sie hier sehen würde.

Sie nickte wieder, stand auf und öffnete die Tür.

Frau Sanders, was wollten Sie eigentlich hier?

Sie haben mich doch gefragt, ob ich Ihnen etwas zu André sagen kann, oder?

Ach ja, stimmt. Und? Was können Sie mir sagen? Und machen Sie doch bitte noch einmal die Tür zu.

Sie schloss leise die Tür, blieb aber stehen.

Ich weiß, dass er vor etwas Angst hatte.

Aber Sie wissen nicht vor was?

Doch. Er hat es mir gesagt.

Tanner schaute sie erwartungsvoll an.

Leider weiß ich nichts Genaues, aber er hat mir gesagt, dass es eine Person gebe, vor der er wirklich Angst habe. Jemand, der in Wirklichkeit der Teufel sei, obwohl alle denken, es handele sich um einen lieben Menschen.

Haben Sie denn eine Idee, wen er gemeint haben könnte?

Nein. Aber er hat gesagt, dieser Mann sei der Teufel.

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