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6.
EINE BEGEGNUNG – EINE WAHNSINNSIDEE
BÜRGERSTADT UND INTERNATIONALER STANDORT

Ermano Sens-Grosholz – der Name passte zu seiner Erscheinung: stattliche Figur, markantes Gesicht, starke Hände und soignierte Garderobe mit ausgesuchten Accessoires vom Scheitel bis zur Sohle. Er hätte als transalpiner Impresario zwischen Italien und Österreich auch das Jahrhundert zuvor verkörpern können. Seine ganze Passion galt einer elektrisierenden Idee für Baden-Baden als zukünftiger Festspielstadt mit einem in jeder Hinsicht großartigen neuen Opernhaus. Kein geringerer als Richard Wagner sollte bereits 1860 am Rande des Fürstenkongresses mit Napoleon dem Dritten für eine solche Option geworben haben. Der Platz im Talgrund sei schon fixiert gewesen, dann allerdings entschwand er nach einem enttäuschenden morgendlichen Rendezvous mit der Prinzessin Augusta von Preußen, der späteren Kaiserin. Es ranken sich viele Spekulationen über die Ernsthaftigkeit sowie die Motive der Beteiligten bis hin zu seiner wenig attraktiven sächsischen Mundart. Dieses ewige Geheimnis wird einem Ondit zu Folge seitdem unter dem Wandbild der Nixen vom Mummelsee bestens gehütet. Immerhin schrieb Richard Wagner 1871 höchstpersönlich, für seine Pläne wäre Baden-Baden der erste Ort außerhalb Bayerns gewesen!

Sens-Grosholz residierte standesgemäß am Leopoldsplatz und hatte gerade das „Comité zur kulturellen Förderung“ aus der Taufe gehoben. Er förderte auch mit eigenem Geld Konzerte und warb mit Feuer und Flamme. Nach erstem Kennenlernen am Rande anderer Events trafen wir uns im Rathaus. Ich war hin- und hergerissen. Das alles war faszinierend, geradezu spürbar verführerisch. Musik, klassische Musik war zweifellos eine naturgegebene Seele dieser Stadt, die über die Jahrzehnte an Strahlkraft verloren hatte. Sens-Grosholz, der als Salzburg-Fan Ermüdungserscheinungen der österreichischen Festspielstadt konstatierte, projizierte alles, was er dort vermisste und mit guten Insiderkontakten als Option erkannte, nach Baden-Baden. Das freute mich und imponierte mir. Aber ich war kein Kenner dieser Szene, keiner, der dank eigener Expertise die Tragfähigkeit dieser hochkarätigen Idee hätte validieren können. Zeitgleich plagte die Stadt die ebenso fundamentale wie auf den Nägeln brennende BKV-Problematik, die ihre Wirtschafts- und Finanzstruktur bedrohte. Wenn ich eines in den verflossenen zwölf Jahren in Lokal-, Regional- und Landespolitik gelernt hatte, dann, dass dieses Metier kein Wunschkonzert ist. Die Baden-Badener Realitäten zeigten eine relativ hohe Verschuldung bei eher unterdurchschnittlicher Steuerkraft. Also vertröstete ich ihn. Es galt, Zeit zu gewinnen. Die Idee aber blieb als starker Reiz. Es sollten zwei, drei Jahre später aus ganz anderer Richtung neue Impulse dazustoßen.

Würde ein „normaler Bürger“ diese Geschichte bis hierher lesen, würde er zu Recht fragen: Und wo finden WIR statt? Die Stadt zählt rund 4.600 Menschen, die sich unterhalb der Armutsgrenze bewegen. Das sind 4.600 zu viel. Wer zugleich an eines der größten Opernhäuser der Welt denkt für eine Stadt mit 53.000 Einwohnern, wer nur an die BKV denkt für die Welt der Reichen und Privilegierten, muss der nicht jedes Augenmaß und jegliche Bodenhaftung verloren haben? Wo bleibt Gerechtigkeit, das soziale Gewissen? Solange Schulen, Kindergärten, Kitas, Jugendmusikschulen, Alleinerziehende, Vereinsförderung, Schlagloch-Straßen, Lärmschutz in Wohngebieten, Umweltschutz beschleunigen, behindertengerechte Stadt und vieles, vieles mehr Priorität haben muss, darf man da überhaupt an solche „Spinnereien“ denken? Wo bleiben die sechs 1972 hinzugekommenen Stadtteile im Rebland, Rheintal und auf dem Berg? Von den in der Hitlerzeit zwangseingemeindeten Ortschaften Balg und Oos ganz zu schweigen. In dem bodenständigen Geroldsau bis Malschbach, Lichtental mit Oberbeuern bis Schmalbach stellten sich exakt dieselben Fragen. Man muss das so drastisch sagen. Sehr vielen angesichts ihrer individuellen Sorgen und nicht auf Rosen gebetteten Baden-Badenern ist das Hemd näher als die Hose. Nicht aus Über-Mut, sondern wegen ihres eigenen Über-Lebens.

Diese überalterte Stadt beheimatete auch viele wohlhabende, gebildete Töchter und Söhne, die, weil es ideell wie materiell auch viel zu verlieren gab, ihrem Wesen nach oftmals strukturkonservativ verwurzelt waren – und immer noch sind. Es sind Menschen, die in der Bewahrung der gewachsenen Einmaligkeit Baden-Badens das Ein und Alles sehen und keinerlei Abstriche, auch keine persönlichen, in Kauf nehmen wollen.

Einmal traf ich mit den Damen eines Karten spielenden Clubs zusammen, renommierte Namen mit viel Takt und Stil meist aus ererbtem, guten Hause. Seit gefühlten Urzeiten zelebrierten sie in einem wunderschönen Raum des Kurhauses ihr reizvolles Gesellschaftsspiel. Das sollte ihnen keinesfalls genommen werden. Im Rahmen der werdenden Neuordnung der BKV zeichnete sich aber ab, dass für die Saalnutzung, die bisher sehr günstig war, zukünftig etwas mehr gezahlt werden müsste, so wie für alle anderen Säle und jedermann auch. Ich warb für Verständnis, das Gespräch wurde aber immer frostiger und mündete in Grundsatzfragen. Es wurde überdeutlich, was ich oben beschrieb, es bestand keinerlei Bereitschaft für jedwede Veränderung oder Flexibilität. Ein wenig verließ mich meine Contenance. Ich vergriff mich in einem Bild, weil ich schon zu viele Briefe erhalten hatte, in denen über den Lärm von spielenden Kindern, bellenden Hunden geklagt und auf das „heilige“ Kurrecht auf Ruhe gepocht wurde. Das ging mir frontal gegen den Strich. Eine meiner Schwächen – Ungeduld, ungebremste Passion – brach sich Bahn, aber es musste raus!

Mein Bild war, die Damen und ich sitzen an einem wunderschönen, sonnigen Septembertag auf der Bank unweit des hoch sprudelnden Felsenbrunnens bei der großen Hängebuche gegenüber der Staatlichen Kunsthalle. Weil alles genau so ruhig und friedlich war und immer so bleiben sollte, wie gewünscht, schliefen wir ein. Als wir aufwachten, war der Hintern auf der Bank festgefroren, die Nasenspitze weiß. Das braune Buchenlaub hatte uns rundum „eingeschneit“. Sie starrten mich an. Und ich: „Das haben wir verdient. Wer sich nicht bewegt, stirbt. Die Ruhe wird zum Friedhof. Unsere Stadt auch!“. Peng - ich hatte bei den Damen auf Lebzeiten „verschissen“ und leider einer guten Sache einen schlechten Dienst getan!

Wie sprengt man betonierte Positionen? Tempelwächter der reinen Lehre können wirklich alles „wissen“, aber vermögen keine Zukunft zu gestalten.

Immer, wenn im Oostal starke Veränderung, Innovation oder Zukunftsorientierung eingefordert wurde, kam das harte Nein beinahe schon reflexhaft. Dann hagelte es Leserbriefe. Bürgerinitiativen, die stets sagten, was sie nicht wollten. Wenn sich so etwas allerdings in der Summierung über Epochen aneinanderreiht, kommt irgendwann der kritische Punkt, an dem man „aus der Zeit zu fallen droht“. Die Baden-Badener Übernachtungszahlen wie die Gewerbesteuereinnahmen stagnierten seit Jahrzehnten. Dass jede Chance ein Problem birgt, das bedrohlich ist und deshalb beseitigt werden muss, oder dass in jedem Problem eine ureigene Verantwortung zum Handeln, Gestalten, zur Innovation und zur Lösung liegt – das war das „to be or not to be“ im Oostal.

Natürlich gab es in Baden-Baden Verluste an Identität, die aus heutiger Sicht unverzeihlich sind. Der Abriss des Maison Messmer, der Abschied vom Augustabad grenzten an Selbstverstümmelung. Wenn man könnte, würde man es rückgängig machen. Aber es gibt auch Beispiele, die Brücken schlagen. Die Firmenzentrale von Karlheinz Kögel, in Glanzzeiten Teil des legendären Grand Hotels „Stephanie les Bains“, dann bis zur Neuordnung 1995 Sitz von rund 400 Mitarbeitern der öffentlich-rechtlichen Anstalt BKV zeigt als architektonisches Bindeglied zwischen Lichtentaler Allee und Augustaplatz, wie man nach der Befreiung von Asbest, liebevoll sorgfältiger Renovierung große Vergangenheit mit Wirtschaft, Medien, Arbeitsplätzen und Ertrag für alle verbinden kann. Fast 30 Jahre Deutscher Medienpreis von Bundeskanzler Helmut Kohl, den Staatspräsidenten Mitterand, Jelzin, Clinton bis Barack Obama, lassen grüßen – nur einen Steinwurf entfernt vom legendären Fürstenkongress 1860 mit Kaiser Napoleon III., dem preußischen Prinzregenten und späterem Kaiser Wilhelm I. sowie den wichtigsten deutschen Königen und Großherzögen. Oder nehmen wir das zeitgeschichtlich spannende und baulich sensibel integrierte LA8 des Unternehmers und Mäzenaten Wolfgang Grenke. Das vormalige schwedische Palais ist ein Geschenk für neue digitale Generationen.

Genau vor diesen Fenstern und Zeitsprüngen öffnet sich die trennende Wasserscheide der 90er-Jahre, die mit der Radikalität der Zerschlagung überalterter Kurortstrukturen und der Verlockung einer „größenwahnsinnigen Idee“ namens Festspielhaus schemenhaft die Härte zukünftiger Herausforderungen erahnen lässt. Und um die Dehnfugen der Stadt mit dem Doppelnamen und dem Januskopf noch etwas zu vertiefen, folgt ein kleiner Rekurs zu den Wurzeln der zwei Seelen in einer Brust.

Sichtbar thronte ab dem 12. bis zum 15. Jahrhundert das Schloss Hohenbaden als Stamm- und Regierungssitz über der kleinen Stadt Baden, vormals Badon. Die Markgrafen, aus dem geografisch weitgespannten Geschlecht der Zähringer stammend, nannten sich deshalb „von Baden“, also über der Stadt Baden residierend. Die Stadt wurde so zur Keimzelle des ganzen Landes. Als sich die katholische Markgrafen-Linie im 17. Jahrhundert und ihr evangelischer Teil in Durlach/Karlsruhe konfessionell verzweigte, nannten sie sich „Markgrafen von Baden-Baden“. Und selbst als die Residenz vom Neuen Schloss am Florentiner Berg 1705 à la Versailles nach Rastatt wanderte, blieb es bei dem Doppelnamen.

Anlässlich des Rastatter Kongresses 1798/99 machte die Markgrafenschaft europaweit Schlagzeilen, und die illustren Teilnehmer liebten es, in Baden-Baden zu promenieren und das Leben zu genießen. Dieser beginnende Wandel als internationaler Treffpunkt verstärkte auch den Reiz, sich mit dem Doppelnamen ein verkaufsförderndes Einzelstellungsmerkmal zu Baden bei Wien und Baden bei Zürich zu schaffen. Alle drei Städte lebten von Gästen, bekamen Residenzler, die ihre prächtigen Sommersitze bauten und in einem Buen Retiro ein entspanntes Leben führten. Viele von ihnen wuchsen über sich hinaus und wurden mit oftmals auch unternehmerischer Energie Mäzenaten ihrer zweiten Heimat. Es waren großzügige, weitblickende Geber, keine Nehmer. Die Bénazets inspirierten weitere große Namen und trugen Baden-Baden im 19. Jahrhundert auf ungeahnte Höhen. Die „Ureinwohner“ waren die Dienstleister, vom Bäcker, Winzer, Metzger bis zum Personal. Es war eine Symbiose, eine ganz natürliche Zugewinngemeinschaft. Nicht nur für das Land, auch für die Stadt vermehrten sich die Steuereinnahmen. In der lebenslustigen Thermalstadt an der Oos sprudelte zugleich eine starke private Quelle. Es könnte sein, dass diese Kraft zu ganz anderen Zeiten wieder den entscheidenden Unterschied als Symbol für Aufbruch und Aufschwung setzen könnte. Baden-Baden getragen von drei Säulen: Stadt, Land und einer Bewegung bewegter Menschen. Und subkutan würden dann erneut die Unterströmungen zwischen Engelskanzel und Teufelskanzel an der Wolfsschlucht ihre Sogkräfte entfalten – man wird sehen.

7.
ZWISCHENZEITEN 1991 – 1992
MEINE ENGSTE WEGGEFÄHRTIN URSULA LAZARUS

Die Zeit des „Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne“ neigte sich definitiv dem Ende zu. Die beiden großen Linien einer möglichen grundlegenden Wende in und für die Stadt strömten parallel, forderten strategiebasiertes Handeln, erhöhten Energie- und Zeitaufwand, befanden sich aber in gänzlich unterschiedlichen Stadien.

Die Festspielstadt mit Opernhaus war eine „traumhafte“ visionäre Idee, die Ermano Sens-Grosholz mit dem Comité immer wieder befeuerte. Die Frage, ob diese Vision nach dem Bonmot von Altkanzler Helmut Schmidt „Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen“ als Blase platzen würde oder ob sie durch ein solides, sprich tragfähiges Konzept, flankiert von schwergewichtigen Namen als erstes Keimblatt in der politischen Landschaft wurzeln könnte, war die Wegegabelung, die es als Erstes zu meistern galt. Ich persönlich hatte mich entschieden, die zweite Variante im positiven Sinn voll auszuloten. Sie begann – es war wohl Frühsommer 1992 – bei einem Mittagessen mit dem ehemaligen „Staatsrat für Kunst“ Professor Wolfgang Gönnenwein in Baden-Baden, der sich kurz zuvor telefonisch aus dem Nichts, aber wohl nicht ohne Wissen des Vorstandsvorsitzenden der Jenoptik AG, MP a.D. Lothar Späth, ankündigte. Er zeigte starkes Interesse und wollte mit all seinen Möglichkeiten einsteigen, um Chancen zu testen. Dazu kamen erste Treffen mit Dr. Werner Kupper aus Zürich, als Treuhänder des Herbert von Karajan-Nachlasses, die, unterfüttert mit Schweizer Tugenden, entscheidend für uns werden sollten. Sein Interesse an Baden-Baden, so konnte man damals nur erahnen, lag wohl darin, neben dem Hauptengagement in Salzburg, eine weitere Option zu erkunden. Das Ganze mündete ein gutes Jahr später in die bahnbrechende Begegnung mit Lothar Späth am Sonntag, dem 10. Oktober 1993, auf Schloss Solitude, bei der in „knisternder Produktivität“ die Königsidee geboren werden sollte.

Die Neuordnung der BKV dagegen lag nicht als Idee in der Ferne. Die BKV musste quasi am lebendigen Leib operiert werden. Der gesamte Organismus mit 400 Mitarbeitern sollte dabei für den internationalen Standort motiviert bleiben und weiterhin trefflich funktionieren. Das war für sich allein schon eine psychologische Herausforderung, je tiefer sich öffentlich-rechtliche Daseinsberechtigung verselbstständigt hatte. Dazu kam, dass der neue Alleinvorstand Günter Götz mich zunehmend und massiv ärgerte. Er erweckte sehr selbstbewusst den Eindruck, dass ihn die sich anbahnende Neuordnung nicht sonderlich scherte. Er suchte geschickt die Hohlräume unterhalb der politischen Ebene, um Sand ins Getriebe zu streuen. Zwei Tage vor einer pompös geplanten Verwaltungsratssitzung der BKV mit Damen 1991 in Meran provozierte er mich erneut bei einer Vorbesprechung durch sein eklatantes Desinteresse an Reformnotwendigkeiten. Die Koffer waren schon gepackt. Ich zog als Verwaltungsratsvorsitzender die Reißleine. Die Reise wurde gecancelt. Die Zeit von Günter Götz neigte sich dem Ende zu. Schließlich verließ er wenig später die BKV. Ich hatte Zähne gezeigt. Es zahlt sich nicht aus, jemanden zur Jagd tragen zu müssen. Es war allein der Sache geschuldet.

Umso mehr war ich darauf aus, mit dem Land durch mehr Vertrauensbildung die Neuordnung zu beschleunigen. Wir erinnern uns, dass der Haushaltsentwurf 1991/92 des Finanzministers Guntram Palm als Reflex auf die Monaco-Pleite eine drastische Reduzierung der Spielbankerlöse androhte. Das konnte zum Glück in höchster Instanz durch persönliche Intervention des Ministerpräsidenten abgefangen werden. Dabei stand ich mit meinem penetranten Nachbohren und Lothar Späths immenser Belastung auch vor dem Hintergrund der anschwellenden sogenannten „Traumschiff-Affäre“ wiederholt auf sehr dünnem Eis. Danach, bei einem Treffen Ende 1990, empfahl er beiden Seiten dringlich, dem Finanzministerium in Person von Benno Bueble, der Stadt und ihrem OB, sich „hinzusetzen“, um zukunftsweisend stabile Grundlagen zu legen. Wenn Lothar Späth „dringlich“ sagte und meinte, dann verengten sich beim Frontalblick seine Pupillen und die schmal gepressten Lippen schlossen jeden Zweifel aus!

Für die Stadt sah ich gemeinsam mit Ursula Lazarus, der CDU-Fraktion und den Freien Wählern im Gemeinderat, wachsende Entschlossenheit, die Alt-BKV und ihre fortschreitende Kannibalisierung zu beenden. Die SPD hatte sogar schon im Schulterschluss mit ihrer Landtagsfraktion eine rechtlich abgesicherte Landesfinanzierung für eine weitgehend kommunalisierte BKV konzeptioniert. Bereits im Wahlkampf hatte ich die offensichtliche und provozierende Dysfunktionalität zwischen Stadt und Land immer wieder in ein Bild gegossen. Nötig, weil – bis heute übrigens – die meisten Baden-Badener zwar wissen, dass es da um viel Geld geht, aber nicht genau warum, weil es vielen einfach zu kompliziert ist. Das machte es übrigens auch Teilen der hotelnahen FDP mit dem Bundestagsabgeordneten Olaf Feldmann, der zugleich auch HOGA-Geschäftsführer war, und den Alt-Badenern unter dem Karlsruher Professor Mürb so einfach, der Öffentlichkeit über Jahre hinweg immer wieder gegen alle Fakten vorzuspiegeln, es sei die Stadt, die bei einer Neuordnung Millionen in Wirklichkeit ihr gehörender Spielbankgelder verlieren würde.

Das Wendt-Bild war so: In der Lichtentaler Allee fährt eine Zweispännerkutsche mit zwei Kutschern, einer für das Land, einer für die Stadt. Jedem von ihnen gehört ein Pferd. Nach den Statuten müssen sie jährlich Zügel und Peitsche wechseln. Dabei wird die Richtung geändert und es gibt Hü-Hott-Politik. Man fährt Umwege und verschwendet Hafer. Deshalb ist es für Baden-Baden insgesamt besser, sich zwei Einspännerkutschen anzuschaffen. Eine für das Land und eine für die Stadt und die Arbeitsteilung, also die Fahrtrouten, so zu organisieren, dass man schneller und sogar mit weniger Futter seine abgestimmten Ziele für das gemeinsame Ganze erreicht.

Konkret bekam das ab Anfang 1992 zunehmend Konturen, nachdem Dr. Wolfgang Bernhardt mit dem klaren Auftrag, die Neuordnung operativ in Angriff zu nehmen, in die Verantwortung kam. Er fand ein kostspieliges Roland Berger-Gutachten vor, das hohe Einsparungseffekte von bis zu jährlich 11 Millionen DM in Aussicht stellte. Dies erwies sich später zu Recht als illusorisch. Die Leitlinie allerdings, ein Mix von Teilkommunalisierung und Privatisierung vor allem Verpachtung, wurde politisch übernommen. Die verbleibende Verantwortung Stadt-Land war in ihrer öffentlich-rechtlichen Ausprägung noch nicht hinreichend konkretisiert.

Und dann gab es den Alles-oder-nichts-Punkt. Er musste bei der politischen Schlacht, die es zu schlagen galt, das Erzübel der Alt-BKV dauerhaft tilgen. Da mit der Monaco-Pleite jeder Kredit verspielt war, hatten wir auch die Mehrheit beim Haushaltsgesetzgeber, also im Landtag, verspielt, die damals bis Mitte 1992 noch eine knappe absolute CDU-Stimmenmehrheit war, danach aber in den Händen der schwarz-roten Koalition lag. Es gab diese Mehrheit, wenn alles bei den alten Strukturen geblieben wäre, real aber nur in der einen Richtung, nämlich immer weniger Geld, Hahn zu für Baden-Baden! Unsere Stadt brauchte also eine garantierte Langfristlösung im Sinne eines Generationenvertrages, bei der sich das Parlament über eine Haushaltsermächtigung praktisch selber davon befreite, alle zwei Jahre diese Gelder und ihre Berechtigung für Baden-Baden im Futterneid beherrschten Haushaltsfieber zur Disposition zu stellen.

Warum aber sollten das Land, seine Regierung und sein Parlament das eigentlich tun wollen? Wenn man das Einmaleins der Politik verstanden hat, weiß man, dass nur der überhaupt eine Gewinnchance erhält, bei dem beide Seiten auch mittel- bis langfristig etwas davon haben könnten. Und, weil wir alle Menschen sind, wenn die Chemie, die Atmosphäre wieder saubere Luft zwischen den Partnern ermöglicht. Wenn man sich letztendlich wieder in die Position, die Interessenlage des jeweils anderen hineinversetzen will und kann. Wir hatten Ende der 80er-Jahre dieses Kapital in Stuttgart verspielt. Aber wo stand geschrieben, dass man mit einem guten Plan, mit Aufbruchstimmung, mit Synergien für beide Seiten, nach dem Zweikutschenprinzip, wer Hafer spart, arbeitet effizienter, nervende Streitigkeiten nicht beenden und gemeinsam reüssieren könnte? So klang unsere „Neuordnungshymne für das gelobte BKV-Land“, mit wem auch immer wir hierüber zu sprechen hatten.

Ich war in der Landes-CDU immer noch eine frische Kraft, hatte bei der letzten Landtagswahl 1988 mit fast 60 Prozent das zweithöchste Ergebnis überhaupt erzielt. Als frischgewählter OB in Baden-Baden durfte ich gewiss auch Rückenwind erhoffen. Noch in der Bühler OB-Zeit konnte ich im engsten Schulterschluss mit Lothar Späth 1986 die Rettung des Schlosshotel Bühlerhöhe mit Max Grundig durchziehen. Seitdem kannte er mich und schenkte mir Vertrauen. Nach seinem Ausscheiden im Januar 1991 durfte ich voll auf Günther Oettinger setzen, dem Baden-Baden wirklich am Herzen lag, der ähnlich tickte wie Lothar Späth. Und die Tatsache, dass ich 1992 mein Versprechen einlöste, das Landtagsmandat bei nahezu sicherer Wiederwahl zurückzugeben, um mich ganz auf Baden-Baden zu konzentrieren, hatte mir in Stuttgart Anerkennung beschert. Und dann gab es da noch eine Geheimwaffe: Ursula Lazarus, die Mitte 1992 meine Nachfolgerin in Stuttgart wurde, entwickelte eine derartige Charme-Offensive, der weder der neue Ministerpräsident Erwin Teufel noch der neue Fraktionsvorsitzende Günther Oettinger widerstehen konnte. Letzterer nannte sie noch 20 Jahre später bei öffentlichen Veranstaltungen „die genialste und unabweisbarste Wegelagerin, die ihm jemals begegnet sei“ und wenn es um Baden-Baden ginge, mit feinster Sensorik ausgestattet. Sie wäre stets zur richtigen Zeit genau an den richtigen Stellen gestanden, wo man ihr und ihrem freundlich entwaffnenden Blick wehrlos ausgeliefert war. Was Erwin Teufel anbelangte, sei angemerkt, er kannte sie nicht nur im politischen Geschäft. Sie lebte, sie praktizierte die Haltung katholischer Christen im Alltag. Er war Menschenkenner genug, um ihr zu Recht sein ganzes Vertrauen zu schenken.

Um einen neuen langfristigen Generationenvertrag mit vom Spielbankerlös unabhängigen Verträgen aus der Taufe zu heben, sollten Ursula Lazarus und ich während einer zweijährigen „Dschungeldurchquerung“ zu einem unzertrennlichen Duo werden. Das war nicht nur dem hohen Außendruck geschuldet. Auf eine wirklich ideale Art und Weise waren wir gänzlich gegensätzlich, aber wir durften und dürfen bis heute uns uneingeschränkt aufeinander verlassen. Sie, die Frau mit gepflegtem Ambiente, in sich ruhend und dies auch ausstrahlend, eine Physikerin und Mathematikerin, die Zahlen wie Menschen bewegte. Sie schielte nicht auf Karriere-Chancen, sie diente authentisch überzeugend, ab 1975 34 Jahre im Gemeinderat, davon exakt zwei Jahrzehnte als CDU-Fraktionsvorsitzende und nochmals fast zwei Jahrzehnte als Landtagsabgeordnete in Stuttgart. Hinter diesen Jahrzehntzahlen in Doppelfunktion stehen frühes Aufstehen, spätes Heimkehren, termingefüllte Wochenenden, ebenso diszipliniertes wie strukturiertes Arbeiten und ein weitestgehender Verzicht auf Privatleben.

Meine Person, der wahre Jakob, wird sich im Folgenden noch offenbaren, und meine Lebenserfahrung zeigte mir immer wieder, dass, je grundverschiedener zwei Menschen sind, je weiter ihre Pole auseinander liegen und je vertiefter sie das intern zusammenfügen, sie umso mehr bewegen können. Je weniger man sich gleicht, desto weniger kann der eine dem anderen etwas wegnehmen. Energieverlust durch Konkurrenzierung gibt es nicht, dafür volle Kraft voraus nach dem Motto „getrennt marschieren, vereint schlagen“. Der Erfolg gehört beiden, die Niederlage aber auch. Was zu beweisen war!

HEUTE, DONNERSTAG, 2. APRIL

NOCH IMMER STRAHLT DIE SONNE VOM BLAUEN HIMMEL. DIE INFEKTIONSZAHLEN BEI UNS STEIGEN ÜBER 70.000, DIE STERBLICHKEITSRATE LIEGT BEI ÜBER 700 MENSCHEN, MEIST ÄLTERE, ZUNEHMEND AUS ALTENPFLEGEHEIMEN. DIE INTERNATIONALEN ZAHLEN PURZELN IN PUNKTO VERGLEICHBARKEIT DURCHEINANDER. NIRGENDS GIBT ES BELASTBARE PARAMETER, AUCH WEIL VÖLLIG UNTERSCHIEDLICH WO, WIE, WANN, WARUM ÜBERHAUPT DER CORONA-TEST DURCHGEFÜHRT WIRD. WAS MICH EMPÖRT IST, DASS UNSERE SÜDLICHEN NACHBARN ITALIEN, SPANIEN VIEL ZU WENIG UNTERSTÜTZUNG VON DEUTSCHLAND ERHALTEN. ES KANN SICH FÜR EUROPA TÖDLICH RÄCHEN – BISHER – ZU CORONA-BONDS ODER KREATIVEN ZWISCHENMODELLEN IM CLUB DER NORDLÄNDER „NEIN“ ZU SAGEN. MIR FEHLT HIER NICHT NUR DAS HERZ, SONDERN POLITISCH WIE ÖKONOMISCH DIE STRATEGISCHE WEITSICHT.

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