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Читать книгу: «Zorn und Freundschaft. Max Frisch 1911-1991», страница 3

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Student und Dichter

1930 beendete Frisch das Gymnasium mit der Matura. »Es ist der Ehrgeiz von Vater und Mutter, daß wir Akademiker werden, Studium nach eigener Wahl. So werde ich Student der Germanistik.«34 Im Wintersemester 1931/32 immatrikulierte er sich an der Universität Zürich. Er fand dort bemerkenswerte Lehrer. Unter anderem hörte er Psychologie bei Carl Gustav Jung, Kunstgeschichte bei Heinrich Wölfflin, deutsche Literatur bei Emil Ermatinger und Robert Faesi. Jung war der nationalsozialistischen Ideologie und dem antidemokratischen Elitedenken der Zeit in manchen Überzeugungen nicht abgeneigt, Wölfflin, der Schüler und Nachfolger des konservativen Jakob Burckhardt, galt als einer der besten und anregendsten Kulturdenker der Zeit – auch er war kein Demokrat. Ermatinger vertrat ständestaatliche Ideen und war Mitunterzeichner eines Huldigungstelegramms an Adolf Hitler anläßlich der Jubiläumsfeier der Goethe-Gesellschaft 1935. Frisch mochte ihn nicht sehr. Dafür schätzte er Robert Faesi, den »liebenswürdigen Professor«35 mit den weitreichenden Beziehungen zu den literarischen Größen der Zeit. Dieser elegante Professor war zugleich ein anerkannter Schriftsteller. Seine Novelle Füsilier Wipf wurde kurz vor dem Zweiten Weltkrieg als großes Epos der geistigen Landesverteidigung verfilmt. Faesi war Frischs besonderer Förderer. Politisch stand er der antidemokratischen Rechten um Otto von Greyerz, Philippe Godet und Gonzague de Reynold nahe. Letzterer war nicht nur sein geistiger Anreger, sondern auch sein militärischer Vorgesetzter. Faesi empfahl den jungen Frisch an die Deutsche Verlags-Anstalt und an Eduard Korrodi, den Feuilletonchef der liberal-konservativen NZZ. Dieser wurde für Jahrzehnte Frischs literarischer Mentor.

Korrodi galt in der Zwischenkriegszeit als Zürcher Literaturpapst. Im Feuilleton der NZZ erließ er seine Enzykliken. Er förderte ebenso großzügig junge Talente, wie er nach eigener Laune und Gutdünken in deren Texte eingriff. »Ein ebenso kluger wie launenhafter Mensch«, urteilte Frisch. Politische Dichtung war ihm nicht anders als den meisten seiner Universitätskollegen ein Greuel. Dichtung hatte sich am Schönen, Erhabenen und Idealen zu orientieren. Die aus politischen oder »rassischen« Gründen emigrierten Literaten waren ihm suspekt. Ende Januar 1936 schoß er eine Breitseite gegen diese »Linksemigranten und Juden« in der Schweiz. Am 2. Februar antwortete ihm Thomas Mann in einem offenen Brief, worauf Korrodi eine waschechte Intrige gegen den in Zürich im Exil lebenden Schriftsteller anzettelte.36

An der Zürcher Universität freundete sich Frisch mit dem drei Jahre älteren Emil Staiger an. Auch Staiger, Schüler von Ermatinger, bis 1934 aktives Mitglied der profaschistischen »Nationalen Front«,37 Antisemit und ab 1943 Professor für deutsche Sprache und Literatur, bekämpfte als konservativer Hermeneutiker jede Art politisch engagierter Literatur. Die Freundschaft mit Frisch, die zeitweilig sehr eng war, ging erst 1966, beim spektakulären Zürcher Literaturstreit, in Brüche. Ein zeitkritisches Bewußtsein dürfte hingegen in den Lehrveranstaltungen von Walter Muschg geherrscht haben. Dieser legendäre Literaturprofessor von Basel, Halbbruder des späteren Frisch-Freundes und Schriftstellerkollegen Adolf Muschg, war zu jener Zeit allerdings erst Privatdozent in Zürich. Frisch besuchte seine Veranstaltungen mit Begeisterung.

Im großen und ganzen fand er an der Universität also Lehrer von solider fachlicher Qualität und konservativer bis reaktionärer Gesinnung. Zu den linksoppositionellen Schriftstellern um Rudolf Jakob Humm, die im »Rabenhaus« zusammenkamen und freundschaftlichen Umgang mit den Emigranten pflegten, hatte er keinen Zugang. Er begann seine literarische Karriere als überzeugter bürgerlicher und apolitischer Dichter. Und konservative Kreise förderten und bewunderten ihn.

Das Studium mißfiel Frisch. Die Welt in den Zürcher Hörsälen war ihm zu blaß, zu eng. Frisch wollte Dichter werden, nicht Schriftgelehrter. Dichten hieß für ihn: ausbrechen aus den Alltagszwängen und eintauchen in eine außergewöhnliche Welt tiefer Erlebnisse und intuitiver Selbstverwirklichung. Nicht der poeta doctus, sondern der geniale Vagant, der hinter die Horizonte blickt, war sein Vorbild (siehe Jürg Reinhart). Die Spannung zwischen Bürgerwelt und Künstlerwelt, zwischen bürgerlichem Normalmaß und schöpferischer Einmaligkeit wird für Jahrzehnte ein Grundzug in Frischs Schaffen. Er hat sie nicht nur in vielen Variationen beschrieben, er hat sie auch zu leben versucht.

Bevor sich Frisch jedoch als Dichter vorstellte, veröffentlichte er journalistische Texte. Der erste davon trug den Titel Mimische Partitur und erschien am 27. Mai 1931 in der Neuen Zürcher Zeitung. Frisch hatte ihn unaufgefordert eingeschickt. Sein Erscheinen überraschte ihn. »Das war tatsächlich enorm. Daß das wirklich Wort für Wort da war. Dann noch der Name gedruckt!«38 Mimische Partitur rezensierte eine Theaterkunst-Ausstellung, an der eine »mimische Partitur«, das heißt eine Notation für das schauspielerische Mienenspiel vorgestellt wurde. Frisch verwarf die Idee in Bausch und Bogen. Mimik sei die natürliche Folge seelischer Erlebnisse, daher könne eine mimische Nachahmung allenfalls eine »gymnastische« Mimik sein, Gesichtsgymnastik, statt Spiegel der Seele.

Frischs Argumentation ist konventionell. Auffällig ist nur die Arroganz, mit welcher der Zwanzigjährige ein Urteil über einen Vorgang fällte, den er damals überhaupt noch nicht kannte: über den unendlich komplexen Prozeß der Entstehung von künstlerischem Ausdruck auf Theaterproben.39 Volker Hage attestierte dem jungen Frisch »Mut zur eigenen Meinung«. Frisch selbst sah seine Anfänge kritischer. »Rezensionen, die ich als Student geschrieben habe, kann ich heute nicht ansehen, ohne zu erröten. Wobei es weniger Unkenntnis ist, was beschämt, sondern der Ton ganz allgemein, der sich für witzig hält, eine Mischung aus Dreistheit und Herablassung, und dabei, weiß ich, war ich voll von Minderwertigkeitsangst.«40 Als Grundfehler seiner frühen journalistischen Texte diagnostizierte er, »daß ich den Journalismus nicht als Journalismus betrieben habe, sondern als schlechte Literatur, was ja nicht Journalismus ist«.41

Wenn auch manche der frühen Texte Frischs heute schwer genießbar sind, so enthalten sie doch eine Fülle von Denkmustern, Bildern, Figuren, Motiven und Schreibhaltungen, die vorausweisen auf die späteren literarischen Texte. Vor allem aber zeigen sie, in welcher konservativen, jedem Experiment abholden Tradition Frisch zu schreiben begann; und wie groß daher der geistige Weg ist, den er im Lauf seines Lebens von dem einen Rand der Gesellschaft zum anderen zurückgelegt hat. Wer nur die literarische Qualität im Auge hat, mag die frühen Texte Frischs als Vorstufen abhaken. Wer aber die Entwicklung seines Bewußtseins verfolgen will, wird bei ihnen länger verweilen müssen.42

»Was bin ich?«
Der Schriftsteller als Antibürger (1932–1936)

Im März 1932 starb der Vater. Die Familie mußte sich einschränken. Man zog in eine bescheidene Wohnung in einem schlechteren Quartier. Max ging auf Arbeitssuche. Er sprach bei Eduard Korrodi (NZZ) vor: »Vergangene Woche ist mir der Vater gestorben. Ich habe Journalistik und Literatur studiert. Mein Studium muß ich unverzüglich abbrechen, um mich aus eigener Kraft durchzubringen.«43

Soweit Frischs Legende. Die Tatsachen waren weniger dramatisch. Faesi bot seinem Studenten ein, wenn auch bescheidenes, Stipendium an. Doch dieser zog es vor, seinen Lebensunterhalt selbst zu verdienen und sein Studium auf jene Lehrveranstaltungen zu reduzieren, die ihn besonders interessierten: Faesi, Staiger, Muschg waren die Favoriten. Hotzenköcherles Linguistik ließ er bleiben. Das ergab zwar kein ordentliches Studium mit akademischem Abschluß, aber Frisch erhielt sich die Privilegien des Studentenlebens und gewann Zeit fürs Schreiben. Selbst nach der Exmatrikulation Ende 1934 besuchte er noch ausgewählte Lehrveranstaltungen.44 »Geldmangel und Abenteuerlust«, so gestand er später, hätten seinen damaligen Entschluß bestimmt.45

Frühe Positionen

Von 1932 bis 1936 verfaßte Frisch als freier Journalist für die NZZ und andere Zeitungen46 über hundert Beiträge zu unterschiedlichen Themen. Nur zwanzig dieser Texte hat er 1976 in die Gesammelten Werke (gw) aufgenommen. Hans Mayer, der Freund und Herausgeber, betonte, Frisch habe »in keinem Fall aus inhaltlicher Erwägung: weil er etwa mit damaligen Aussagen nicht mehr übereinstimmte« einen Text abgelehnt, sondern nur »wenn es sich um schwächere Wiederholungen von Texten handelte, die ihrerseits in der Ausgabe erscheinen sollten«.47 Abgesehen von der Erzählung Antwort aus der Stille und einigen Artikeln aus den Jahren 1935/36 trifft dieses Auswahlprinzip einigermaßen zu.48 Ich werde mich daher vor allem an die in den Gesammelten Werken publizierten Texte halten, da diese allgemein zugänglich sind.49

Bei den frühen Texten handelt es sich vor allem um Rezensionen, Reiseberichte, Sportberichte (v.a. Eishockey), Reflexionen, Lokalreportagen und Kurzgeschichten. Sie sind interessant, weil sie einen weitgehend unbekannten Frisch dokumentieren, einen jungen Schriftsteller, der sich inhaltlich und stilistisch noch kaum von der damals gängigen Blut- und Bodenliteratur abgrenzte. Da ist zum Beispiel die Rede davon, wie man eine Straße »in den harten Berg zwingt«, wie »eine Wunde, so eine junge frischerdige Straße«, und mit dem Arbeitsschweiß schüttelt der Intellektuelle auch seine Selbstzweifel von der Stirn: »Schluß mit der Selbstzerlegung, die endlos und kernlos ist; wie eine Zwiebelschälerei.«50 Zugleich aber weiß Frisch auch, daß körperliche Arbeit letztlich nur »innerliche Öde« erzeugt und wahres und geistvolles Leben nur in der Stadt möglich sei. Aber geistvolles Leben ist selbstquälerisch, also schwärmt der Stadtmensch von der Ursprungsgewalt des ungebrochenen Landmenschen: »Etwas Unerwartetes in einer Welt der überfeinerten, bis zur Erdfremdheit vergeistelten, unvitalen Stadtseele: Dieser Bauerndichter, der ein Riese ist aus Frische und Erdhaftigkeit. Etwas Ursprungsgewaltiges, vor dem wir Hofmannsthalschen Claudios klein und blaß sind«, urteilt Frisch über Richard Billingers Pfeil im Wappen.51 Dichten sei »das Rauschen in der Tiefe« hörbar machen, die »Gegenstände selber zum Sprechen bringen«. Journalismus dagegen sei bloß eine »Photographie«, ein »Reiz ohne Tiefgang«.52

Man könnte seitenweise weiter zitieren, die kleine Auswahl mag genügen. Sie zeigt hinlänglich, wie erd- und heimatverbunden, konservativ und antiintellektuell der junge Dichter und Journalist in seinen Anfängen war; ein Adept seiner nicht minder konservativen Lehrer und Förderer Faesi, Staiger, Korrodi. Die Nähe zur faschistischen Literatur drängt sich auf, doch es wäre falsch, von dieser auf Frisch zu schließen. Auch die faschistische Literatur wurzelte im breiten konservativen Literaturverständnis der Zeit; sie hat die Blut- und Bodendichtung nicht erfunden, jedoch für ihre politischen Zwecke radikalisiert und instrumentalisiert.

Identität

Der eigentliche Schlüsseltext der frühen Zeitungsbeiträge ist ein kurzer Essay mit dem Titel: Was bin ich?53 Hier entdeckt der junge Journalist sein Ich als literarisches Thema. Er stellt die Frage, an deren Beantwortung er sich die nächsten Jahrzehnte die Zähne ausbeißen wird – in der Literatur, wie im Leben –, die Frage nach der eigenen Identität und, was damit zusammenhängt, nach einem sinnvollen Leben in der bürgerlichen Gesellschaft: Was bin ich, und wie muß ich leben, um mich selbst zu gewinnen? Diese Frage drängte Frisch zum Schreiben, und schreibend versuchte er sie zu lösen. Er befand sich dabei in bester Gesellschaft: Die Identitätsfrage ist ein Zentralproblem der westlichen Literatur unseres Jahrhunderts.

Vordergründig literarisierte Frisch in Was bin ich? seine aktuelle Lebenssituation: Ein Student, dessen Vater gestorben ist, bricht sein Studium ab und sucht einen Broterwerb als Journalist. Der Tod hat sein soziales Sicherungsnetz zerrissen und ihn vor die Existenzfrage gestellt. Doch es geht nicht bloß um die materielle Existenz. »Geld ist zwar notwendig zum Leben, aber noch viel notwendiger ist es, zu wissen, was man denn ist und wozu man eigentlich taugt.«54 Zwischen »lächerlicher Überheblichkeit« und »lächerlichen Minderwertigkeiten« hin und her gerissen, sucht der junge Mann nach Orientierung und Selbstbestimmung. »Zum Ersäufen bin ich innerlich zu schön«, zum bescheidenen Mittelmaß jedoch zu schade. »Größenwahn und Minderwertigkeitsängste sind immer noch interessanter als die Erkenntnis: ich bin einer vom Millionendurchschnitt.« Der Exstudent möchte Dichter werden, Romane schreiben, Novellen, Komödien – ein selbstbestimmtes, schöpferisches Leben führen. Das ist die eine Seite. Doch wovon leben? »Ich muß Brot verdienen; aber ich will mich nicht lebendig begraben lassen. Da kenne ich Leute, die leben nur, um Geld zu verdienen; und das Geld verdienen sie, um leben zu können; und leben tun sie wiederum, um Geld zu verdienen. Ein Witz. Ich will aus meinem Dasein nicht einen Witz machen. Beruf soll nicht Zwangsjacke sein, scheint mir, sondern Lebensinhalt.«55 Ein sicheres Gespür sagt dem jungen Mann, daß entfremdete Lohnarbeit und ein kleinbürgerliches Angestelltendasein kein gangbarer Weg für ihn sind. Ein Künstlerleben macht Sinn, doch es stellt ihn an den Rand der Gesellschaft und macht brotlos.56 Eine Familie wäre da nicht zu gründen, denn »eine Frau … kostet Geld … eine Wohnung kostet Geld … Kinderchen kosten Geld«.57 Und wer weiß, ob das Talent für ein Künstlerleben ausreicht.58

Mit Was bin ich? fand Frisch nicht nur ein Lebensthema, sondern auch zwei typische Stilmerkmale: Die Auseinandersetzung in der Frageform – er wird sie später zu den legendären Fragebogen weiterentwickeln. Und die Schreiblist, in einer Ich-Form zu schreiben – »Mein Name ist Frisch. Max Frisch stud. phil. I«59 –, die sich autobiographisch ausnimmt und doch zugleich Kunstform ist. In den späten Texten Montauk und Schweiz ohne Armee? Ein Palaver wird er dieses Verwirrspiel auf die Spitze treiben.60



1933. Foto Hans Staub/Max-Frisch-Archiv/Stiftung für die Photographie Zürich.

Angestellten-Dasein versus Künstler-Leben, Normalmaß versus Außerordentlichkeit, soziale Integration versus Selbstverwirklichung, Sinn versus Lohn, das war das Grunddilemma des jungen Frisch, im Leben wie in der Literatur. Es war zugleich die Klammer, die Literatur und Leben aufs engste zusammenschloß. Noch sah Frisch dieses Dilemma nicht historisch, noch fragte er nicht: Wie müßte eine menschliche Gesellschaft beschaffen sein, damit in ihr ein sinnerfülltes und zugleich sozial integriertes Leben möglich ist – diese Frage stellt erst der späte Frisch –, vorerst beschäftigten ihn nur die Auswirkungen des vorgefundenen Dilemmas auf seine individuelle Subjektivität. Doch beide Fragen, die historisch-politische wie individuell-psychologische, sind Kehrseiten derselben Münze. Dieser Zusammenhang wird wichtig, um zu begreifen, wie in späteren Jahren die zwei angeblich so verschiedenen Max Frischs zusammenhängen: der Dichter der Subjektivität und der politische Essayist und Redner.

Künstler versus Bürger. Jahrzehntelang bemühte sich Frisch um Überwindung dieser Spaltung. Er spielte, sozusagen probehandelnd, verschiedene Möglichkeiten literarisch durch und versuchte sie anschließend oft auch zu leben. Die Lösung, die er 1932 fand und die er mit großer Hartnäckigkeit und am Rande des Existenzminimums auch praktizierte, hieß: freier Journalismus. So hoffte er, Brot und Kunst, Sinn und Lohn produktiv zu koordinieren.

Die Balkanreise

Im Frühjahr 1933 fanden in Prag Eishockeyweltmeisterschaften statt. Frisch erklärte der NZZ-Redaktion, daß er ohnehin fahre, ob er berichten könne. Er konnte. »Ich war stolz darauf, wie ich das gemanagt hatte.«61 Die Reise sollte vierzehn Tage dauern, es wurden acht Monate daraus. Von Prag fuhr Frisch nach Budapest, Belgrad, Sarajewo, ans Meer bei Dubrovnik, über Zagreb nach Istanbul, dann nach Athen, von dort zu Fuß nach Korinth und Delphi, schließlich zurück über Dubrovnik, Bari und Rom. Ende Oktober war er wieder in Zürich.62 Reise und Unterhalt verdiente er sich, mehr schlecht als recht, mit Reiseberichten für die NZZ.

In Budapest versuchte er seinen Wintermantel zu verkaufen und machte dabei die für einen zwinglianisch erzogenen Schweizer aufregende Erfahrung, daß die Ungarn trotz aller Armut nicht verbittern, sondern »gelassen, gemütvoll lächeln: das Leben ist ein Ferienaufenthalt, wo die Figuren vor dem Letzten die Achseln zucken«.63 Aus Sarajewo liefert er ein erstes Beispiel seines später selbstkritisch konstatierten »male chauvinism« (Montauk): Die Verschleierung mache die Frauen erst richtig reizvoll, »heikle Halsausschnitte und schamlose Kurzröcke« bestehlen den Mann, »der immer ein Träumer ist, um alles Erahnen«.64 Aus Serbien berichtete er über Klosterbesuche und zeigte dabei eine frühe Meisterschaft in poetischer Naturbeschreibung: »Überm Wasser kommt ein Hauch, welcher den Seespiegel fleckenweise verkräuselt und mit den Silberpappeln spielt. In langen Uferalleen beginnt jenes Flimmern, wenn die Blätter ihre helle Unterseite aufwenden, und im Schilfblaß platschen schwarze Büffel …«65 Leider erfahren wir wenig über die Klöster selbst, so sehr schieben sich des Autors Empfindungen vor das Objekt. Zur Balkanreise gehörte auch eine Fußwanderung von Athen nach Korinth und Delphi. Sie muß eindrücklich gewesen sein. In verschiedenen Artikeln und im Homo faber berichtete er davon. Dem jungen Wanderer gefielen die Ruinen und die Gastfreundschaft der einfachen Leute, »die zufrieden sind«.66 Wir Westeuropäer, sinnierte er, »können die Handlungen eines Mitmenschen niemals hinnehmen, ohne nach einem heimlichen Zweck zu suchen, weil wir den Glauben verloren haben, daß es bisweilen Dinge gibt, welche kein Geschäft sein sollen und keinen Zweck haben, sondern bloß einen Sinn, welchen wir nun Liebe oder Gastfreundlichkeit nennen mögen«.67

Einfache Leute sind menschlich und zufrieden. Dem konventionellen Menschenbild entsprach ein konventionelles Kunstverständnis. In jedem Marmorbruchstück ahnte der Wanderer die »Vollendung« des Ganzen, er »spürt eine Geschlossenheit, welche die Welt umspannt«, und ein »beglückendes Wohlmaß«.68 Pointiert formuliert: Frisch fiel in Griechenland auf, was Winckelmann hundertfünfzig Jahre zuvor auffällig gemacht hatte. Seine Balkanreise hat er als große Befreiung empfunden. Ich war »ledig jeder Pflicht, frei, bereit für jede Gegenwart; das ist denn auch meine eigentliche Erinnerung an die Jugend …«69

Jürg Reinhart

Der eigentliche Zweck der Reise war nicht journalistischer Natur. Frisch schrieb auf dem Balkan seinen ersten Roman. In ihn gingen manche Beiträge, die er der NZZ schickte, als Episoden ein.70 Der Text ist eine ›Zwischengattung‹: Er reproduziert, in der Tradition des ›sentimental journey‹ wie des Erziehungsromans, die große Balkanreise zwischen Realität und Fiktion. Nach Zürich zurückgekehrt, stellte er den Text im Winter 1933/34 fertig. Unter dem Titel Jürg Reinhart, eine sommerliche Schicksalsfahrt, erschien der Roman im Herbst 1934 in der Deutschen Verlags-Anstalt Stuttgart (dva). Robert Faesi hatte ihn an den renommierten Verlag vermittelt, und Frisch blieb der dva bis zu deren Fusion mit dem nationalsozialistischen Erler Verlag im Jahre 1938 treu.71

Jürg, der Titelheld des Romans, ist in jeder Hinsicht der Doppelgänger des jungen Max. Frisch hat den Text später einen »sehr jugendlichen Roman« genannt, »der ganz im Autobiographischen stecken bleibt«, und »als Autobiographie einfach nicht ehrlich genug, also von daher nicht interessant« ist. Der Held sei eine »romantische« Figur und das Ganze ein »Versteckspiel und eine Beschäftigung mit den ersten jugendlichen Nöten«.72 Das harsche Urteil ist verständlich – als biographisches Dokument hat der Roman allerdings einen wichtigen Stellenwert: Mit ihm beginnt die lange Reihe der mehr oder minder fiktiven Ich-Geschichten Frischs.

Die Story arbeitet mit Mustern aus der Trivialliteratur. Ort der Handlung ist ein »dreihundertjähriger Herrensitz« mit der melancholischen Bezeichnung »Solitudo« in einem dalmatinischen Badeort mit dem klangvollen Namen Ragusa (heute Dubrovnik). Eine gebildete deutsche Baronin vorgerückten Alters voll »natürlicher Herrschaftlichkeit«73 bewirtschaftet, zusammen mit ihrem blonden und an frühem Leid kränkelnden Freifräulein Tochter das Gut als Fremdenherberge. Unverschuldete Not zwingt sie zu dieser unstandesgemäßen Tätigkeit.

Auf Solitudo trifft sich eine handverlesene Gesellschaft. Da ist einmal der junge Dichter als gesellschaftlicher Außenseiter, ein Schweizer Parzival, der nicht nur seine Landesfarben – weiße Hose, roter Pullover –, sondern auch den vielsagenden Namen Reinhart trägt. Rein, weil er sich ›noch mit keinem Weib beschmutzt‹ hat, hart, weil er trotz gewaltigen Triebstaus und einer Auswahl bereitwilliger Damen hartnäckig seine ›Reinheit bewahrt‹. Diese Damen sind meistens in weiße Seide gekleidet und der Reihe nach: die holländische Baronin Marga, den lüsternen Leib im besten Alter, vernachlässigt von einem viel zu alten Ehemann; das ›süße Maderl‹ Hilde – siebzehn Jahr, blondes Haar –, Hausmädchen und anfänglich noch Jungfrau; und schließlich das genannte Freifräulein Inge. Zu Besuch weilt überdies eine österreichische Freundin, natürlich auch sie Baronin, verwitwet, reich und großherzig, begleitet von ihrem Sohn, dem jungen Herrn Studenten. Am Rande kommen ein helläugiger Arzt nordischer Rasse mit Gewissensbissen und einige Einheimische vor: »dunkle«, »verschlagene«, »faule«, »ungezogene«, »geizige«, »animalische«, »fetthändige« Slawen, die auf dem Istanbuler Abstecher durch ein »schmieriges Jüdlein mit Dreckhals« und einen abgefeimten, seine eigene Tochter prostituierenden Bazartürken ergänzt werden. Je schmuddliger der slawisch-türkische Background, um so reiner hebt sich das arische Heldenpersonal ab: Rassismus als wirkungsvolles Mittel für eine literarische chiar'-oscuro-Technik.

Die Geschichte ist schnell erzählt: Jürg sucht die entscheidende Tat, die ihn zum Mann macht. Wie das Mädchen durch den Mann ent-jungfert und damit zur Frau gemacht wird, soll ihn ein Geschlechtsakt mit einer Frau ent-knaben, also zum Mann machen.

Drei Frauen stehen zur Auswahl. Marga, die holländische Baronin, scheidet aus, sie liebt Jürg nicht, sie begehrt den hübschen Jungen bloß sexuell. Beim Hausmädchen Hilde ist es umgekehrt: Jürg liebt sie nicht, begehrt sie bloß. Sex ohne Liebe gilt ihm als Schmutz. Nur mit Inge, die den jungen Poeten entsagend liebt und ihn vor einem Affektselbstmord bewahrt, zeichnet sich die Möglichkeit einer echten Liebesbeziehung ab. Sie hilft Jürg, die quälenden Minderwertigkeits- und Versagensängste zu überwinden und zu sich selbst zu finden. Aber auch Inge kann Jürgs dräuende Frage nach der Bedeutung des Geschlechtsaktes nicht beantworten, ihr fehlt die Erfahrung. Jürg verreist nach Istanbul, begleitet von Inges Befürchtungen, er werde sich dort bei einschlägig tätigen Damen die nötigen praktischen Auskünfte verschaffen. Doch unterwegs kommt Jürg eine befreiende Erkenntnis: »Man wird nicht Mann durch die Frau« – bestenfalls ein »Männchen« –, entscheidend ist die große, »die männliche Tat«.74

Und das Schicksal hält sie ihm bereit: Inge erkrankt unheilbar. Von rasenden Schmerzen gepeinigt, verlangt sie die erlösende Spritze. Eine Sterbehilfe-Debatte entbrennt, doch niemand ist »stark« genug zur »wahrhaft liebenden« Tat. Erst Jürg, von Istanbul zurückgekehrt, verhilft der Kranken zur Überdosis Morphium. Die »männliche Tat« ist vollbracht, Jürg ein Mann – ohne seine Reinheit verloren zu haben!75

Jürg Reinhart wurde von der deutschen Tageskritik hochgelobt.76 Auch Eduard Korrodi pries das Werk in der NZZ vom 14. Oktober 1934. Werner Coninx hingegen fand das Buch mißlungen. Frisch berichtete in einem Brief: »Er ist ein Freund: er hat mir meinen Erstling mit Liebe zerrissen, aber so treffsicher, daß ich manchmal den Eindruck hatte, ich verstünde überhaupt nichts von Dichtung … Dreiviertel des Buches verwirft er, und ich war sehr beeindruckt, mit welcher Wahrheit und zugleich Schüchternheit er meine Anlagen und Gefahren sieht. Nicht literarisch ist sein Urteil, sondern unendlich größer: er sieht den Menschen, und wenn er mir mit freundschaftlichen und bescheidenen Worten andeutet, wo ich Stärke vortäusche an Stelle einer wirklichen Schwäche, ja, wo er die menschlichen Hintergründe einer literarischen Geste erkennt, sah ich mich selber so grell beleuchtet, so klar in meiner unglaublichen Verlogenheit, in meiner Eitelkeit, in meiner gedanklichen Nichtigkeit und meinem geistigen Hochmut, so unvergeßlich klar. Es ist schwer, einen echten Freund zu haben, wenn man klein ist und seiner bedarf; wenn man klein ist und ihm nicht gewachsen.«77

Für die Fachliteratur ist Jürg Reinhart in erster Linie ein frühes Dokument, in dem sich »Bilder und Denkmuster nachweisen lassen, auf die Frisch in späteren Jahren immer wieder zurückkommt: Etwa die Spannung zwischen Autobiographie und Fiktion, die Außenseiterposition des künstlerisch veranlagten Menschen, die hoffnungslose Sehnsucht nach Glück und Liebe, das grenzüberschreitende Gespräch zwischen Lebenden und Toten, das Meer als Bild der Freiheit und Erfülllung«.78 Biographisch interessant ist der Umstand, daß Frisch in Jürg Reinhart zum ersten Mal einen Lebensentwurf literarisch ausprobierte, den er in den Jahren danach auch zu realisieren versuchte: den Entwurf nämlich, sich als Künstler außerhalb der gesellschaftlichen Normen zu verwirklichen. Dieser Versuch wurde folgenreich – und er scheiterte. Im Roman konnte er glücken, weil allerlei ausgeblendet blieb, was im Leben nicht zu übergehen war. So ist der Widerspruch zwischen Selbstverwirklichung und Lohnarbeit, dem Zentralproblem in Was bin ich?, in Jürg Reinhart kaum noch ein Thema. Geldverdienen kennzeichnet allenfalls die Mentalität der einheimischen Slawen – die feineren Herrschaften haben keine Erwerbssorgen. Es herrscht die gesellschaftliche Ausnahmesituation: Man ist in den Ferien, die alltägliche Normalität ist suspendiert.

Dieses literarische Arrangement ist von Bedeutung: Jürg Reinhart ist ein Reise- und Künstlerroman im Gewand eines Erziehungsromans. Das Schema des Erziehungsromans heißt: Ein junger Mensch gerät in eine vorgegebene Welt und reift darin durch Konflikte, Erfahrungen und Bewährung. Am Schluß paßt er in ihre Normen, ist integriert, ist erwachsen. Aber die Welt, in die Jürg hineinwachsen soll, ist nicht die Gesellschaft von 1932/34. Es ist eine versinkende, adlig-großbürgerliche Gesellschaft. Wilhelm Meister, hundertfünfzig Jahre früher verfaßt, ist ihr gegenwärtiger als die autoritär bis faschistisch gewordene Gegenwart. Jürg mäandert zwischen Illusionen aus Rousseaus ›einfachem‹ Leben, romantischer Naturidyllik und Winckelmanns Griechenideal. Der Text bestätigt zwar Frischs Entschluß, ein Künstler außerhalb der Geldverdiener-Gesellschaft sein zu wollen, aber die Bestätigung gelingt nur als Flucht aus der Lebensgegenwart in eine illusionäre Vergangenheit, aus der normalen in die Ausnahmesituation, aus der aktuellen Gesellschaft in ein rückwärtsgewandtes Utopia. Diese formale Konstruktion des Romans reflektiert den Lebensweg des Autors: Frisch hatte sich durch die Flucht in eine Künstlerreise den Zwängen der Lohnarbeit entzogen, war aus der herrschenden Gesellschaft in die fremde, ferne Welt ausgestiegen. Und nur als Aussteiger konnte Jürg/Max seinen Lebensplan als Künstler realisieren. In diesem außersozialen Rahmen ging es nur noch um die innerlich-moralische Entwicklung des Individuums Jürg/Max.

Ausstieg und Flucht haben es an sich, daß sie einmal zu Ende gehen. Die Rückkehr von der Balkanreise in die Schweiz erlebte Frisch traumatisch. Er las, erinnerte er sich später, den Grünen Heinrich von Gottfried Keller, »dem besten Vater, den ich je hatte«, und schockartig überfiel ihn die beängstigende »Vorstellung, daß das Leben mißlingen kann«.79 Zwar irrte Frisch im Datum – er hat den Grünen Heinrich nachweislich erst im Frühjahr 1938 gelesen80 –, aber die Katerstimmung dürfte authentisch gewesen sein. Vierzehn Jahre später fand er scharfe Worte für ein weiteres Rückkehr-Erlebnis ins Heimatland: »Was auffällt, wenn man draußen gewesen ist: das Verkrampfte unserer Landsleute, das Unfreie ihres Umgangs, ihre Gesichter voll Fleiß und Unlust.«81 Jürgs romantische ›Lösung‹ des Lebensproblems erwies sich angesichts der Schweizer Realität als unzulänglich, und Frisch zweifelte zunehmend, ob der freie Journalismus für ihn richtig sei. Dennoch hielt er weitere zwei Jahre an dem einmal gefundenen Weg fest und lehnte eine ihm angebotene feste Redaktorenstelle bei einer Frauenfelder Zeitung auf den Einspruch Kätes hin ab. Er besuchte, wenn auch selektiv, die Universität, schrieb am zweiten großen Prosatext82 und veröffentlichte ein bis zwei journalistische Beiträge im Monat.

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9783038551539
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