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Wilson McVay stand in meinem Zimmer. Er lehnte so entspannt an der Kommode vor dem Fenster, als wäre er hier ein ständiger Gast. Er trug schwere schwarze Stiefel, eine schwarze Jeans mit einem schwarzen Harley-Davidson-Gürtel und ein schwarzes T-Shirt. Sage und ich hockten auf dem unteren Teil des Ausziehbetts. Hinter uns lehnte Ellen von Kissen gestützt an der Wand. Sie war immer noch sehr blass, und um ihren Mund lag ein bläulich-schwarzer Schatten. Uns gegenüber saß Marie im Schneidersitz auf ihrem eigenen Bett, in schwarzem Rock und T-Shirt; von ihrem einen Ohr baumelte ein langer Strassohrring.

Abgesehen von Marie und dem Siouxsie and the Banshees-Poster hinter ihr an der Wand war das Zimmer hauptsächlich in Rosa gehalten. Wilson wirkte darin komplett fehl am Platz. Er war vielleicht neunzehn oder zwanzig, sah aber aus wie ein erwachsener Mann, jemand, der sich täglich rasieren musste. Seine Anwesenheit veränderte unser Zimmer, als hätte etwas Dunkles, Drohendes seinen Schatten mitten in unser Herz geworfen. Ich wollte ihn hier nicht haben.

Sie hörten eine Kassette, die Wilson Marie mitgebracht hatte, und mir wurde klar, dass ihre Verbindung in der Punkmusik lag. Wahrscheinlich hatten sie sich auf einem Konzert kennengelernt. Vielleicht waren sie sogar zusammen hingegangen. Begleitete Wilson sie zu so was? Er sah überhaupt nicht aus wie ein Punker, aber mir war klar, dass diese Musik ihn ansprechen musste, der Zorn darin. Am Berg hörten alle Rock oder Heavy Metal, und ob man Creedence Clearwater oder Black Sabbath lieber mochte, entschied darüber, wer man war und mit wem man seine Zeit verbrachte. Meine Schwester war meines Wissens die Einzige, die auf Punk stand. Bei den anderen Mädchen der Schule galt sie als Freak. Jetzt unterhielt sie sich mit Wilson über Bands, die sie beide kannten oder sogar schon live gesehen hatten und von denen Sage und ich keine Ahnung hatten: Flipper, Killing Joke, The Stickmen. Marie erzählte Wilson, dass sie beim Auftritt einer Band im Keller eines DJs in West Philly gewesen sei und auf die Waschmaschine habe klettern müssen, um überhaupt etwas zu sehen. Sie redeten auch darüber, wie es im Hot Club zuging.

»Kommt man da nicht erst ab einundzwanzig rein?«, fragte ich, aber Marie ignorierte mich. Seit Weihnachten fuhr sie oft in die Stadt, ging in Clubs und sah sich Bands an. Unserer Mutter erzählte sie, sie übernachte bei ihrer Freundin Nancy. Nach allem, was ich wusste, waren die zwei schon seit der Zehnten nicht mehr befreundet. In der Schulcafeteria verzog sich Marie immer ganz hinten ans Fenster, allein mit einem Buch. Nancy saß mit den anderen Mädchen zusammen, die genauso lange fettige Haare hatten wie sie und meistens entweder auf den Boden oder auf Lernkarten für die Uni-Zulassungsprüfung starrten. Soweit ich wusste, hatte Marie an der Schule überhaupt nur eine Freundin gehabt, Rae. Sie hatte letztes Jahr ihren Abschluss gemacht, studierte jetzt am Moore College for Art and Design und hatte ihre eigene Wohnung im Zentrum von Philadelphia.

Im Lauf dieses Jahres hatte Marie ihre Grateful Dead-Batikshirts und die hellen Jeans ausgemistet und sich stattdessen schwarze Second-Hand-Klamotten, Netzstrümpfe, Doc Martens und Strassschmuck zugelegt. Sie fuhr nach Philadelphia, um sich mit Rae zu treffen und mit ihr in der South Street, im Zipperhead und im Keller von Rage Records an der Third Street rumzuhängen, wo es die beste Auswahl an Punkmusik in der ganzen Stadt gab. In den letzten Wochen hatte sie immer wieder die Schule geschwänzt und war, nachdem unsere Mutter uns vor dem Schultor abgesetzt hatte, mit dem Bus nach Philly gefahren. Die Nonnen unternahmen nicht viel dagegen. Sister Benedict hatte sie irgendwann zu sich zitiert, aber ich glaube, sie wollten unsere Mutter einfach nicht noch mehr belasten und kamen ohnehin nicht gut mit ihr zurecht. Außerdem hatte Marie bei der Zulassungsprüfung als Klassenbeste abgeschnitten und bereits eine Zusage der Penn University in der Tasche, inklusive vollem Stipendium.

Gerade erzählte sie Wilson von einer britischen Band, X- Ray Spex, und deren Sängerin, Poly Styrene. Wilson meinte, von denen kenne er »Oh Bondage! Up Yours!«. Sage stieß mich leicht in die Seite. Marie meinte, Poly Styrene habe immer gegen den Materialismus angesungen, aber jetzt habe sie die Band verlassen. Wilson sagte, es sei ja nicht zu vermeiden gewesen, dass sie irgendwann desillusioniert sein würde, sogar vom Punk.

»Wow, ihr zwei seid ja ein munterer Haufen«, sagte Sage. Ich wusste, dass sie solche Gespräche affig fand, und obwohl sie Marie wirklich gernhatte, ließ sie sich von ihrer Punkerinnenpose längst nicht so beeindrucken wie ich. Als Marie sich die Haare schwarz gefärbt und auf einer Seite abrasiert hatte, fand ich sie cool und mutig, weil sie ablehnte, was andere für schön hielten. Sage meinte, das sei auch eine Uniform, nur eben eine andere.

Wilson zog einen Klarsichtbeutel mit Medikamenten aus seiner Hosentasche. Tabletten und Kapseln in allen möglichen Farben und Formen, zartrosa, zartblau und weiß. Auch ein paar kleine rote Pillen.

»Meine Mutter hat quasi ihre eigene Apotheke im Medizinschrank. Die vermisst sie garantiert nicht.« Er griff in die Tüte und fischte eine sehr kleine Tablette heraus, die er auf unsere rosa Kommode legte und mit der Spitze seines Taschenmessers zerteilte. Die eine Hälfte gab er Ellen. »Das ist Diazepam, das Gleiche wie Valium.«

»Bist du auch sicher, dass es die richtige ist? Die fliegen da doch alle durcheinander.« Ich überlegte, ob nicht Krümel von anderen Tabletten, Halluzinogenen vielleicht oder etwas richtig Gefährlichem, an der kleben konnten, die er Ellen gegeben hatte.

»Es ist Diazepam, glaub mir«, sagte er. »Diazepam ist der eigentliche Wirkstoff. Valium ist nur der Markenname.«

»Ach was. Bist du jetzt Experte für Arzneimittel?«, fragte Sage.

»Kann man so sagen«, antwortete er.

Während Ellen ihre halbe Tablette mit Wasser schluckte, schob sich Wilson die andere Hälfte in den Mund. Am liebsten hätte ich Marie angebrüllt, sie solle ihn verdammt noch mal hier rausschaffen, raus aus unserem Zimmer und raus aus unserem Leben. Aber sie sah sich nur das Cover der Kassette an, die er ihr aufgenommen hatte.

Sage beugte sich zu mir und summte leise die Melodie von »Mother’s Little Helper«. Ich überlegte, wie es wohl sein musste, eine Mutter zu haben, die Pillen schluckte. War Wilson deswegen so verkorkst? Oder warf sie die Pillen ein, weil sie diesen verkorksten Sohn hatte? So oder so, ich wollte ihn weghaben.

Marie erzählte Wilson von einem Job, den sie bei Rage Records an der Third Street haben könne. Er ging da auch immer hin.

»Sie zahlen nur den Mindestlohn. Meine Freundin Rae hat eine Wohnung in West Philly und meint, sie kann ein bisschen Hilfe mit der Miete brauchen. Ich wohne dann zwar mehr oder weniger auf dem Wohnzimmersofa, aber es ist ja nur bis August, wenn die Wohnheime aufmachen.«

»Wie?«, fragte ich. »Du ziehst aus?«

»Ja. Ich bleibe doch nicht hier in der Walachei. Ich brauche Arbeit.«

»Du könntest in der Mall arbeiten.«

»Bevor ich in der King of Prussia Plaza anfange, falle ich doch lieber tot um.« Marie warf Sage einen Blick zu. »Nichts für ungut, Sage, aber ich könnte echt nicht noch mal bei Chick-Fil-A jobben. Das wäre, als würde ich mich völlig aufgeben.«

»Glaub mir, es ist bestimmt schlimmer, als du’s in Erinnerung hast.«

»Und was ist mit uns?« Ich fühlte mich, als hätte sie mich geohrfeigt.

»Ich bin nicht eure Mutter, Libby. Ich hatte nie vor, den ganzen Sommer hier zu bleiben.« Marie wurde in drei Wochen achtzehn, und mir war plötzlich klar, dass kein Mensch auch nur versuchen würde, sie vom Weggehen abzuhalten.

»Und sehen wir dich dann noch?«, fragte Ellen.

»Es gibt Züge, Dummerchen«, sagte Marie und warf ein Kissen nach ihr. Ellen zuckte zusammen. »Ach, Scheiße. Entschuldigung. Alles klar?« Ellen nickte.

»Weiß Mom es schon?« Ich konnte nicht fassen, dass Marie uns das einfach so vor Wilson erzählte, als wäre nichts dabei, und ich war wütend auf ihn, weil er mich so verletzt und ungeschützt erlebte.

»Ja. Sie weiß es.« Sie nahm ihren Auszug so locker. Jetzt stand sie auf und setzte sich oben auf das Ausziehbett, neben Ellen. »Du musst jetzt schlafen, Ellen. Aber vorher möchte Wilson dir noch ein paar Fragen stellen.«

»Ich will nicht mehr drüber reden. Bitte.«

»Du musst auch nicht über das reden, was passiert ist. Es geht nur darum, den Typen zu identifizieren.«

»Das hab ich doch alles schon gesagt. Er hatte lange, fast weiße Haare, so lang, dass er drauf sitzen konnte. Blaue Augen. Ach ja, das hab ich noch vergessen. Für einen Mann hatte er richtig lange Fingernägel.« Das Bild, das sie von ihm entwarf, ließ mich unwillkürlich schaudern.

»An beiden? Hatte er an beiden Händen lange Fingernägel?«, fragte Wilson.

Ellen dachte kurz nach. »Nein. Nur an der rechten. An der Hand auf meinem Bein. Nicht an der auf dem Lenkrad. Und er musste sich beim Fahren ein bisschen vorbeugen, als wäre er eigentlich zu groß für den Wagen.« Sie hielt inne. »Mehr fällt mir nicht ein.«

»Und der Wagen?«, fragte Wilson.

»Keine Ahnung. Schwarz. Er sah aus wie der Wagen von Chicken De Martino, aber der hat eine andere Farbe.«

»Chicken fährt einen Camaro«, sagte Wilson. »War es ein Camaro?«

»Weiß ich nicht«, sagte Ellen. »Er war auch innen schwarz.«

»Wie waren die Sitze?«

»Tief, so, als säßen wir fast auf dem Boden.«

»Schalensitze?«, fragte Wilson.

Ellen zuckte die Achseln. Sie gähnte, und ihre Hand wanderte unwillkürlich zu der Verletzung unter ihrem Auge. »Sie hatten so Fellbezüge, wie auf dem Toilettendeckel bei Meredith Hunter zu Hause.«

»Der ist aus Plüsch«, sagte ich.

»Und eklig«, ergänzte Sage.

»Plüsch, ja«, sagte Ellen. »Aber irgendwie flauschiger und dunkel, so ein fast schwarzes Lila.«

»Du hast Libby erzählt, er hätte eine Kassette laufen lassen.« Wilson nahm den Klarsichtbeutel und schob ihn sich wieder in die Hosentasche. »Weißt du, was für eine?«

Ellen blickte einen Moment starr geradeaus. »Er hat die Kassette eingelegt, und als er sich vorgebeugt hat, ist er mit dem Kopf an eine Hasenpfote gestoßen, die am Rückspiegel hing. Die war gelb. In dem Lied ging es darum, wie es als Kind war.« Sie summte vor sich hin, schlug mit der Hand den Takt. »They had a fever

»›Comfortably Numb‹«, sagte Marie. »Pink Floyd. Hast du das auch schon mal bei mir gehört?«

Ellen nickte. »Sonst kann ich mich an nichts mehr erinnern.« Sie klang erschöpft. »Ich glaube, ich möchte jetzt schlafen.«

»Die Kleine ist kaputt«, sagte Sage, »und ich muss nach Hause.« Sie rappelte sich hoch, zog ihre Jeans-Shorts zurecht, beugte sich über Ellen und gab ihr einen Kuss auf den Kopf. »Bis später, Mäuschen. Schlaf dich aus.«

Ellen kuschelte sich in die vielen Kissen. Wir anderen gingen zusammen nach unten und hinaus auf die Einfahrt.

»Ich ruf dich nachher an, Libby«, sagte Sage. Sie ging um unser Haus herum, um die Abkürzung durch den Wald zu nehmen. Wilson, Marie und ich blieben an der Straße stehen. Mr Walker saß mit einem Glas Limonade auf seinem Rasentraktor und schaute herüber. Alle kannten Wilson McVay und wussten, wie er aussah, und jetzt hatte Mr Walker mitgekriegt, wie er aus unserem Haus kam, während unsere Mutter nicht da war. Er sprach eigentlich nie mit unserer Mutter, aber was, wenn er doch auf die Idee kam, sie anzurufen? Ich starrte zurück, bis er den Blick abwandte.

»Warum wollt ihr das alles von ihr wissen?«, fragte ich. »Wollt ihr es der Polizei melden?«

»Nein«, sagte Marie. »Aber jemand muss sich den Kerl zur Brust nehmen. Wilson kennt viele Leute, und wenn er hier aus der Gegend ist, dürfte es nicht allzu schwer sein, einen blonden Riesen mit Haaren bis zum Hintern zu finden, der einen schwarzen Camaro fährt. Irgendwer muss ihn kennen.«

»Gitarre spielt er auch«, sagte Wilson.

»Was?«

»Die Fingernägel an der rechten Hand. Die lässt er lang, zum Zupfen.«

Ich starrte die beiden an. Marie benahm sich, als wäre das alles total normal.

»Haltet ihr euch jetzt für Privatdetektive oder was? Was wollt ihr denn machen, wenn ihr wisst, wer er ist?«

»Ihn bei lebendigem Leib häuten«, sagte Wilson mit unbewegter Stimme. Es fuhr mir wie ein Schock in den Magen. Ich starrte ihn an und musste an den Tag im Sun Bowl denken, als er vorbeigefahren war, während wir auf den Schaukeln saßen. Als er meine Miene sah, musste er lachen. »Entspann dich. Ich will einfach nur wissen, wer der Scheißkerl ist.«

Er ging die Einfahrt entlang und verschwand im Wald, in Richtung des Wegs, den Sage genommen hatte. Ein paar Sekunden später hörten wir, wie ein Motorrad angelassen wurde. Wilson musste durch den Wald gekommen sein und sein Motorrad dort abgestellt haben. Warum hatten Sage und ich ihn nicht gehört, als wir oben im Königreich saßen? Er war mir unangenehm. Alle hielten sich instinktiv von ihm fern. Manche Bäume – allelopathische Bäume, die Echte Walnuss beispielsweise – vergiften alles, was in ihrer Umgebung wächst. Über ihre Wurzeln, die abgefallenen Blätter und die Rinde geben sie eine chemische Substanz ab, die alles Leben ringsum auslöscht. So war für mich auch Wilson, seine Nähe zu uns bedeutete Gift und Gefahr. Wir hatten keine Ahnung, wo er gewesen war. In einem Jugendgefängnis, in der Geschlossenen, in einer Besserungsanstalt? Ich gab ihm immer noch die Schuld an Mr Franklins Tod. Aber konnte man mit einem Luftgewehr wirklich eine Katze töten? Ich war selbst schon häufig mit Luftgewehren beschossen worden. Früher hatten die De Martino-Jungs uns immer aufgelauert, wenn wir auf dem Weg zum Sun Bowl bei ihnen vorbeikamen, und auf uns geschossen. Ich war am Hintern getroffen worden und hatte blaue Flecke davongetragen, aber durch die Haut waren die runden Metallgeschosse nie gegangen. Vielleicht hatte Wilson eine andere Luftdruckwaffe verwendet, vielleicht aber auch eine echte. Marie besaß eine Luftpistole, mit der man Federbolzen abschießen konnte, eine Marksman, damit konnte man eindeutig ein Tier verletzen oder auch töten. Außer mir wusste niemand davon. Sie hatte Dad ewig damit in den Ohren gelegen. Manchmal gingen wir zum Schießen in den Wald, hielten die Marksman ansonsten aber im Schrank in unserem Zimmer versteckt.

»Marie, was ist, wenn Wilson Mr Franklin getötet hat? Warum hängst du mit dem rum?«

»Das ist doch alles nur Gerede. Wenn man ihn besser kennt, ist er gar nicht so schlimm. Er hatte eine beschissene Kindheit.«

»Und?«

»Libby, er hilft uns.«

Wir hörten Wilsons Motorrad wieder aufheulen, als er vom Waldweg auf den Forge Mountain Drive abbog. Er war nur noch ein schwarzer Fleck, als er mit Vollgas oben an der Straße vorbeischoss, das Vorderrad in der Luft.

»Gott, was für ein Arschloch«, brummte ich. »Bitte sag mir, dass du nicht mit ihm auf diesem Ding fährst.«

Marie antwortete nichts darauf, und wir blieben noch ein paar Minuten nebeneinander stehen und sahen zu, wie Mr Walker perfekte Kreise in seinen Rasen mähte.

6

Eine Tür fiel leise ins Schloss. Ich schreckte auf. Im Zimmer war es dunkel. Neben mir lag Ellen und schlief. Sie hatte fast den ganzen Tag geschlafen. Im Bett schräg gegenüber sah ich, wie sich Maries Körper mit ihren Atemzügen sanft hob und senkte. Wieder ein Geräusch auf dem Flur, das Knarren von Bodendielen. Ich beugte mich vor, lauschte angespannt. Ein leises Wimmern. Beatrice. Dann hörte ich die Stimme meiner Mutter: »Sch-sch-sch.« Sie trug Beatrice nach draußen, das machte sie manchmal, dann ging sie mitten in der Nacht mit ihr fort. Sie ließ den Wagen im Dunkeln bis zur Straße rollen, bevor sie den Motor startete. Es war schon schlimm genug, dass Marie heimlich aus dem Fenster kletterte und sich an der Außenmauer hinunterhangelte, aber wenn sich auch unsere Mutter nachts mit der halb schlafenden Beatrice aus dem Haus schlich, gab mir das ein Gefühl, als würde alles ins Rutschen geraten, als würde das Haus kippen und im Boden versinken. Alles entglitt mir, stürzte ab, ich konnte mich an nichts mehr festhalten. Mit weit offenen Augen legte ich mich wieder hin. Als der Wagen auf der Straße war, gingen die Scheinwerfer an, ihr Licht fiel auf die Bäume, Schatten wanderten über unsere Zimmerdecke und an der Wand entlang auf mich zu. Sie fuhren zu Bill.

Ich versuchte, wieder einzuschlafen, bewusst loszulassen, aber dann fuhr ich mit einem Ruck hoch, mitten im Fallen. Nie gelang es mir, einfach sanft zu versinken oder davonzuschweben. Immer fiel ich irgendwo herunter, vom Fahrrad, von einem Baum, vom Dach, und von diesem plötzlichen Sturz wurde ich schlagartig wach, noch vor dem Aufprall, und blieb mit dem Gefühl zurück, dass die Erschütterung dort unten weiter auf mich wartete. Ich versuchte es mit Schäfchenzählen, malte mir einen beruhigenden Ort aus, einen Wald, in dem ich durch das Blätterdach zum Himmel schaute. Aber jetzt nahm auf einmal der Barbie-Mann über mir Gestalt an, sein ausdrucksloses Gesicht, das glatte Haar. Keuchend und schweißgebadet saß ich im Bett. Wir hätten es unserer Mutter erzählen sollen. Sie hätte uns doch nie mitten in der Nacht allein gelassen, wenn sie gewusst hätte, was Ellen passiert war. Nicht mal für Bill.

Niemand von uns kannte Bill. Nur Beatrice. »Darum hat auch Beatrice die Kammer und nicht ich«, hatte Marie gesagt. »Damit Mom sich mit ihr aus dem Haus schleichen kann, ohne dass wir alle wach werden.«

»Aber Beatrice mag das doch gar nicht. Das hat sie mir tausend Mal erzählt.«

»Na und?«, gab Marie zurück. »Mom benutzt sie halt. Mit Beatrice setzt sie Bill schachmatt.«

Ich stellte mir Beatrice als Schachfigur vor, die von Erwachsenenhänden bewegt wurde: ihre wirren Locken, die Sommersprossen auf ihrer Nase, ihre runden rosigen Wangen und die Zahnlücke, wie sie immer versuchte, es allen recht zu machen, und in einem Spiel hin- und hergeschoben wurde, dessen Regeln sie nicht kannte.

Marie drückte sich manchmal sehr drastisch aus. Sie sagte, sie könne die Dinge aus nüchterner Distanz betrachten, weil sie aufgehört habe, unsere Mutter zu mögen.

»Jetzt schau nicht so entsetzt, Libby. Das heißt ja nicht, dass ich sie nicht mehr lieb habe. Aber dafür muss ich sie doch nicht auch noch mögen, scheiße noch mal.«

Ich weiß nicht mehr, wann ich das erste Mal von Bills Existenz erfahren habe. Erst gab es ihn nicht. Dann war er da. Er war das leise Atmen am anderen Ende der Leitung, ein Schweigen erst, dann eine mir unbekannte Stimme: »Ist deine Mutter zu sprechen?« Mom hatte nie bestritten, dass es ihn gab, und auch nicht, dass er vielleicht Beatrices Vater war. Wahrscheinlich hatten Marie und Thomas mir das alles erklärt. Das weiß ich nicht mehr. Ich wusste nur, dass ich mit niemandem darüber sprechen durfte, vor allem nicht mit Dad, obwohl ich mich nicht erinnern kann, dass irgendwer es mir verboten hätte.

Zu Hause machten wir uns vor unserer Mutter über Bill lustig. Wir schrieben ihm alle möglichen Berufe zu: LKWFahrer, Klempner, Milchmann, Vertreter für alles von der Bibel bis zum Steakmesser. Wir schnappten uns Thomas’ Walkie-Talkies und spielten »Bill«, wann immer unsere Mutter in Hörweite war.

»Breaker, Breaker 10-4, hier spricht Fettkloß Bill. Verstehen Sie meinen Codenamen? Ich bin so verdammt fett, ich schaffe es nicht mal mehr aus meinem Laster, um meine Tochter zu sehen.«

»Roger, Fettkloß Bill. Sie sind echt potthässlich. Und wie ich höre, auch als Vater eine Niete.«

Dafür benutzten wir einen echten Hinterwäldlerakzent. Beatrice sah uns zu und lachte mit, als würde sie gar nicht merken, dass wir uns über ihren Vater lustig machten. Wenn wir im Dunkeln an einem Laden mit blinkendem Neonschild vorbeifuhren, in dem der Name Bill vorkam, riefen wir alle: »Ist er das? Ist das Bill?« Egal, ob es sich um Bill’s Carpets, Uncle Bill’s Pancake House oder Whiskey Bill’s Bar and Grill handelte. Einmal sahen wir ein Plakat, das für einen Bill Bowie als künftigen Sheriff warb. Wir wollten von unserer Mutter wissen: »Ist er das? Will Bill jetzt Sheriff werden?« Sie gab keine Antwort, und wir deuteten ihr Schweigen als Zeichen. Daraufhin fingen wir an, für seinen Gegner zu trommeln, wir entwarfen Plakate und Slogans für ihn, marschierten vor ihrer Zimmertür auf und feuerten den anderen Mann an. Beatrice machte mit. Sie wusste nicht, ob der Bill, den sie kannte, als Sheriff kandidierte, wollte aber trotzdem nicht, dass er gewann.

Meistens schenkte Mom uns keine weitere Beachtung. Manchmal lachte sie über unsere Rateversuche, wenn wir wieder mit einem neuen Bill-Szenario ankamen, zum Beispiel, als Thomas spekulierte, Bill sei vielleicht der Mann, der bei McDonald’s unsere Bestellung entgegengenommen habe. Ihm war sein Namensschild aufgefallen: William.

Inzwischen spekulierten wir aber kaum noch über Bill, vor allem nicht vor unserer Mutter. Sie wirkte zu erschöpft dafür. Ich erwähnte Bills Namen so selten wie möglich, nicht einmal mehr vor den anderen, weil ich das Gefühl nicht loswurde, Dad zu hintergehen, wenn ich darüber nachdachte oder es als gegeben hinnahm. Er hatte gewusst, dass Beatrice nicht seine Tochter war, dass sie gar nicht seine Tochter sein konnte, trotzdem hatte er sich immer so verhalten, als könne sie nur von ihm sein. Mir war klar, dass er nie auf die Idee gekommen war, wir könnten Bescheid wissen. Es jetzt, wo er tot war, laut auszusprechen, grenzte an Verrat.

»Ich habe fünf Sprösslinge«, hatte er immer gesagt. »Vier starke Frauen und einen kleinen Mann.« Und wir wurden bei seinen stolzen Worten immer ein Stückchen größer, ob er sie nun vor einer Kellnerin im Diner äußerte, vor einem Kunden, dessen Rasen er mähte, oder vor einem anderen Gast, der in einem der irischen Pubs, in die er uns manchmal mitnahm, sein Bier trank.

Marie und Thomas meinten, schon lange bevor Bill auf der Bildfläche erschien, sei es zwischen Mom und Dad nicht mehr gut gelaufen, sie hätten sich längst getrennt und ich läge falsch, wenn ich das, was mit Dad passiert war, mit Bill in Verbindung brachte. Dad bewahrte einen Teil seiner Gerätschaften noch in unserer Garage auf, und es kam vor, dass er uns morgens abholte, um uns zur Schule zu fahren, aber er übernachtete nicht mehr bei uns. Manchmal wusch er sich in der Waschküche neben der Garage, vor allem, wenn Mom nicht zu Hause war. Hinter dem Fahrersitz seines Pickups lag immer ein Stück in Papier gewickelte Seife bereit. Er verwendete grundsätzlich die Marke Coast, sie war hellblau und roch wie er. Wir verwendeten parfümfreie Seife von Dove. Manchmal kam ich abends wieder ins Haus, nachdem ich mich irgendwo auf dem Berg herumgetrieben hatte, und in der Waschküche roch es nach seiner Seife.

Damals zog er viel herum, und ich weiß gar nicht, ob er eine feste Wohnung hatte oder einen Ort, an den er regelmäßig zurückkehrte. Er hatte sich ein Zeltdach für seinen Pickup besorgt, und wenn wir morgens auf die Ladefläche kletterten, um uns zur Schule fahren zu lassen, war die Schaumstoffmatratze noch ausgerollt. Er habe das Zelt gekauft, damit wir auf der offenen Ladefläche nicht nass und vom Wind zerzaust würden, sagte er. Inzwischen war ich mir da nicht mehr so sicher. Es fiel mir schwer, es auch nur auszusprechen, Marie oder Thomas zu fragen: »Glaubst du, er hat öfter im Pickup übernachtet?«

Unsere Mutter sorgte dafür, dass Beatrice immer in ihrer Nähe war und hielt sie so auch ein bisschen von uns fern. Beatrice war nie mitgekommen, wenn Dad uns auf die Ladefläche des Pickups packte und mit uns zu Burger King fuhr, wo es riesige Milkshakes gab, oder ins Diner, wo wir alle Kaffee tranken und ohne Aufpreis nachgeschenkt bekamen. Sie war auch noch zu klein gewesen, um ihm bei der Arbeit zu helfen. Das eine Mal, als wir nach New York gefahren waren, wo er ein neues Leben anfangen wollte, und bei ihm übernachtet hatten, hätte Beatrice eigentlich dabei sein sollen, aber uns war klar gewesen, dass unsere Mutter das nie zulassen würde.

Beatrice wurde anders behandelt, aber wir nahmen es ihr nicht übel. Wir beneideten sie nicht darum, mit unserer Mutter in einem Zimmer zu hocken oder aus dem Bett geholt zu werden, um zu einem Mann zu fahren, den wir anderen gar nicht kannten und den ich wider besseres Wissen für alles verantwortlich machte, was passiert war. Wenn Beatrice von den Besuchen bei Bill zurückkehrte, war sie immer sehr still. Sogar noch, wenn wir ihr ein Eis spendierten.

»Ich mag seine Hände nicht«, hatte sie mir eines Nachts ins Ohr geflüstert, als wir zusammen im Bett lagen.

»Wessen Hände?«

»Die von Bill.«

»Und warum nicht?« Ich fand es verstörend, dass sie das sagte. Sie war mitten in der Nacht zu mir ins Bett gekrochen, das machte sie hin und wieder, dann kletterte sie über Ellen hinweg, die auf der unteren Betthälfte schlief. Jetzt lag sie da, eingekuschelt und zu mir gedreht. Sie hatte die Angewohnheit, sich dicke Haarsträhnen um den Finger zu wickeln. Wir zogen sie immer damit auf, dass ihre Locken eigentlich daher kamen. Manchmal, wenn ich neben ihr lag, machte sie das unwillkürlich auch mit meinen Haaren. Marie meinte, an den Ticks, die Beatrice entwickelte, könne man sehen, wie belastet sie sei.

»An einer Hand fehlt ihm vorne an den Fingern ein Stück. Die sind einfach nur ganz dick und rund an den Knöcheln.«

»Oh.« Ich schwieg. Ich wollte nicht zu viel fragen, weil Beatrice sich immer gleich aufregte, wenn wir sie nach diesen Besuchen ausquetschten. Marie meinte, es sei doch das Letzte, dass Mom einem Kind ein solches Geheimnis aufbürdete, ihr verbot, mit ihren Geschwistern darüber zu reden, und sie mitten in der Nacht zu jemandem schleppte, den sie gar nicht sehen wollte. Nach Dads Tod hatte Mom sich ein gutes halbes Jahr nicht mehr mit Bill getroffen. Er rief nicht mehr bei uns an, und sie schlich sich auch nicht mehr davon. Aber gleichzeitig war es, als gäbe es sie gar nicht mehr. Marie und Thomas kochten für uns, und Mom lag entweder im Bett oder war bei ihrer Schicht im Krankenhaus, monatelang tat sie nichts anderes als schlafen, arbeiten und wieder schlafen. Ihre Augen waren rot verschwollen. Trauer ist anstrengend, hatte Gwen gesagt, die Therapeutin, zu der wir dann doch nicht gegangen waren. Ich hätte sie gern verbessert. Sie sah das falsch. Unsere Mutter hatte sich von unserem Vater scheiden lassen. Sie hatte sich für jemand anderen entschieden, den sie vor uns geheim hielt. Auch wenn es ihr inzwischen besser ging und Bill ganz offensichtlich wieder aktuell war, schien es doch, als könnte sie uns, ihren vier älteren Kindern, nicht mehr in die Augen sehen.

Ich überlegte, ob wir irgendwelche Männer kannten, denen Teile der Finger fehlten. Wir vermuteten, dass Bill nicht am Berg wohnte, weil Beatrice erzählt hatte, sie würden meistens denselben Weg fahren, den wir nahmen, wenn wir mit Thomas zum Schwimmen gingen: vorbei am Restaurant Guernsey Cow, am Clogs- und am Dekoladen und dann weiter auf dieser Straße, vorbei an den Leuten mit dem Pferdewagen, sprich: die Route 30 entlang, durch die Pennsylvania-Dutch-Region, Richtung Wilmington im Bundesstaat Delaware.

»Vielleicht gehört Bill ja zu den Amischen«, witzelte Thomas, und Marie musste so lachen, dass ihr die Milch, die sie gerade trank, aus der Nase lief. Ich hatte immer noch die Befürchtung, Bill könnte ein Bekannter von uns sein, womöglich war ich sogar einmal nett zu ihm gewesen, weil ich nicht wusste, wer er war. Marie meinte, der einzig denkbare Grund, warum unsere Mutter ihn immer noch geheim hielt, sei, dass er verheiratet sein müsse.

»Weißt du, was mit seinen Fingern passiert ist?«, fragte ich Beatrice. Ich dachte mir, zu wissen, wie er sie verloren hatte, könnte vielleicht ein Hinweis auf seinen Beruf sein. Sie lag neben mir im Dunkeln, drehte sich Löckchen in die Haare und sah zur Zimmerdecke hinauf.

Ich musste wohl doch eingeschlafen sein, denn ich hörte sie nicht nach Hause kommen. Am nächsten Morgen war Mom bereits mit Thomas zum Schwimmen gefahren. Die anderen waren unten – Ellen mit Beatrice auf dem Sofa, sie lang ausgestreckt, die Füße fast an Beatrice, die im Schneidersitz dasaß und ein Buch von Judy Blume las. Wir hatten Beatrice erzählt, Ellen sei auf ihrem Heimweg in der Dunkelheit hingefallen, weil sie durch den Wald gegangen sei, um schneller nach Hause zu kommen. Wir hatten ihr auch erklärt, dass Mom nichts davon erfahren dürfe, sie würde sonst sauer werden, weil Ellen durch den Wald gelaufen war. Beatrice hatte Stillschweigen gelobt. Thomas hatten wir dieselbe Geschichte erzählt. Ellen trug ein langärmeliges Tweety-Nachthemd, das die meisten ihrer Verletzungen verdeckte, bis auf die im Gesicht. Unsere Mutter hatte sie bisher noch nicht gesehen, aber falls sie nach den Schürfwunden fragen sollte, war unsere Geschichte hieb- und stichfest. Marie lag auf dem Sitzsack und las. Ellen triezte Beatrice.

»Wie war’s denn gestern? Wart ihr bei Bill?« Ihr Gesicht war kreidebleich, die Platzwunde unter dem Auge hatte sich schwarz verfärbt.

Beatrice las einfach weiter.

»Wie sieht er denn aus? So wie du?« Ellen wollte absichtlich gemein sein.

»Nein. Er ist groß und breit«, sagte Beatrice.

»Und was fährt er für ein Auto? Fahrt ihr manchmal mit seinem Auto irgendwohin?«

»Das habe ich dir schon hundert Mal erzählt. Er hat einen Pickup.«

»Trägt er einen Anzug, so wie Mr Walker, wenn er zur Arbeit geht, oder zieht er sich an wie der Klempner?«

»Er trägt Hemden mit ganz vielen Vierecken.«

»Kariert? So wie ein Cowboy?«, wollte Ellen wissen.

Beatrice zuckte die Achseln.

»Und wo wart ihr gestern Abend?«

»Du weißt doch, ich soll euch nicht erzählen, dass ich ihn gesehen habe. Wir haben in einem Lokal gesessen und was gegessen, und danach waren wir noch draußen auf dem Parkplatz.« Sie zog die Beine enger an den Körper.

»Herrgott, Ellen, lass sie in Ruhe«, sagte ich. »Solltest du dich nicht lieber ausruhen?« Ellen sah aus, als würde sie gleich losheulen.

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22 декабря 2023
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