Читать книгу: «Licht zwischen den Bäumen», страница 2

Шрифт:

Bei der zweiten Sitzung rief Gwen uns alle in einem Zimmer zusammen, und wir saßen in einem Kreis aus gemütlichen Sesseln. Ich schaute von Gwen zu meiner Mutter, und mir war klar, dass das hier nichts bringen würde. Gwen mit ihren langen Ohrringen und dem himmelblauen Lidschatten, dem goldenen Fußkettchen um den sonnengebräunten Knöchel. Meine Mutter mit ihrer reinen, blassen Haut, das Haar zum Knoten gezurrt, nicht die leiseste Spur von Leichtsinn. Sie schminkte sich nicht, gab praktisch nie auch nur einen Penny für sich selbst aus. Gwen wollte, dass sie über Dad redete, wie es vor der Trennung mit ihm gewesen war, was genau passiert war. Jemand von uns hatte etwas gesagt. War wirklich nur ich das gewesen? Ich spürte einen Schmerz in der Brust. Aber Mom ließ sich nicht erweichen, ihre Miene war entschlossen. Sie wollte nicht schlecht über unseren Vater reden. Sie würde nichts ausplaudern. An der Wand hing ein Poster von Holly Hobbie in ihrem Flickenkleid, mit der absurd großen Mütze, der Blume, an der sie immer schnupperte. Ihr Gesicht war nicht zu erkennen. Wir musterten die Wände, den grünen Büroteppichboden, die Tweedpolster der Sessel, in denen wir saßen, alles, nur damit wir einander nicht ansehen mussten. Moms Loyalität zu unserem Vater tat mir weh. Ich selbst hatte sie immer und immer wieder verraten, zuletzt gegenüber Gwen, einer Wildfremden, die für ihre Notizen auf dem Klemmbrett einen Bleistift mit Trollhaaren und aufgeklebten Kulleraugen verwendete. Marie zog die Augenbrauen hoch, als sie sie damit schreiben sah. Mit uns würde Gwen nicht weit kommen.

Hinterher beschloss unsere Mutter, solche Beratungen seien sinnlos und sie könne Gwen mit ihrer herablassend süßen Stimme nicht ertragen. »Wir brauchen einfach Zeit«, sagte sie. Und wir gingen nie wieder hin.

Marie nahm ihren weißen Puder und verteilte ihn auf Wangen und Stirn. Ich sah ihr kurz dabei zu. Wir hatten ganz unterschiedliche Gesichter. In der Schule konnte keiner glauben, dass wir Schwestern waren. Marie war zierlich, wie Ellen, und hatte ein zartes Gesicht. Meines war breiter, flacher. Marie war hübsch und lebhaft, während Sage von mir sagte, ich wirke irgendwie »ätherisch«, als sei ich ständig mit den Gedanken woanders. Meine Augen waren blau, aber heller als die von Marie, von allen Geschwistern waren sie denen unserer Mutter am ähnlichsten, und während die anderen alle hellbraunes oder blondes Haar hatten, waren außer den Brauen und Wimpern bei mir auch die Haare ganz dunkel. Hippie-Haare, wie Marie immer sagte. Sie hingen einfach glatt zu beiden Seiten meines Gesichts herunter, bis zur Taille. Formlos im Vergleich zu Maries Punkfrisur oder Sages Stufenschnitt, aber mir fiel auch nicht ein, wie ich sie hätte schneiden lassen sollen. Die meisten Mädchen in meiner Klasse hatten jetzt eine Dorothy-Hamill-Frisur, aber ich glaubte nicht, dass mir so etwas stehen würde. Ich hatte eine Lücke zwischen den Vorderzähnen, also lächelte ich nur mit geschlossenem Mund. Marie trug lila Lippenstift auf, so dunkel, dass er fast schwarz aussah.

»Ich muss zum Babysitten. Rufst du mich bei den Bouchers an, wenn sie wieder da ist?«

»Klar.« Im Spiegel sah sie zu mir hin. Mir war nicht ganz klar, warum sie sich ihr Punk-Gesicht malte, obwohl sie gar nicht mehr raus wollte.

Ich ging runter in die Küche und machte den Kühlschrank auf. Er war praktisch leer. Unsere Mutter bewahrte das Brot immer im Gemüsefach auf, damit es nicht alt wurde. Ich nahm mir eine Scheibe und verteilte ein Stück Butter darauf. Das Brot war so kalt, dass ich es kaum kauen konnte. Kurz fürchtete ich, mir würde schlecht werden. »Die Sorgenvolle«, hatte Gwen mich genannt. Das stimmte. Ich machte mir ständig und wegen allem Sorgen. Wenn die anderen über den Zaun zum Schwimmclub kletterten, um nackt zu baden, blieb ich draußen und hielt auf der Straße nach der Polizei Ausschau, falls jemand versehentlich den Alarm auslöste oder ein Nachbar sie meldete. Wenn Marie abends heimlich aus dem Fenster kletterte, konnte ich nicht einschlafen, bis sie wieder da war, stellte mir all die vielen schrecklichen Dinge vor, die ihr zustoßen könnten, horchte nach den Schritten unserer Mutter draußen auf dem Flur. So war ich schon vor Dads Tod gewesen. Einmal hatte unsere Mutter uns allen Poster gekauft. Meines zeigte ein Löwenjunges, das mit weit offenem Maul heulte, und darunter stand: Mach dir keine Sorgen. Die Welt ist auch so schon traurig genug.

Für Marie hatte sie ein Poster gekauft, auf dem Comictiere Musikinstrumente spielten, und der Spruch dazu lautete: Der Zauber der Musik zähmt selbst das wilde Tier.

Auf dem von Ellen stand: Freu dich, du bist nicht wie die anderen.

Ich warf das Brot in den Müll. Ich brachte es einfach nicht runter.

Im Wohnzimmer war Beatrice dabei, auf dem Sofa Wäsche zusammenzulegen, während Thomas staubsaugte. Sie hatten die Arbeiten übernommen, die eigentlich Ellen erledigen sollte. Beatrice war sieben, fünf Jahre jünger als Ellen und sieben Jahre jünger als ich. Und Ellen hatte recht, unsere Mutter verwöhnte sie, das machten wir im Grunde alle, aber trotzdem war sie kein nerviges Kind und stand nicht gern im Mittelpunkt. Ich setzte mich neben sie auf das Sofa und faltete ein Schuloberteil.

»Ich weiß gar nicht, warum Ellen so sauer auf mich war.« Beatrice sah mich an. In ihrem Mund klaffte eine Lücke, wo ihr zwei Milchzähne ausgefallen waren. Ihr lockiges Haar war dicht hinter den Ohren zu zwei dicken Zöpfen gebunden.

»Sie war nicht sauer auf dich. Du kannst nichts dafür, Bea.«

»Und wenn sie sich jetzt verläuft oder von einem Auto angefahren wird?«

»Ihr wird schon nichts passieren. Wir sind es doch alle gewohnt, im Dunkeln über den Berg zu laufen. Sie kennt die Straßen. Hilf Marie, nach ihr Ausschau zu halten, ja?« Beatrice nickte.

Thomas rief über den Staubsaugerlärm hinweg: »Was ist denn das für eine Arbeitsmoral? Weiterfalten, aber dalli! Links, zwo, drei, vier!« Sofort strahlte Bea wieder und rollte ein paar Socken zusammen.

»Ich muss los. Ruft mich auf jeden Fall bei den Bouchers an, wenn sie wieder da ist.« Ich ging noch einmal die Treppe hoch, um unserer Mutter Bescheid zu sagen. Ihre Zimmertür war abgeschlossen. Ich klopfte. »Ich bin dann jetzt weg, Mom.« Sie reagierte nicht.

Im Flur kam mir Marie entgegen, die nach unten wollte. »Lass sie besser in Ruhe.«

»Ich sage ihr ja nur, dass ich jetzt gehe.« Am liebsten hätte ich mit voller Kraft gegen die Tür getreten. Ich ging zurück in unser leeres Zimmer und nahm mir Ellens Mappe, sah die Blätter durch und suchte die mit den grünen Kreisen: das schemenhafte Selbstportrait, die Familie ohne Eltern, ein paar Skizzen zu einem Hirsch, nur Kopf und Geweih, alle mit Bleistift gezeichnet, in unterschiedlichen Graustufen. Das waren keine süßen Kinderzeichnungen; sie wirkten nüchtern, abgeklärt und traurig. Mir war klar, dass Ellen in ihrer Klasse die absolute Ausnahme sein musste. Ich nahm den Brief, die Broschüre, das Empfehlungsschreiben und die Blätter. Mom musste das wissen. Ich ging zurück zu ihrem Zimmer, kniete mich auf den Teppich und schob alles einzeln unter ihrer Tür durch. Dann brach ich auf.

Unser Haus am Berg hatte mehrere Ebenen. Insgesamt waren es vier, mit kurzen Treppen von jeweils fünf Stufen dazwischen. Es gab vier Schlafräume. Das Zimmer unserer Mutter, Beas Kammer und das Zimmer, das ich mir mit Ellen und Marie teilte, lagen auf derselben Ebene. Beas Zimmer war wirklich klein und grenzte direkt an das unserer Mutter. Thomas hatte ein großes Zimmer ganz oben. Ich liebte dieses Haus und den Wald ringsherum. Wir waren kurz nach Ellens Geburt an den Berg gezogen. Vorher hatten wir in Ardmore gewohnt. Ich glaube, unser Vater hat sich am Berg nie richtig wohl gefühlt. Er war nicht wie die anderen Väter dort. Das lag nicht nur an seiner Arbeit; er war schon nach dem fünften Schuljahr, das unserer amerikanischen fünften Klasse entsprach, von der Schule abgegangen. In Irland, erzählte er uns, war das für Kinder, die auf Bauernhöfen aufwuchsen, ganz normal gewesen. Sie mussten mitarbeiten. Und mein Vater arbeitete härter als jeder andere Mensch, den ich kannte. Er war nur offenbar nicht in der Lage, Geld zurückzulegen.

Vor Beatrices Geburt hatten unsere Eltern eine Mal-zusammen-und-mal-getrennt-Phase durchlaufen, aber als sie zur Welt kam, war er schon ausgezogen. Danach sahen wir ihn nicht mehr so oft, aber ich half ihm noch immer beim Rasenmähen und Laubrechen. Er blieb in der Gegend um Philadelphia und hatte wechselnde Wohnsitze, aber es hielt ihn nirgendwo lange. Dann bot ihm ein entfernter Verwandter Arbeit und Unterkunft in der Bronx an, wo er eine Firma für Garten- und Landschaftsbau betrieb. Ein einziges Mal hatten wir ihn dort besucht – Marie, Thomas, Ellen und ich. Wir waren an der 30th Street Station, dem Zentralbahnhof, in Philadelphia in den Zug gestiegen, und er hatte uns an der Penn Station in Manhattan abgeholt. Er stand oben an der Rolltreppe, als wir vom Bahnsteig hinauffuhren. Nach der Arbeit hatte er geduscht und ein Hemd und eine Krawatte angezogen, ganz altmodisch, so wie er es auch, als er noch bei uns wohnte, immer gemacht hatte, wenn wir irgendwohin gingen. Nie sah man ihn in Freizeitkleidung wie die Väter meiner Freundinnen. Er besaß keine Jeans, keine leichten Hosen oder Shorts. Nicht einmal Turnschuhe, die auch einfach nicht zu ihm gepasst hätten. Er trug klassische weiße T-Shirts, aber nichts mit Aufdruck und beim Rasenmähen Arbeitshosen. Sein lockiges Haar war immer zurückgekämmt und seitlich gescheitelt.

»Dad ist halt Fünfzigerjahre«, sagte Marie immer voller Stolz. Sie meinte, es sei doch komisch, dass erwachsene Männer in den USA sich inzwischen anzögen wie kleine Jungs, sie besäßen überhaupt keine Eleganz mehr.

Wir fuhren mit der U-Bahn bis nach Woodlawn in der Bronx, wo er jetzt wohnte. Die Häuser standen dicht beieinander, mit Maschendrahtzäunen dazwischen. Straßen und Höfe wirkten nackt. Es gab keine Bäume, nur ein paar versprengte, kümmerliche Sträucher, und mir kam es seltsam vor, dass mein Vater an einem Ort so ganz ohne Blätter lebte. Vor den Häusern, in deren Gärten wir ihm bei der Arbeit geholfen hatten, lag das Laub manchmal so hoch, dass es mir bis zur Taille reichte, wenn ich hindurchwatete. Dann schaltete Dad den Laubbläser ein, und die Blätter wirbelten um uns herum auf und fielen wieder herab. In der Bronx hatte er eine möblierte Einraumwohnung gemietet, wie er es nannte, ein Zimmer, das an ein anderes Haus grenzte, aber seinen eigenen Eingang hatte. Unter dem Fenster war eine kleine Küchenzeile. Auf einem Elektroherd mit zwei Kochplatten bereitete er zum Abendessen Steak mit Kartoffelbrei für uns zu. Es gab ein winziges Bad mit Dusche und ein Sofa, das ihm auch als Bett diente. Er holte den Schaumstoff, den er hinter dem Fahrersitz seines Pickups lagerte, und rollte ihn auf dem Boden aus, und so verbrachten wir die Nacht, wir vier und er, zusammen in diesem einen Zimmer in der Bronx. Er hatte extra für unseren Besuch neue Teller und neues Besteck gekauft, damit wir zu fünft essen konnten. Bis heute denke ich beim Einschlafen noch manchmal an diese Nacht. Wir alle zusammen, wie wir dort im Dunkeln lagen und redeten, gemeinsam atmeten, in diesem einen Zimmer.

3

Ich trat in die Dunkelheit hinaus. Dort, wo die Rasenflächen an den Wald grenzten, schimmerten die Leuchtkäfer. Die Nachtluft war warm und fühlte sich nach Sommer an. Die Bouchers wohnten auf der anderen Seite des Bergs; zu Fuß etwa zwanzig Minuten. Auf dem Weg musste ich am Haus der Addisons vorbei, dem »Manson-Haus«. Die Addisons waren aus Kalifornien an den Berg gezogen und wohnten eine Straße weiter oben als wir. Kurz nach ihrem Einzug fingen die Leute an zu reden. Es hieß, Mr Addisons Firma habe in Kalifornien Mammutbäume gefällt, deren Holz dann nie verarbeitet und irgendwann im Pazifik versenkt worden sei, und sein Name stehe ganz oben auf der »Todesliste«, die Charles Manson im Gefängnis geschrieben hatte. Ein paar Jahre zuvor hatte ein Mitglied der Manson-Familie versucht, Präsident Ford zu töten, um die Mammutbäume Kaliforniens zu retten. Niemand konnte sagen, ob an den Gerüchten um Mr Addison etwas dran war. Marie besaß eine Ausgabe von Helter Skelter, und ich hatte sie gelesen. In der Mitte gab es einen Bildteil mit Fotos. Ich betrachtete sie aufmerksam, versuchte, die Gesichter der jungen Frauen zu entschlüsseln, die sich Mansons Gruppe angeschlossen hatten, prägte sie mir ein, für den Fall, dass mir jemals eine von ihnen hier begegnete. Noch immer ging ich automatisch schneller, sobald ich einen VW-Bus sah.

Das Haus der Addisons lag tief im Wald. Je näher ich ihm kam, desto langsamer wurde ich, machte mich zum Sprint bereit. Die Außenbeleuchtung war mit einer Art Sensor ausgestattet und wenn nachts jemand vorbeiging, schaltete sie sich ein und tauchte das Haus und den umliegenden Wald in gleißendes Licht. Ich wechselte die Straßenseite, um sie nicht auszulösen, und ungefähr fünf Meter vor dem Grundstück rannte ich los, lief, so schnell ich konnte, gut hundert Meter weit, und dabei malte ich mir die Mörderinnen aus, die im Wald lauerten. Ich schaute über die Schulter zurück, um zu sehen, ob ich irgendwie verfolgt wurde. Oben an der High Point Road gab es eine Abkürzung direkt durch den Wald, die am Wasserturm vorbeiführte und zum Horseshoe Trail gehörte. Es war dunkel, aber ich kannte den Weg. Ich war schon so oft hier entlang gerannt. Gelbe Rechtecke, die an die Baumstämme gemalt waren, kennzeichneten den Wanderweg und leuchteten im Dunkeln kurz auf, wenn ein Splitter Mondlicht darauf fiel. Ich fand diese Markierungen immer sehr beruhigend; wie in einem Märchen zeigten sie mir, dass ich noch auf dem richtigen Weg war. Aber heute schwappte eine Welle der Panik über mich hinweg. Wie weit war Ellen wohl gelaufen?

Vor mir öffnete sich der Weg auf eine kiesbestreute Lichtung mit zwei Türmen. Der eine war ein riesiger Wasserturm aus Metall, ein massiges graues Gebilde, umringt von Eichen und Ahornbäumen. An manchen Tagen, wenn die Sonne am späten Nachmittag schon tiefer stand als das Blätterdach, warfen die Bäume perfekte Schatten auf die glatte Oberfläche, und der Turm schien fast ein Teil des Waldes zu werden. Der andere Turm war höher, ein bloßes Gerüst aus sich kreuzenden Metallteilen. Er sah aus, als würde er sich jeden Moment bewegen, seine Glieder ausstrecken und alle menschlichen Eindringlinge zerquetschen. Wir vermuteten, dass er irgendwie mit Strom zu tun hatte. Beide Türme waren von einem hohen Zaun umgeben, an dem oben in einem Winkel Reihen von Stacheldraht gespannt waren. Vergebens: Die Jugendlichen kletterten trotzdem darüber, sprangen dann hoch an die unterste Sprosse der Steigleiter des Wasserturms und zogen sich hinauf, um ihn zu erklimmen. Vor dem anderen Turm, der womöglich unter Strom stand, fürchteten sich alle.

Von der anderen Seite der Lichtung hörte ich Stimmen und Gelächter, wahrscheinlich ein paar Jugendliche aus Phoenixville, die dort herumhingen, kifften und Bier tranken. An beiden Türmen blinkten rote Lichter, als Warnung für den Flugverkehr oder auch als Signal an andere Außerirdische.

Letzten Winter waren Thomas und ich mit Jack Griffith hier oben gewesen, Thomas’ ältestem Freund am Berg. Seit Dads Beerdigung hatten wir ihn nicht oft zu Gesicht bekommen. Thomas ging kaum noch aus dem Haus, rief niemanden mehr zurück. Es war ein, zwei Tage nach Neujahr, in der Abenddämmerung; wir hatten noch Weihnachtsferien, und es schneite. Marie, Thomas und ich waren draußen und versuchten die Einfahrt freizuschippen, als Jack in einem kleinen Nissan Datsun herangerumpelt kam. Er habe jetzt den Führerschein, sagte er, und habe sich gedacht, Thomas und er könnten ein bisschen in der Gegend rumfahren, bevor die Schneepflüge kämen. Marie sagte zu Thomas, er solle ruhig mitfahren. Bevor sie in den Wagen stiegen, drehte Jack sich zu mir um und fragte, ob ich auch mitwolle, und ohne groß nachzudenken, sagte ich ja und kletterte auf den Rücksitz.

Wir fuhren durch tiefen Schnee. Die Straßen waren leer, nirgends waren Reifenspuren zu sehen; nur die Bäume legten den Verlauf der Fahrbahn fest. Es war dunkel, und wir fuhren, geborgen in Jacks Datsun, über den Berg, während es um uns herum weiterschneite. Im Radio lief »The Logical Song« von Supertramp, und wir versuchten, die Horseshoe Trail Road hinaufzukommen, aber die Räder drehten durch, der Wagen rutschte immer wieder zurück. Jack bekam ihn nicht weiter die Straße hinauf, also hielt er an, wir stiegen aus und stapften zu Fuß hoch bis zum Wasserturm, um zu sehen, wie es dort, ganz oben auf dem Berg aussah, wenn alles weiß war. Zu dritt standen wir in der abendlichen Schneestille, mit kalten Gesichtern, inmitten dicker Flocken und blinkender Lichter, und ich fühlte mich glücklich. Ich weiß noch, wie ich zu Jack hinüberschaute und er auf einmal schön geworden war, das dunkle Haar, die roten Wangen. Ich sah ihm an, dass auch er glücklich war, einfach nur, weil er hier mit uns stand. Seither war ich ein klein wenig verknallt in ihn, aber das hatte ich nicht mal Sage erzählt. Ich bekam ihn ja sowieso kaum zu Gesicht. Und Thomas auch nicht.

Als ich am Turm vorbeiging, hörte ich noch mehr Gelächter, Glas splitterte, und ich rannte los, damit sie mich nicht entdeckten. Aber ich war noch nicht bis zu den Bäumen auf der anderen Seite der Lichtung gekommen, als sich in der Dunkelheit vor mir Schatten bewegten. Ich verlangsamte meine Schritte und ging auf die fünf oder sechs Jugendlichen zu, die, von Grasgeruch umweht, in einem lockeren Kreis zusammenstanden. Abbey Quinn machte einen Schritt auf den Weg hinaus.

»Hey, Gallagher, bist du das? Wo willst du denn hin?«

Ich blieb stehen. Ich mochte Abbey, aber die anderen, die bei ihr waren, machten mich befangen. »Hallo, Abbey. Ich gehe babysitten.«

»Bei der bildschönen Mrs Boucher?« Abbey kicherte. Sie war bekifft.

Ich schaute zu den anderen hinüber, versuchte, ihre Gesichter zu erkennen. »Ja.«

»Ich hab gehört, es gibt jemanden, der Mrs Boucher besonders schön findet«, sagte sie und fing wieder an zu lachen.

Ich wusste nicht, was sie damit sagen wollte, und zuckte nur die Achseln. Abbey legte mir den Arm um die Schultern. Getrunken hatte sie auch.

»Du solltest mal ’n bisschen öfter herkommen. Würde dir guttun. Mit Sage.«

»Ich versuch’s«, sagte ich. »Aber jetzt muss ich los. Bis dann.« Und damit ging ich weiter den Weg entlang.

Er endete an der Straße, in der die Bouchers wohnten, und ich wandte mich nach links, hangabwärts. Hinter dem Haus der Bouchers lag eine Nike-Raketenbasis im Besitz der US-Regierung. Weil Philadelphia zu den wichtigsten Städten der USA gehörte, war es von vielen solcher Stützpunkte umgeben, die angeblich angreifende Raketen orten und Abwehrgeschosse abfeuern konnten, um sie zu treffen und zu zerstören. Einige der Stützpunkte hatten den Radar, die anderen hatten die Raketen. Ich wusste nicht, wie es bei unserem war. So oder so, es bedeutete, dass der Atomkrieg in greifbare Nähe gerückt war, dass wir zum Ziel werden konnten und im Boden unter uns Raketen lagerten. Nuklearwaffen und Radioaktivität machten mir Sorgen. Vor ein paar Jahren, nach dem Reaktorunfall auf Three Mile Island, mussten viele Menschen evakuiert werden. Wir hörten im Autoradio von Dads Pickup davon, auf dem Heimweg von der Schule. Harrisburg lag nur anderthalb Stunden Fahrt von uns weg, Luftlinie weniger. Ich hatte mir vorgestellt, wie die Menschen zu Fuß flüchteten und sich angsterfüllt nach dem Unsichtbaren umdrehten, das die Luft mit sich trug, wie alles von einer Verseuchung ausgelöscht werden konnte, die man nicht einmal sah. Es hieß, die Stützpunkte hätten schon seit den Sechzigerjahren ausgedient. Waren also auch die Boden-Luft-Raketen entfernt worden, oder ruhten sie immer noch hier unter der Erde? Das wusste niemand.

Mrs Bouchers Haus lag mehrere hundert Meter abseits der Straße, an einem steilen Abhang, und war vom Anfang der Zufahrt aus praktisch nicht zu sehen. Auf dem Weg nach unten sah ich die durch die Bäume zerschnittenen Lichter des Hauses. Ich nahm mir vor, Mrs Boucher zu erzählen, was mit Ellen passiert war. Vielleicht würde sie sich ja mit mir und den Jungs ins Auto setzen und den Berg hinunterfahren, um auf der Straße nach ihr Ausschau zu halten. Oder ich würde mit den Jungs im Haus bleiben, und sie könnte sich auf die Suche machen. Ich wusste, sie würde uns helfen. Aber kaum stand ich vor der Haustür, öffnete Mrs Boucher mir bereits; ich kam nicht einmal zum Klopfen. Sie hatte sich einen leichten Schal um die Schultern gelegt und schon nach Handtasche und Schlüssel gegriffen. Sie trat einen Schritt zurück, um mich einzulassen, nahm aber die Hand nicht von der offenen Tür.

»Hallo, Libby. Entschuldige, ich bin heute sehr in Eile. Die Jungs sind schon im Schlafanzug. Im Gefrierfach steht Eis. Ich habe Schoko-Mint für dich besorgt.« Ich zögerte kurz, bevor ich ins Haus trat. Mrs Boucher sah mich an. »Alles in Ordnung?«

»Ja, alles bestens. Danke. Auch für das Eis. Heute war der letzte Schultag vor den Sommerferien«, setzte ich noch hinzu, als würde das irgendetwas erklären. Ich ging an ihr vorbei in die Diele.

»Ach, das Paradox der Freiheit«, sagte Mrs Boucher, als wäre ihr alles klar. »Wir sehen uns später, wenn ich zurück bin.« Und damit zog sie die Haustür hinter sich zu.

Warum hatte ich ihr nichts erzählt? Ich fasste nach der Klinke, um die Tür zu öffnen, sie zurückzurufen, ihr zu sagen, dass wir Hilfe brauchten. Aber ich fand es schrecklich, andere um etwas zu bitten. Vielleicht würde sie ja auf ihrem Weg den Berg hinunter an Ellen vorbeifahren. Ich rief mir all die Leute vor Augen, die auf dem Heimweg an Ellen vorbeifahren könnten. Irgendwer würde doch sicher anhalten. In ihrer Schuluniform war sie leicht zu erkennen.

Ich spielte mit den Jungs und brachte sie dann ins Bett. Bruce, dem Zweijährigen, las ich Gute Nacht, Mond vor, Peter, dem Fünfjährigen, Peter Hase. Bruce nuckelte am Daumen und kuschelte sich an mich. Er hatte eine Mondlampe in seinem Zimmer, und als ich an der Stelle war, wo dem Zimmer Gute Nacht gesagt wird, schlief er längst. Nach dem Vorlesen nahm Peter gern selbst das Buch, um die Bilder noch einmal ganz genau zu betrachten. Ich tat so, als wäre auch er ein Hase, wir rieben zum Gute-Nacht-Sagen die Nasen aneinander und ich ermahnte ihn, sich noch schön das Fell zu putzen und zum Schlafen die Ohren anzulegen.

Dann ließ ich ihn allein und ging nach oben ins Wohnzimmer. Die ganze Zeit lauschte ich angestrengt auf das Telefon. Um zehn nahm ich den Hörer ab, um zu überprüfen, ob das Freizeichen zu hören war, und legte ihn dann sorgfältig wieder auf die Gabel. Ich hätte gern zu Hause angerufen, aber dann würde womöglich meine Mutter an den Zweitapparat bei sich im Zimmer gehen. Stattdessen rief ich Sage an, außer Marie und Thomas der einzige Mensch auf dieser Welt, der mich sofort verstehen würde.

»Hallo, ich bin’s.«

»Warum flüsterst du?«

»Weiß ich auch nicht. Ich bin bei den Bouchers. Mom hat vorhin, als es schon dunkel war, Ellen aus dem Auto geworfen. Auf der Brücke über den Turnpike. Sie muss zu Fuß nach Hause laufen, aber ich glaube, sie ist noch nicht wieder da.«

»Am Turnpike? Arme Ellen. Diese Straße ist so einsam.«

»Ja. Ich weiß nicht, was ich machen soll.«

»Ich schicke Charlotte mit dem Wagen los«, sagte Sage. »Das macht sie bestimmt.«

»Nein. Bitte nicht. Dann wird alles nur noch schlimmer. Mom kriegt vielleicht Ärger.«

»Und wenn schon.«

»Sag deiner Mutter bitte nichts. Ich melde mich, sobald ich weiß, dass sie zu Hause ist.« Ich setzte mich wieder auf das Sofa und versuchte, fernzusehen, konnte mich aber nicht konzentrieren. Wenn ich bloß etwas zu Mrs Boucher gesagt hätte, vielleicht hätten wir Ellen dann schon gefunden und alles wäre längst vorbei. Um halb elf klingelte das Telefon.

Marie war dran. »Sie ist immer noch nicht da.«

»O Gott. Mir ist ganz schlecht.«

»Auf der Straße ist sie nicht. Sie muss wohl durch den Wald gegangen sein.«

»Woher weißt du das?«

»Wilson McVay ist die ganze Strecke mit dem Motorrad abgefahren und hat sie nicht gesehen.«

»Du hast Wilson McVay angerufen?«

»Ja. Wen denn sonst?«

»Jeden, bloß nicht ihn. Der ist verrückt, Marie.«

»Die Leute, die so was sagen, kennen ihn nicht.«

»Die Leute haben Gründe, so was zu sagen. Er hat ziemlich verrücktes Zeug gemacht.«

»Er hat uns geholfen, Libby. Werd erwachsen.«

Mir fiel mehr als genug ein, was mit Wilson McVay nicht stimmte. Unser toter Kater Mr Franklin zum Beispiel. (So hatte ihn Thomas genannt, nach Benjamin Franklin, der sich der Legende zufolge einmal nachts am Berg verirrt haben soll. Unser Mr Franklin war uns als junges Kätzchen im Wald zugelaufen.) Wir waren überzeugt, dass Wilson ihn getötet hatte. Die Leute erzählten sich, er knalle die Haustiere der Nachbarn mit seinem Luftgewehr ab, und als wir Mr Franklin tot im Wald fanden, hatte er kreisrunde Wunden in der Flanke. Ich hatte selbst schon erlebt, wie verrückt Wilson sein konnte, und Marie war auch dabei gewesen. Vor Jahren, ich war vielleicht elf oder zwölf, saßen wir einmal auf den Schaukeln am Sun Bowl, und Wilson kam mit seiner Motocross-Maschine angefahren, kurvte herum und versuchte, den Felshang am anderen Ende des Geländes raufzukommen. Er machte ein paar Anläufe, dann fuhr er zu den Schaukeln und ließ die Maschine aufheulen, wirbelte direkt vor uns Staub auf. Eine Gruppe älterer Jungs war aufgetaucht und stand auf dem Basketballfeld herum. Sie waren mir mindestens genauso suspekt. Als Wilson mit dem Motorrad an ihnen vorbeifuhr, rief ihm einer, ein Typ mit freiem Oberkörper, so etwas wie »Psycho!« nach. Wilson wendete wieder. Als er erneut vorbeifuhr, kommentierte derselbe Typ: »Sogar die Spinner sind heute zum Spielen draußen«, und die anderen lachten. Wilson wendete erneut und fuhr direkt auf ihn zu. Er zögerte keine Sekunde, wich auch nicht aus und verfehlte den halbnackten Typen nur, weil der zur Seite sprang. Der Typ rappelte sich auf und schrie: »Ein Tag Freigang von der Klapse, was, Arschloch?« Wilson ließ das Motorrad liegen, rannte auf den Typen zu, sprang hoch und rammte ihm den Kopf gegen die Stirn. Der Typ stand einen Moment wie benommen da, dann sackte er einfach in sich zusammen. »Er hat ihn k.o. geschlagen«, rief jemand. Wilson war noch einmal an den Schaukeln vorbeigekommen, und ich hatte sein Gesicht gesehen.

Mir war klar, warum der Typ ihn als Verrückten bezeichnete – das taten alle. Etwa ein halbes Jahr vorher hatte die Polizei kommen müssen, weil Wilson bei den Nachbarn die Fenster eingeschlagen hatte. Bei drei Häusern hintereinander. Eine Scheibe nach der anderen hatte er mit bloßen Fäusten eingeschlagen, brüllend, mitten in der Nacht. Als es vorbei war, kam Mr Pascall, der gleich nebenan wohnte, nach draußen. Er fand Wilson splitternackt auf der Straße vor, heulend, Hände und Arme voller Blut. Wilson hatte zu ihm hochgeschaut und gesagt: »Sie rufen jetzt wohl besser die Bullen.« Kurz nach der Sache am Sun Bowl hörten wir, er sei in einen missglückten Raubüberfall verwickelt gewesen, bei dem auch ein Tankstellenmitarbeiter gefesselt worden sei. Manche behaupteten, Wilson hätte den Fluchtwagen gefahren. Irgendwas musste er jedenfalls gemacht haben, denn danach verschwand er für ein paar Jahre, und kein Mensch wusste, wohin. Seit er wieder da war, tauchte er häufig auf Partys auf, suchte die Gesellschaft von Jugendlichen, die kaum älter waren als ich, war dabei, aber hielt sich am Rand.

»Vielleicht hat sich Ellen ja versteckt, als sie das Motorrad gehört hat, weil sie Angst vor Wilson hatte.«

»Du kennst ihn doch gar nicht. Ich ruf dich an, wenn sie hier ist.«

Ich sah weiter fern, den Ton auf leise gestellt. Gerade fing Fantasy Island an. Es kam mir alles so lächerlich vor, der kleine Mann, der »Das Flugzeug! Das Flugzeug!« ruft, der Typ im Smoking, der angeblich gottähnliche Fähigkeiten hat und seinen Angestellten einschärft, für die reichen Gäste auch schön zu lächeln. Ich schaltete um zu Detektiv Rockford – Anruf genügt. Ich konnte einfach nicht stillsitzen. Es war gleich elf, mehr als drei Stunden her, seit Ellen aus dem Auto gestiegen war.

Mrs Boucher hatte verschiedene Zeitschriften und Zeitungen abonniert, Bücherregale pflasterten die Wände. Auf dem Couchtisch lagen der Philadelphia Inquirer und die New York Times. Beide Titelseiten machten immer noch mit den Kindermorden von Atlanta auf. Ich versuchte die Artikel zu lesen, konnte mich aber auch darauf nicht konzentrieren. Am Morgen, auf der Fahrt zur Schule, hatte ich in den Radionachrichten davon gehört. Sämtliche Brücken von Atlanta wurden von der Polizei observiert, und letzte Woche hatten sie mitbekommen, wie auf einer der Überführungen über den Chattahoochee River ein Wagen hielt und kurz darauf ein Platschen im Wasser zu hören war. Der Fahrer war festgenommen worden, und zwei Tage später wurde flussabwärts eine Leiche angeschwemmt. Jetzt glaubten sie, den Mörder endlich zu haben. Ich betete, dass er es auch wirklich war. Mehr als zwanzig schwarze Kinder waren tot oder wurden noch vermisst. Ich hatte Angst, so allein im Haus der Bouchers. Es bestand fast nur aus Glas und war an den Hang gebaut, der hinter dem Haus steil abfiel, sodass ich hier im Wohnzimmer wirklich das Gefühl hatte, inmitten von Baumwipfeln zu schweben. Mir war klar, warum Mrs Boucher immer von ihrem Baumhaus sprach. Es gab überall Fenster und keine Vorhänge.

Ich beschloss, noch einmal bei Sage anzurufen, damit sie ihre Eltern doch um Hilfe bat, selbst wenn das hieß, dass sie die Polizei einschalten würden. Auf dem Weg zum Telefon in der Küche huschte vor einem der vorderen Fenster ein Schatten vorbei. Für den Bruchteil einer Sekunde sah ich etwas Weißes. Ich blieb stehen, hielt den Atem an. Ein Rascheln war zu hören. Dann ein Klopfen an der Scheibe. Ich blickte an mir herunter, auf mein weißes T-Shirt, überlegte, ob ich vielleicht nur mein eigenes Spiegelbild gesehen hatte. Es klopfte wieder. Da war eindeutig jemand am Fenster. Ganz lässig, als hätte ich keine Angst, ging ich zur Haustür, versteckte mich dahinter und wartete. Ich schaltete die Außenbeleuchtung ein, warf einen Blick nach draußen und schrie auf. Dann riss ich die Tür auf, und Ellen stolperte über die Schwelle.

1 914,22 ₽
Жанры и теги
Возрастное ограничение:
0+
Дата выхода на Литрес:
22 декабря 2023
Объем:
341 стр. 2 иллюстрации
ISBN:
9783958299894
Переводчик:
Издатель:
Правообладатель:
Автор
Формат скачивания:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip

С этой книгой читают