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Читать книгу: «Zorn und Freundschaft. Max Frisch 1911-1991», страница 8

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Glänzende Zukunftsaussichten

Die Hauptarbeit der Jahre 1941 und 1942 galt dem neuen Roman mit dem Titel: J'adore ce qui me brûle oder Die Schwierigen. Er erschien 1943 im renommierten Atlantis Verlag des aus Berlin in die Schweiz zurückgekehrten Verlegers Martin Hürlimann. Im selben Jahr gewann Frisch unter 82 Konkurrenten den ersten Preis im Architekturwettbewerb um das städtische Freibad Letzigraben. Mit dem Preis erhielt er auch den Bauauftrag. Damit konnte er sich selbständig machen. Im Haus der Tante seiner Frau an der Selnaustraße 16 bezog er mietfrei zwei Räume und richtete sein Architekturbüro ein (siehe S.211f.).

Auch auf literarischem Gebiet gab es erfreuliche Neuigkeiten: Kurt Hirschfeld, der Dramaturg des Schauspielhauses, ermunterte ihn, Theaterstücke zu schreiben. Ein erstes verfaßte Frisch in fünf, ein zweites in drei Wochen – und das Schauspielhaus nahm sie zur Aufführung an. Schließlich kam 1943 das erste Kind, die Tochter Ursula, zur Welt.

Die Bilanz konnte sich sehen lassen: Aus dem Außenseiter und Journalisten von 1936 war in sechs Jahren ein angesehener Architekt, ein Mitglied der besten Gesellschaft, ein Familienvater, ein prominent verlegter Prosa-Autor und ein angehender Dramatiker am ersten Theater des Landes geworden. Frisch hatte den richtigen Beruf, die richtige Adresse, die richtige Frau, den richtigen Verleger und die richtige, nämlich eine bürgerlich-konservative, Gesinnung. Trotz finsterer Zeiten lag eine glänzende Zukunft vor dem erst einunddreißigjährigen Mann.

Bin
oder Der Architekt als Freizeitschriftsteller (1942–1945)

Er habe die Architektur damals als sein Lebensziel begriffen und hauptberuflich als Architekt gearbeitet, berichtete Frisch. Nur in der Freizeit sei er Schriftsteller gewesen. Für unerwartete Einfälle habe allerdings immer ein Notizheft bereit gelegen. Die Selbstaussage ist nicht falsch, doch sie verschweigt, daß der Architekt Frisch oft keine Arbeit hatte und deshalb über viel Freizeit verfügte. Zwischen 1943, dem Jahr der Eröffnung des eigenen Büros, und 1947, dem Baubeginn des Letzigrabenbads, hatte er keinen einzigen Auftrag und beteiligte sich nur an zwei Wettbewerben. Wenn er (bis 1945) nicht im Aktivdienst war, nutzte er seine Zeit zum Schreiben. Im Frühjahr 1943 war ein neuer Roman erschienen.

J'adore ce qui me brûle oder Die Schwierigen

Er erzählte die Geschichte Jürg Reinharts bis zu dessen Tod weiter. Als Jugendgeschichte war dem neuen Text eine stark gekürzte Fassung des im Buchhandel nicht mehr erhältlichen Romanerstlings Jürg Reinhart vorangestellt215 .

Frisch schrieb mit dem neuen Roman also keine Fortsetzung von Antwort aus der Stille. Das hatte literarische Gründe, aber nicht nur. Es zeigte auch an, daß die Bescheidung in die bürgerliche Normalexistenz, die Frisch in der »Bergerzählung« vorgeführt hatte, für ihn nun keine Lösung mehr darstellte. Was ihm, der als Architekt wie als Dichter begabt zu sein schien, jetzt auf den Nägeln brannte, war nicht mehr das entweder Dichter oder Bürger, sondern die mögliche Vereinigung beider Lebensweisen. Zum dritten Mal machte Frisch im neuen Text die Vorausschau der eigenen Lebenssituation zum Thema.

In drei Teilen spielte er drei mögliche Konstellationen durch. Hinkelmann oder ein Zwischenspiel heißt der erste Teil. Heinrich Hinkelmann – der Name erinnert an Faust und Winckelmann – ist ein erfolgreicher Archäologe in Frischs Alter aus gutbürgerlich deutschem Pastorenhaus. Als geistiger Vorfahre des Homo Faber besitzt er »eine Art von harmlos-unerschütterlichem Selbstvertrauen, eine angstlose Zuversicht, daß ihm nichts in der Welt wirklich mißlingen könnte«.216 Er verliebt sich in Yvonne, die Tochter eines in Griechenland ansässigen, reichen Schweizers. Man heiratet und erprobt drei Jahre lang die Normalehe. Yvonne verwandelt sich innert kurzem von der Geliebten zur Mutterfigur, »deren Ziel es ist, daß ihr Mann ein möglichst großer Mann würde, und die im übrigen keine Rechte auf ihn hat«217 . Als Yvonne ein Kind erwartet, reagiert Hinkelmann unerfreut. Ein Kind hat keinen Platz in seiner Beziehung zur Ehefrau/Mutter. Yvonne ist von dieser Reaktion enttäuscht und verläßt ihren ›unmännlichen‹ Mann. Sie kehrt in die Schweiz zurück, um das Kind abzutreiben. Ihre Begründung: »Man bekommt kein Kind von seinem Sohn.«218

Im Erscheinungsjahr des Romans war Frischs Tochter Ursula, ein Jahr später der Sohn Hans Peter zur Welt gekommen. Frischs rückblickender Kommentar zu den Geburten ähnelt Hinkelmanns Reaktion. Hinkelmann: Er war »bereits unterrichtet, daß ein Kind in Aussicht stand, im Grunde wenig entzückt, aber ritterlich genug, seine männliche Eigensucht zurückzustellen und ihre weibliche Freude nach bestem männlichen Vermögen mitzumachen …«.219 Frisch: »Als jüngerer Mann habe ich mir Kinder nicht eigentlich gewünscht; die schlichte Nachricht, daß ein Kind gezeugt worden ist, hat mich gefreut, der Frau zuliebe.«220

Nachdem Yvonne ihn verlassen hat, bricht für Hinkelmann die Welt zusammen. Er bringt sich um. Die bürgerliche Normalehe, so das Fazit des ersten Romanteils, bringt keine Lebenslösung.

Im zweiten Teil, Turandot oder Das Heimweh nach der Gewalt, begegnen sich Jürg Reinhart und Yvonne in der Schweiz. Jürg ist Maler geworden und bemüht sich mit aller Kraft um künstlerische Selbstverwirklichung. Yvonne versucht mit Geigenunterricht und Büroarbeit ein materiell eigenständiges Leben zu führen. Sie sieht in Jürg einen verlockenden Ausweg aus ihrem unbefriedigenden Dasein als alleinstehende Frau.221 Reinharts Lebenscredo beeindruckt sie: »Alles, was man so Erziehung nennt, ist eine Schule der Verheimlichung, Angst ist unser Erbe, Angst, geboren aus der Verheimlichung alles Wirklichen, alles Ungemütlichen, alles Ungeheuren, das da ist … Wie sollten wir dankbar sein, daß wir leben! daß wir Wesen sind, die vergehen, die all das Zeitlose schauen und mit Schauer begreifen, daß sie sterben müssen, immerzu, damit sie die Schönheit begreifen … Man müßte auch danken können für den Schmerz, für die Angst, für den Ekel, für die Öde, für die schiere Verzweiflung, für alles, was unser Herz erlebt, alles innerlich Wirkliche, was den Bogen unsers Lebens spannt, auch für das Ewig-Unsichere, das unser Leben in der Schwebe hält wie eine glühende Kugel!«222

Die Liebesbeziehung der beiden ist stürmisch und jenseits bürgerlicher Konventionen. Doch auf Dauer setzt sich das »typisch Weibliche« durch: Yvonne erträgt das »Ewig-Unsichere« nicht. Sie will ein Kind, will ein Heim, will Sicherheit, will die Ehe mit einem Mann, der für sie sorgt. All das kann und will Jürg nicht. Darum verläßt sie ihn und heiratet Hauswirt (nomen est omen), einen »breitschultrigen, gelassenen, unerbittlichen« Industriellen, vor dem die Arbeiter dastehen wie dumme Jungs. Hauswirt ist der »echte« Mann, der nicht Rätsel löst, sondern zupackt. Hauswirt erobert Yvonne und wird unwissend zum Vater des Kindes, das diese noch von Jürg empfangen hatte. Fazit: Die zweite Variante: Bürgerin lebt in freier Liebe mit Künstler, scheitert ebenfalls.223

Ist aber Yvonnes Ehe mit Hauswirt die Lösung? Yvonne »ging den gleichen Weg, den sie ihrer Mutter nie hatte verzeihen wollen: sie heiratete den Mann, der sicher für sie sorgen konnte …«, ohne ihn wirklich zu lieben.224 Reichlich skeptisch klingt das Lob der Ehe im Roman durch den eben frisch verheirateten Roman-Autor: »Ein Wunderbares ist es um die Ehe. Sie ist möglich, sobald man nichts Unmögliches von ihr fordert, sobald man über den Wahn hinauswächst, man könne sich verstehen, müsse sich verstehen; sobald man aufhört, die Ehe anzusehen als ein Mittel wider die Einsamkeit. Dort liegt das Unmögliche! Sobald man ein Gefühl davon gewinnt, daß die Ehe einfach ein Dienst ist, ein Verfahren fürs tägliche Leben.«225 Kant hatte Klartext gesprochen, als er die Ehe einen lebenslänglichen Vertrag zur wechselseitigen Benutzung der Geschlechtsorgane nannte. Auch die bürgerliche Ehe scheint keine befriedigende Lösung zu bieten.

Der dritte Romanteil – J'adore ce qui me brûle oder die Entdeckung – probiert einen vierten Weg aus: Der Künstler ist ein Angestellter geworden und will nun Hortense, eine Tochter aus dem Großbürgertum, heiraten. Der Bezug zur eigenen Situation liegt nahe. Jürg hatte, nicht anders als Frisch, nach »neun Jahren, die sich als Irrtum erwiesen«,226 seine Bilder im Wald verbrannt und eine Anstellung als Zeichner in einem Architekturbüro angenommen. Zufällig begegnet er Hortense, die Jahre zuvor seine Malschülerin und heimliche Verehrerin gewesen war. Vergeblich versucht Jürg ihr klar zu machen, daß jene jugendbewegten Zeiten vorbei sind. »Was bin ich denn? Ein Mann von dreißig Jahren, der just sein eigenes Brot verdient. Hälfte des Lebens, Menschenskind, Hälfte des Lebens! Wann wird man denn endlich erwachen und aufstehen? … Wann fängt es denn an, das wirkliche, das sinnvolle Leben?«227

Hortense will nach Paris, will mit Jürg ein freies Bohème-Leben führen. Doch Jürg denkt inzwischen bürgerlich über die Ehe: »Das größte Abenteuer …, das es einzugehen gibt, schien ihm die Ehe, das Wagnis einer ganzen Bindung, Verpflichtung an ein Rätsel, das uns überdauert.«228 Er macht Hortense einen Heiratsantrag, sie zögert. Ihr Vater, Armeeoberst, Gutsbesitzer, Patrizier (man ist an Constances Vater erinnert), widersetzt sich der Mésalliance, indem er rassische Bedenken vorbringt: Jeder Hundeliebhaber vermeide aus Hochschätzung vor der Rasse einen Bastard. Auch die Menschen hätten »ein eingeborenes … Reinlichkeitsbedürfnis gegenüber eignem Wesen, umso stärker und gesünder und reiner dieses Wesen ist. Stolz ist eine Art von seelischem Geruchssinn … Man riecht, was nicht zu uns gehört«.229

Bei der Unterredung mit Hortenses Vater erfährt Jürg, daß er in Wahrheit ein adoptiertes, uneheliches Kind ist. Die leibliche Mutter sei Kinderfräulein im Gut des Obersts, der Vater ein Metzgerbursche gewesen. Jürg bricht zusammen. Er erkennt: »Nicht alles Mögliche ist uns möglich, wie es der Jüngling noch meint. Schon vor der Geburt ist uns das meiste genommen, verborgen, zerbrochen, verschüttet.«230

Das sind deutliche Zurücknahmen der Positionen des jungen Jürg Reinhart, zugleich kritische Zugewinne an Einsicht in die Denkungsart und den sozialen »Geruchssinn« der guten Gesellschaft. Alle Varianten sind nun durchgespielt, und alle Varianten sind gescheitert – auch die, die der frischgebackene Architekt, Ehemann und

Schriftsteller gerade selber zu leben versucht!

Jürg Reinhart verfällt dem Wahnsinn. Im Irrenhaus lernt er den Gärtnerberuf und arbeitet, wieder genesen, im vierten Teil des Romans unter dem Namen Anton als Gärtner. Er ist weise geworden, die Kinder lieben ihn. Er erinnert an Voltaires Altersmaxime »Il faut cultiver son jardin« aus dem Candide. In einer bedeutungsschwangeren Gewitternacht treffen Hortense und Anton zufällig aufeinander. Doch man findet sich nicht mehr im nächtlichen Gespräch. Anton ist verbittert: »Als bankrotter Künstler, dem eines Tages der Boden unter den Füßen versank, hatte er ein Menschtum, das sich lohnt, einmal im Bürgertum gesucht; der Bürger glaubt ja … an seine höhere Art, seine Führerschaft, solange sie ihm dient, seine behaglichen Vorrechte zu schützen; glaubt er auch da, wo er um seiner höheren Art nicht auf einem ledernen Polster, sondern auf glühenden Nägeln sitzen müßte?«231 Anton spricht als Verdacht aus, was Frisch Jahre später als Grund für seinen Bruch mit der Bürgergesellschaft angeben wird: »Ich habe bemerkt, daß ich als Hinzugekommener die Sache viel ernster nahm, als die anderen, die gar nicht dahinter standen.«232 Diese Koinzidenz ist interessant, zeigt sie doch, daß Frisch nicht ›naiv‹ in die gutbürgerliche Gesellschaft eingetreten und erst im nachhinein, mit zunehmender Erfahrung, kritisch geworden ist. Noch vermied er radikale Schlüsse. Noch war er Bürger und wollte Bürger bleiben. Also macht er aus Antons Kritik an der Gesellschaft eine biologistische Theorie im Trend der Zeit233 : Es gibt »nur drei Wege für jeden Menschen«, und die sind durch Abstammung vorbestimmt. Weder gesellschaftliche noch individuelle Bedingungen können daran etwas ändern. Den ersten Weg beschreiten die »Gestalter des Lebens«. Sie sprengen alle Fesseln der Konvention und geben sich selbst ihren Lebenssinn. Der zweite Weg ist der Weg der »Erhalter des Lebens«. Sie sind »die Gesunden«, sie leben in »der bürgerlichen Ehe«. Weg drei ist der Leidensweg des genetischen Menschenschrotts, der »Halblinge«: »Man hat sein Leben so versehrt empfangen, daß man sich selber damit auszulöschen hat. Eine weitere Möglichkeit sehe ich nicht …«234 Anton erkennt sich als »Halbling«235 und bringt sich um. Was er nicht weiß: Yvonnes Sohn, Hanswalter, ist sein eigenes Kind, der »Halbling« hat sich entgegen seiner Bestimmung fortgepflanzt. Und eben dieser Hanswalter beginnt nun ein Verhältnis mit Hortenses Tochter. Die unglückliche Geschichte Jürg Reinharts droht sich zu wiederholen: »Es gibt keinen Anfang, kein Ende. Alles wiederholt sich, nichts kehrt uns wieder …«236

Der autobiographische Hintergrund von J'adore ce qui me brûle zeigt, mit welcher Ernsthaftigkeit der junge Autor seinen künftigen Lebens- und Schaffensweg schreibend zu erkunden versuchte, wie er Biographie und literarische Fiktion nicht als äußerliche Übereinstimmung von Fakten und Ereignissen verzahnte, sondern in der fiktionalen Durchdringung seiner jeweiligen Lebensprobleme sich Klarheit zu verschaffen versuchte. Die handwerklichen Fortschritte des neuen Romans waren beachtlich. Die »einzigartigen Lyrismen«, die Korrodi begeisterten,237 muten heute eher fremd an, aber der souveräne Umgang mit Perspektivwechseln, Rückblenden, Wechseln der Erzählebenen, mit komplexeren Handlungsverzahnungen, mit Vorzeichen und Jahreszeitensymbolik, all das verriet handwerkliche Könnerschaft. Erstmals experimentierte Frisch im neuen Text mit einer ironisch-verknappten Beschreib-Weise. Bislang hatte er vorzugsweise »mit Herzblut« geschrieben, das heißt: ohne Distanz zu den Figuren und Gegenständen. Ironie dagegen erzeugt Distanz, schafft spielerische Infragestellung und relativiert die Aussage auf ihre Aussagebedingungen hin. Neben das Beschriebene tritt das beschreibende Bewußtsein, der Autor verliert sich nicht in seinen Figuren und Gegenständen, sondern steht neben ihnen und führt sie vor. Nicht Nachempfinden durch Identifikation ist das Wirkungsziel von Ironie, sondern Nachdenklichkeit durch Distanz.238 Der späte Frisch war berühmt für seine reich facettierte Ironie. In Die Schwierigen entdeckt er für sich dieses Stil- und Erkenntnismittel.

Der neue Roman wurde in der Presse überwiegend positiv aufgenommen, und die Schweizerische Schillerstiftung verlieh ihm eine besondere Auszeichnung, indem sie hundert signierte Exemplare übernahm und als Weihnachtsgeschenk an ihre Mitglieder verteilte.239

»Von der guten Laune und dem Ernst der Zeit«

Auch das neue Buch sparte, obschon es bis in die Gegenwart führte, das politische Zeitgeschehen aus. Zur Erinnerung: 1942 hatten die Deutschen mit der industriell betriebenen Menschenvernichtung in den kzs begonnen. Zur gleichen Zeit schloß die Schweizer Regierung die Grenzen für alle Flüchtlinge, und Bundesrat von Steiger prägte das schlimme Wort: »Das Boot ist voll.« An der Grenze spielen sich erschütternde Szenen ab.240 Gegen diese Flüchtlingspolitik opponierten breite Kreise. In Zürich öffneten nicht nur linksengagierte Personen, sondern auch manche intellektuelle und gutbürgerliche Häuser, also Frischs eigene Kreise, demonstrativ ihre Häuser für die Flüchtlinge, so die Rosenbaums, die Humms, die Fleischmanns. Wer wissen wollte, welche Ungeheuerlichkeiten jenseits der Grenzen geschahen, konnte es wissen. Doch Frisch blieb seinem poetologischen Konzept treu, wonach Politik in der Literatur nichts zu suchen habe. Zur Rechtfertigung dieser Auffassung veröffentlichte er in der NZZ vom 21. November 1943 einen Aufsatz mit dem launigen Titel: Von der guten Laune und dem Ernst der Zeit.

Das eine Auge auf die Zeitung gerichtet, worin die Vernichtung Kassels berichtet wird (eine Untat der Alliierten, nicht der Nationalsozialisten), »das andere Auge auf die Milchpfanne … die jeden Augenblick meine Geistesgegenwart erfordert«,241 mit diesem Bild umriß Frisch seine Situation als Dichter im Zeitgeschehen. Dichtung ist die Milchpfanne, welche die ganze Geistesgegenwart erfordert. Ein zweites Bild – Christi Kreuzigung von Pieter Bruegel – sollte das Verhältnis von Zeitgreuel und Dichtung präzisieren. Jäger sehe man auf dem Bild, so Frisch, und Liebende und Äcker und Bauern und Pferde, Städte, Vögel und Kinder, »und man muß schon suchen, wo eigentlich der Heiland mit seinem Leiden stattfindet, nicht in der Bildmitte, nicht größer als alle die anderen …«242 Zumindest hätte Frisch auffallen müssen, daß, im Unterschied zum eigenen Dichten, die Kreuzigung bei Bruegel immerhin stattfand, wenn ihm schon das Auge fehlte, zu sehen, daß Bruegel die Kreuzigung eben dort »am Rand« malte, wo sich die wichtigen Kompositionslinien des Bildes treffen. Will sagen: Die Kreuzigung findet nicht ›unter anderem‹ und ›neben anderem‹ statt, sondern sie ist der Focus, von dem aus die Komposition des ganzen Lebensbildes aufgebaut ist.

Frisch kritisierte zu Recht Abstumpfung, Zynismus und gewissensentlastendes Bekennertum als falsche Haltungen gegenüber dem Zeitgeschehen, und er forderte eine pragmatische Haltung: »Es kommt wenig darauf an, was wir empfunden, oder nicht empfunden haben«, wichtig sei allein, daß die Flüchtlinge Unterkunft, Kleider und Brot hätten.243 Offenbar hatte Frisch aber bereits gespürt, daß das Verhältnis von Politik und Kunst aufgrund der aktuellen Entwicklungen allmählich brisant wurde. 1943 war das Wendejahr des Krieges: Im Januar hatten die deutschen Armeen vor Stalingrad kapituliert, im Mai in Nordafrika, im Juli landeten die Alliierten in Sizilien, Mussolini fiel, und im November 1943 wurde auf der Teheraner Konferenz die Landung in Westeuropa vorbereitet. Der Alptraum vom faschistischen Europa verflog, Deutschlands Zusammenbruch wurde absehbar. Absehbar war somit auch die Frage nach der Mitverantwortung am Krieg, die Frage, wer dereinst zu den Schuldigen, wer zu den Schweigern, den Mitläufern, den Sympathisanten und wer zu den Siegern, auch zu den geistigen und moralischen Siegern, des Kriegs gehören würde. In dieser historischen Konstellation schrieb Frisch seinen Aufsatz über Kunst und Politik. Auch seine erste Ich-Erzählung entstand in dieser Zeit.

Bin oder Die Reise nach Peking

Diese »Träumerei in Prosa«244 , die spielerisch ein Dutzend Episoden zu einem filigranen Text aus Traum, Realität, Erinnerung und Reflexion zusammenstrickte, läßt sich biographisch leicht entziffern245 . Wiederum geht es um die richtige Lebensform in der bestehenden Gesellschaft.

Eine Prologepisode stellt Bin als jedermanns Alter ego vor. »Bin ist unser aller Wegbereiter insofern, als er unsere unerfüllten Möglichkeiten verkörpert. Er ist die Möglichkeit, die unsere Wirklichkeit begleitet.«246 Die Jahreszeitensymbolik strukturiert die Erzählung. Sie beginnt im Frühling, der Zeit des Lebensaufbruchs. »Mindestens die Hälfte des Lebens ist nun vorüber, und insgeheim fangen wir an, uns vor dem Jüngling zu schämen, dessen Erwartungen sich nicht erfüllten.« So denkt der Architekt Mitte Dreißig, der mit der Planrolle in der Hand am Feierabend im Caféhaus sitzt und »Heimweh nach ersten langen Gesprächen mit einer fremden Frau« hat.247 Doch statt nach Hause zur Frau namens Rapunzel zu gehen (das ist die Märchenschöne mit dem langen Haar, ein Salat, aber auch ein giftiges Kraut und der Spitzname für Trudy von Meyenburg), treiben ihn Frühlingsgefühle durch Gärten und Wald, »als ich unversehens vor der chinesischen Mauer stand«. Auf die Mauer gestützt raucht Bin eine Pfeife und lächelt. Gemeinsam zieht man weiter. »Ich hatte die Rolle unter dem Arm, Zeichen des Alltags«248 und ebenso Metapher für die gesellschaftliche Rolle, die jeder mit sich trägt. Man plaudert und wandert, bis man vom Hügel herab plötzlich Peking erblickt. »Weit konnte es bis Peking nicht sein, eine Stunde vielleicht oder zwei oder drei …«249 In Peking will der Architekt sich endlich von seiner Rolle im wörtlichen wie im metaphorischen Sinn befreien.

Frischs Peking liegt am Meer – wie Shakespeares Böhmen im Wintermärchen. Es ist kein realer Ort, sondern ein Ort der Sehnsucht, der Lüste, des Traums. Im Frühjahr, beim Aufbruch war Peking noch nahe gewesen. Im Sommer, in der Zeit der Reife, trifft man einen östlichen Heiligen, der die westliche Fragerei nach dem »Was tun sie?« nicht versteht. Ihm ist das bloße Dasein Glück genug. Man lagert im Gras, erinnert glückliche Jugendzeiten und bemerkt auf einmal, wie man im Strom der Zeit von Peking abtreibt. Man macht Lebenserfahrungen, gewinnt vernünftige Einsichten, wird erwachsen: »Der Jubel ist aus den Dingen verflogen, nur die Erfahrung bleibt, nur die Asche der Erfahrung nimmt zu.«250 Man trägt sich mit Selbstmordgedanken und vergißt Bin zuweilen jahrelang. Man altert. Bis Bin eines Morgens wieder da ist und es »ganz ernst meint mit unserer Reise nach Peking«.251 Aber nun ist es schon Herbst, »das Leben ist kurz«,252 und »wir haben nun endlich eine Wohnung gefunden … Sogar Garten haben wir nun, nicht viel, Blumen, Ausblick in die Bäume der Nachbarn, in Birnen und Kirschen, die uns nicht gehören.«253 Es ist die Wohnung an der Zollikerstraße 265, in welche die Familie Frisch 1942 gezogen ist. Und »nun haben wir auch bald ein Kind«254 – Ende 1943 und 1944 kamen Frischs Kinder Ursula und Hans Peter zur Welt. Die Erzählung ist in des Erzählers Gegenwart angekommen. Und genau hier setzte Frisch den ironisch-schmerzlichen Schlüsselsatz: »Wir sind in einer Weise

glücklich, die uns kaum noch ein Recht läßt auf Sehnsucht; das ist das einzig Schwere …«255 Frisch hat erreicht, was traditionellerweise zum bürgerlichen Glück gehört: Frau, Kind, Wohnung mit Garten, Beruf und Freunde. Aber diese haben alle »einen Knacks«,256 sie kennen nämlich Bin nicht. Sie sind getrieben von Geltungsbedürfnis und Ehrgeiz, was »ja auch nur ein Geiz« ist. Daß diese Sätze genau in der Mitte des Textes stehen, ist kein Zufall. Die »Mitte des Lebens« ist erreicht, die zweite Texthälfte gibt eine Voraussicht auf die Zukunft, auf den »Herbst« und den »Winter« des Lebens.

Wie sah Frisch 1942 seine Zukunft? Wieder einmal ist die Sehnsucht mächtig, die »ersten Häuser von Peking« sind erreicht. Der Architekt will endlich seine Rolle unterstellen und betritt einen Palast. Dieser ist – Angsttraum des Architekten – ein Zerrbild jenes Gebäudes, welches auf der Rolle entworfen ist. Der Hausherr lädt zu Gast, man vergißt wieder einmal Bin, denn die Tochter des Hauses ist süß und siebzehn. Auch sie plagt die Sehnsucht nach ihrem ›Peking‹. Mit dem Herrn des Hauses philosophiert man über die Diktatur der Zeit. Die Menschen des Abendlands sind ihre Sklaven, sie führen das Leben von »Ameisen«. »Unsere Seele gleicht einem Schneeschaufler, sie schiebt einen immer wachsenden … Haufen ungestillten Lebens vor sich her«.257 Gesellschaftliche Erfolge stellen sich ein, der Fürst gibt einen neuen Palast in Auftrag, ein Bubentraum erfüllt sich.258 Doch da legt der Fürst die Maske ab und zeigt sich als zotenreißender Fettsack. Die gute Gesellschaft, um derentwillen man Peking vergessen hatte, ist ein ordinäres Volk.

Man flüchtet mit der jungen Chinesin (auch sie trägt den Sehnsuchtsnamen Maja) ans »andere Ufer«. Maja jubelt ihrem Peking entgegen, denn Peking ist immer am anderen Ufer. Man landet – und das andere Ufer entpuppt sich als feines Lokal am Zürichsee. Was für Maja neu und aufregend ist, kommt dem Erzähler, der sich nun als Architekt Kilian vorstellt, öde, weil bekannt, vor: »Die Erde ist so groß nicht, wie man meint, auch sie macht es mit Wiederholungen.« Die Sehnsüchte sind aufgebraucht, und Maja verläßt den alternden Architekten mit einem jungen Mann.259 Der Winter ist gekommen, der Tod klopft bei Kilian an: Komm mit, oder finde einen andern, der für dich geht. Kilian sucht vergeblich, schließlich stirbt sein Vater. Im selben Augenblick kommt Kilians Kind zur Welt. Die Generationenfolge ist der einzige Weg, dem Tod zu entkommen! Die Erzählung ist zu Ende und der Lebensbogen gespannt – von der Jugend, dem Frühlingsaufbruch, über den Sommer der Genüsse, den Herbst des beruflichen und gesellschaftlichen Erfolgs bis zum Winter des Sterbens und der Einordnung in die ewige Generationenfolge. Eine Schlußepisode führt zum Anfang zurück. Kilian kehrt, trotz Peking und Maja, zu Rapunzel, der Ehefrau, zurück. Er hat die Rolle nicht in Peking stehen lassen, hat keine »Grenze, die in uns liegt, übersprungen«.260 Er nimmt sein Kind auf das Knie: »Wem es

gleicht? – Am ehesten, so will mich immer wieder dünken, gleicht es Bin, der uns nach Peking führt – Peking, das sich nie erreichen läßt.«261

Biographisch gelesen erweist sich Bin oder Die Reise nach Peking als ein weiterer Versuch Frischs, die Forderungen einer bürgerlichen Existenz mit dem Künstlertraum nach dem erfüllten Leben zu vereinigen. Die Sehnsucht ist nicht zu unterdrücken; immer wieder, gesteht der Ehemann seiner Rapunzel, wird er nach Peking aufbrechen, immer wieder wird ihn eine Maja verlocken, doch stets wird er zum ehelichen Herd zurückkehren. Bürgerliche Verhältnisse vorausgesetzt, bleiben Aufbrüche in ein anderes Leben Seitensprünge, Libertinage und Träumerei. Frisch widmete Bin oder Die Reise nach Peking seiner Frau. Das ist nicht zufällig. Unter biographischem Aspekt ist Bin eine Lebensbeichte, der Versuch, sich und seine Lebensnöte der Ehefrau gleichnishaft zu erzählen.262

Im Unterschied zu den vorangegangenen Versuchen sah Frisch in Bin nicht mehr das Schicksal oder die Natur oder den einsamen Kampf mit sich selbst als Ort der Auseinandersetzung und Bewährung. Zum ersten Mal tritt die Abhängigkeit des Ichs von der Gesellschaft ins Zentrum. Das war ein folgenreicher Perspektivenwechsel. Bin ist allerdings, so Hans Mayer, nicht die Utopie einer Gesellschaft, von der aus die eigene kritisiert werden könnte, Bin sei auch keine »satirische Wiederholung der Tageswirklichkeiten im Bilde ihres Gegensatzes«. Bin sei »eine ›empfindsame Reise‹, elegisch, traumhaft, verspielt, zeitweise auch idyllisch … Aber solche Reisen werden nur unternommen, und Bin stellt sich nur ein, wenn es in den ›bürgerlichen Konditionen‹ nicht mehr weitergehen kann.« Weder für den Dichter namens Kilian, der den Zwang des Brotberufs ohne gelegentliche Reise nach Peking nicht erträgt, noch für den Wehrmann, »der bekanntlich noch weniger als irgendein bürgerlicher Mensch jenseits der Chinesischen Mauer herumreisen dürfte«.263

Und nebenbei, in einer »Pinte am Gassenrand«, entdeckt Frisch in Bin auch ein neues poetisches Programm. »Wenn wir nicht wissen, wie die Dinge des Lebens zusammenhängen, so sagen wir immer: zuerst, dann später. Der Ort im Kalender! Ein anderes wäre natürlich der Ort in unserem Herzen, und dort können Dinge, die Jahrtausende auseinanderliegen, zusammengehören, sich gar am nächsten sein, während vielleicht ein Gestern und Heute … einander nie begegnen … Die Zeit, die unser Erleben nach Stunden erfaßt, sie ist eine ordnende Täuschung unseres Verstandes, ein zwanghaftes Bild, dem durchaus keine seelische Wirklichkeit entspricht.« Und er folgert daraus: »Man müßte erzählen können, so wie man wirklich erlebt.« Denn wer das könnte, »hätte noch vieles zu erzählen, denke ich, fast alles«.264

Bin oder Die Reise nach Peking fand großen Anklang in der Presse. Emil Staiger hat mit dem Blick des Freundes und Kenners die literarischen Qualitäten der Erzählung herausgestellt. Aber Staiger betrachtete den Text nur als poetisches Gleichnis für »etwas schlechthin Gültiges«, als Werk des »wahren und imponierenden Max Frisch«.265 Im Rückblick wird deutlich, daß Frisch in Bin erste Versuche zu einem gesellschaftskritischen Schreiben unternommen hatte, Versuche, die er wenig später in seinen ersten Bühnenwerken weiterführte.

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