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3.
MYSTISCHE NATUR – EIN FLUG ÜBER ZEIT UND RAUM

Ich hatte es angedroht, dass wir zeitliche Sprünge, Szenenwechsel, Metaebenen rhythmisieren, „frei schöpferisch“ für einen neuen Blick. Bildlich könnten wir noch einmal die Trinkhalle durchschreiten, um uns von der romantisierenden Kraft der Wandgemälde inspirieren zu lassen. Engelskanzel – Teufelskanzel als Eingangstor über der Wolfsschlucht zum Beispiel passt trefflich. Das Oostal ist mystisch. Ein Blick vom Merkurturm ins Murgtal, Richtung Rastatt, weit über den Rhein hinaus ins Elsass und die Südpfalz hinüber ins Rebland und hinauf zu den Höhenlinien der beiden Tausender Hochkopf und Badener Höhe zeigen uns einen Garten Eden. Es scheint, als hätte hier der liebe Gott an einem auserwählten Tag der Schöpfung eigenhändig mit Gips gespielt und modelliert. Es ist ein Refugium, das schützt und wärmt. Im Herbst, bei Inversion und dauerhaftem Nebel im Rheintal, schenkt es viele zusätzliche Sonnentage. Auch der Wein fühlt sich wohl, zu Füßen des Neuen Schlosses reifen gar Feigen und Zitronen. Alles wurde über Zeit und Generationen hinweg behutsam und liebevoll zu einem einmaligen Großen und Ganzen geformt. Ein kompositorischer Dreiklang von Licht, Wasser und grün durchdringender Natur.

Wo gibt es schon echte Schlösser im Wald? Prächtige Wasserschlösser, die in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg die Quellen mit klarem, weichem Wasser fassten und architektonisch mit in Rotsandstein gemeißeltem Stadtwappen am Merkur, dem Leisberg oder unweit der Batschari-Hütte im lichtenden Morgennebel einen beinahe wagnerianischen Zauber versprühen. Wo gibt es Märcheninseln wie das verwunschene Mariahalden, das der deutschstämmige südamerikanische Kaffee-Goldmark-Millionär Hermann Maria Sielcken im trauten Herchenbachtal mit Herrenhaus, Verwaltungsgebäuden, Badehaus, Gärtnerei, Karpfenteich sowie einer mehrere Kilometer langen von Rhododendron gesäumten massiven Schlossmauer samt schmiedeeisernen Ziergittern einem Schmuckstück gleich krönte? Kein geringerer als Max Grundig erweckte in den 80er-Jahren nach jahrzehntelangem Dornröschenschlaf das Juwel zu neuem Leben. Vom artenreichen Wald der Berge über ausgedehnte, mit Obstbäumen bestandene Wiesen, die als sanfte Hügelzonen zum Talgrund neigende, von Villen gesäumte Straßenzüge begleiten, bis zu den großzügigen privaten Garten- und öffentlichen Parkanlagen entlang der Lichtentaler Allee, zeigt sich ein Ganzes. Es mutet wie Zufall an, ist es aber nicht. Man kann vom Alten Schloss zum Neuen Schloss hinunter, hinüber zur Stourdza-Kapelle mit Villa Friesenberg, von dort zum Schloss Solms wieder hinüber zum Bergschloss und nach diversen weiteren Talsprüngen über die Oos letztlich über die Villa Stroh beim Schloss Seelach enden. Es bildet eine Kette von Harmonie und Ästhetik, einer dem Tal immanenten Choreografie, die diesem Zauber Spiel und Raum eröffnet.

Es sollen einer Überlieferung zufolge die Kelten gewesen sein, die der Oos den Namen „leuchtendes Wasser“ gaben. Die schäumenden Geroldsauer Wasserfälle, im Frühsommer überwölbt von riesigen, blühenden Rhododendren und Baumkronen, die vortreffliche Symbiose der Laeugerschen Garten- und Wohnanlage am Annaberg namens Paradies, die talwärts über ihre Kaskaden mit glucksend spritzendem Merkurwasser den Menschen im Hochsommer ein andalusisches Augenzwinkern spendet. Das alles entspringt der hier rund dreihundert Millionen Jahre jungen Geologie des Schwarzwalds. Und seit dieser Zeit durften die vier Thermalquellen unter dem Florentinerberg dampfend emporsprudeln, was die Kelten bestaunten, die Römer zu Aquae in komfortable Badelandschaften verwandelten. Worin im Mittelalter Schweine brühten, menschliche Laster wie Leiden in den Trögen der Badestuben nicht enttäuscht wurden und dem großen Paracelsus als heißeste und mineralreichste Thermalschüttungen weithin – „Die heißen Wasser von Badin aber sind vollkommener als alles andere“ – eine Messe wert waren. Er behandelte 1526 den kranken Markgraf Philipp I. und man kolportierte, dass er gerne geblieben wäre, wenn man nicht so knauserig gewesen wäre. Ein herber Verlust, als Werbeikone hätte der ebenso namhafte wie umstrittene Medicus bestens zu Baden-Baden gepasst.

DONNERSTAG, 26. MÄRZ 2020

ES IST HEUTE DER VIERTE TAG NACH DEM VORLETZTEN MÄRZSONNTAG – DEM START. DIE SONNE STRAHLT IMMER NOCH. AUCH BEI KÜHLEN TEMPERATUREN BRICHT SICH DER FRÜHLING BAHN. DIE CORONA-ZAHLEN LIEGEN JETZT BEI BALD 40.000 INFIZIERTEN MENSCHEN IN DEUTSCHLAND UND STEIGEN IN STEILER KURVE. IN ITALIEN, SPANIEN UND DEN USA IST ES DRAMATISCH. ES STERBEN DORT DEUTLICH MEHR MENSCHEN ALS IN CHINA. AUS DEM ELSASS, FAST TEIL DER EIGENEN HEIMAT, LIEST MAN HEUTE DIE WACHRÜTTELNDE BOTSCHAFT: MENSCHEN ÜBER 80 JAHRE WERDEN NICHT MEHR KÜNSTLICH BEATMET. DIESE SEUCHE WIRD DIE WELT VERÄNDERN. WIR WOLLEN HOFFEN, DASS ES SICH ZUM GUTEN WENDET UND SOLLTEN JEDER AN SEINEM PLATZ ALLES DAFÜR TUN.

4.
BADEN-BADEN 1990

Deutschland strebt der Wiedervereinigung zu. Die Noch-DDR stellte in ihrer ersten demokratischen Wahl am Sonntag, dem 18. März, die Weichen unübersehbar in diese Richtung. An diesem Tag wählte die Kurstadt zeitgleich Ulrich Wendt, 44 Jahre alt, gelernter Jurist, Stabsstellenleiter des Regierungspräsidiums Karlsruhe von 1978 bis 1981, Bühler Oberbürgermeister von 1981 bis 1989, seit 1988 Landtagsabgeordneter des Wahlkreises Baden-Baden, im ersten Wahlgang zum neuen Stadtoberhaupt.

Zum 1. Juni 1990 trat er sein Amt an. Sein Vorgänger Dr. Walter Carlein blickte auf eine erfolgreiche 24-jährige Amtszeit zurück. Auf Basis des Stadt- und Kurort-Entwicklungsplans wurde systematisch und zielgerichtet von der grünen Einfahrt in Baden-Oos, der Landesgartenschau mit Schlossbergtangente, der Innenstadtsanierung als Fußgängerzone, der Umgestaltung des Leopoldsplatzes und letztlich mit dem Jahrhundertbauwerk Michaelstunnel 1989 ein veritabler Durchbruch erzielt. Die Kurstadt befreite sich im zentralen Bereich vom Durchgangsverkehr, an dem sie zu ersticken drohte. Die Realisierung der Caracalla-Therme gab der Bäderstadt einen weiteren Schub. Der Krankenhausneubau in Balg, als Meisterstück damals seiner Zeit weit voraus, bewährt sich bis heute als Zentrum des mittelbadischen Klinikums.

Mit der landesweiten Gebietsreform in Baden-Württemberg hatte die Stadt Anfang der 70er-Jahre mit den Reblandgemeinden Steinbach, Neuweier, Varnhalt sowie Sandweier, Haueneberstein und Ebersteinburg die 50.000-Einwohnergrenze überschritten und gewann wichtige Gemarkungsflächen, auch als größter kommunaler Waldbesitzer Deutschlands, hinzu. Ihr vorausgegangen war ein „mittelbadischer Befreiungskampf um Sein oder Nichtsein“. Baden-Baden, bis dahin Stadtkreis wie Stuttgart, Mannheim, Karlsruhe, sollte vom Landkreis Rastatt geschluckt werden! Das lässt sich an gefühlter Grausamkeit nur mit einem Höllenfeuer à la Hieronymus Bosch vergleichen, schlimmer noch als der Abstieg von der Landesliga in die Kreisklasse. Der junge Walter Carlein meisterte das vereint mit dem Baden-Badener Landtagspräsidenten Camill Wurz in buchstäblich letzter Sekunde. Vom Balkon des Theaters wurde es verkündet. Die Baden-Badener applaudierten begeistert, als Ludwig Braun lauthals „Freiheit!“ in die Menge rief. Es fehlte nur noch die Marseillaise.

Leider entwickelte sich die Bäder- und Kurverwaltung, die von den Spielbankgeldern gespeist und mit Kurhaus, Casino, Bädern, Kongressen, Theater, Orchester und Gartenanlagen das internationale Herzstück bildete, krass formuliert, vom Sorgenkind zum Spaltpilz. Diese BKV wurde hälftig von Stadt und Land getragen. Sie hatte glanzvolle Momente erlebt, litt in den 80er-Jahren aber zunehmend unter andauernden Streitigkeiten. Die Übernachtungszahlen, sozusagen die Pulsschlagkurve Baden-Badener Vitalität und seit den 70er-Jahren stagnierend, ließen im Auf und Ab jenseits der konjunkturellen Zyklen keine durchgreifende Besserung erkennen.

Alles kreiste letztlich um die zentrale Frage: Wem gehören die Casinoerträge von Rechts wegen, der Stadt oder dem Land? Das sogenannte „Stern Gutachten“ eines renommierten Verfassungsrechtlers, von Walter Carlein kurz vor seinem Ausscheiden in Auftrag gegeben, wurde wahrscheinlich nur deshalb gehütet wie der heilige Gral, weil es Kanzleitrost statt handfester Rechtsgrundlagen liefern konnte. Und so war es auch, wie der neue OB nach Einsicht mit dem städtischen Justiziar und späteren Ersten Bürgermeister Werner Hirth notgedrungen konstatieren musste. Leider war es nach der Gesetzeslage eindeutig „Landesgeld“.

Weil Geld auch in der Politik weniger dem Beharren auf vermeintlichem Recht, sondern der Chance neuer Wachstumsimpulse mit beflügelnder Perspektive folgt, sei hier ein auf den ersten und zweiten Blick bewusst provozierender Rekurs gestattet. Die „Geldquerele“ Stadt-Land war auch deswegen so delikat, weil es die Nazis waren, die im faschistischen Durchgriff der Stadt im Oktober 1933 wieder das Glücksspiel-Monopol ermöglichten, das ab 1935 von der 1934 gegründeten Bäder- und Kurverwaltung geführt wurde. Sie beendeten damit die Casino-lose Zeit nach dem Ausscheiden der ruhmreichen Bénazets im 19. Jahrhundert, die in Folge des Deutsch-Französischen Krieges 1871 mit der Reichsgründung begann. Preußisch dominiert, wurde die „hedonistische Casino Säule“, der Motor sämtlicher sogenannter „Santé-Plaisir-Städte“, kurzerhand beseitigt. Französische, beschwingte Lebensart wurde verbannt. Konsequent folgte dafür mit kaiserlichem und großherzoglich badischem Segen mit den neu erbauten, prachtvollen Friedrichs- und Augustabad die Stärkung der Bäderstadt. Als Taufgeschenk brillierten die Namen des Großherzogs und der Kaiserin in der Sommerhauptstadt Europas. Auf der Strecke blieb der Refinanzierungskreislauf des „sündigen Spielbankgeldes als Waschanlage“ für Gesundheit und Kultur. Übrigens ein eminent wichtiger Merkposten für die mit der Bezeichnung KURSTADT einhergehende „leicht-sinnige“ Verkürzung des Baden-Badener Potenzials. Es kann mit dem Blick zurück wie voraus ganzheitlich wohl nur mit KULTUR vereint und gebündelt werden. Im kongenialen Sinn umfasst sie damit den SWF/SWR als mediale Kraft, die mit Kur nichts verbindet, wohl aber mit einem erstklassigem Sinfonieorchester von Gielen bis Currentzis, einem New Pop Festival, das elektrisiert. Es sind altersunabhängig „juvenile Impulse“ für und aus einer Stadt, die die bundesweite, internationale Wahrnehmung braucht und wendet, um nicht mehr leichterhand in die Schublade als „Altersheim der Reichen“ geschoben werden zu können.

Auslaufmodell mit Blick auf vergangene Größe oder mit allem, was man erworben hat, was man ist, zu neuen Ufern aufzubrechen über den „point of no return“ mit höchster Dosis, mit Risiko, mit Wunden und Kompromissen und ohne Kaskoversicherung. So habe ich es empfunden. Hier grüßen aus „zukünftiger Ferne“ das Festspielhaus und als aktueller Kontrast 2020 eine Leitwerbung, die man seitens der erfolgreichen Kur & Tourismus GmbH noch optimieren könnte. Kur an erster Stelle ist unstrittig eine wirtschaftlich beachtliche, quantitative Größe. Sie ist zugleich prägender Teil unserer Geschichte. Sie spiegelt sich heute in qualitativ hochkarätiger Bäderkultur. Aber diese Kombination ist mit dieser Erstnennung „Kur“ kein Einzelstellungsmerkmal allein von Baden-Baden. Kurorte, Kurstädte mit Thermen und wirklich erstklassigen Kur- und Spa-Angeboten gibt es zahlreiche. Dies wird hinsichtlich seiner Attraktivität primär mit Schutz, Ruhe und Rehabilitation verbunden. Es setzt allein kein signifikantes Signal für einen Sehnsuchtsort unserer Herkunft, Vielfalt und Klasse. Es setzt kein Ausrufezeichen als Platz internationaler Begegnung, keines als Hidden Place-Topadresse für Kommunikation und Networking, wie zum Beispiel die Baden-Badener Unternehmergespräche. Es sollte mehr drin sein in der Headline für das Flaggschiff Baden-Baden mit Festspielhaus, Museum Frieder Burda, LA8, Staatlicher Kunsthalle, neuem Stadtmuseum, von der römischen Geburt bis zu Russen und Franzosen im 19. Jahrhundert mit Brahms, Clara Schumann, Berlioz, Turgenew und Dostojewski sowie im 20. Jahrhundert mit Furtwängler oder dem „Badener Fest“ als Mekka der modernen Musik mit Hindemith, Bartok, Milhaud, Weil und Brecht. Natürlich sind Thermen, Bäder, Kurstadt als „Herz-Stück“ unverzichtbarer, zentraler Teil der Vermarktung, aber weder das gewachsene Ganze noch – entscheidend fürs Marketing – der psychologische Treiber. Baden-Baden als die neu erwachte dynamische Kultur- und Bäderstadt wäre doch eine exzellente Reihenfolge.

Diese Bausteine für eine durchschlagende Wende nach vorne darf man im Hinterkopf behalten, wenn es in den Neunzigern um „Zerschlagung alter Strukturen“, vitale Impulse bis hin zur „Sinnstiftung“ für neue kulturelle wie auch private Ressourcen geht.

Doch zurück zum Ende der Carlein-Ära.

Das Stuttgarter Parlament hatte immer weniger Neigung, die landesweit schwierigen Verteilungskämpfe jeweils zu den anstehenden Doppelhaushalten zugunsten der Stadt zu gestalten. Baden-Baden drohte mit seinem Alleinstellungsmerkmal als internationaler Imagefaktor „lobbymäßig“ zu vereinsamen. Als es wieder mal in einer CDU-Landtagsfraktionssitzung darum ging, das geschichtlich erworbene Spielbankmonopol Baden-Badens mit seiner Dependance Konstanz vor den Gelüsten Dritter, vorrangig der Landeshauptstadt Stuttgart, zu bewahren, brachte es ein politisches Schwergewicht auf den Nenner: „Ihr benehmt euch wie ein Bordellbesitzer, der keinen Konkurrenten in seinem Beritt will“. Das sagte alles über die Stimmungslage. Diese Polaritäten spiegelten sich natürlich in der BKV im Vorstand bei Dr. Sigrun Lang wie bei den beiden Verwaltungsratsvorsitzenden wider: für das Land Ministerialdirektor Benno Bueble aus dem mächtigen Finanzministerium, für Baden-Baden OB Walter Carlein im jährlich wechselnden Rhythmus. Ulrich Wendt war ab 1988 als Landtagsabgeordneter für seinen Wahlkreis involviert. Keine leichte Situation für alle.

Zum Knall kam es dann Ende der 80er-Jahre durch die sogenannte Monaco-Pleite.

Der Versuch der BKV, an der Côte d’Azur eine Thermalbäder-Depandance zu etablieren, endete in einem finanziellen und bundesweiten medialen Fiasko. Offensichtlich wurden mit öffentlichen Geldern umfangreiche „Millionen-Verträge“ zweisprachig fixiert und besiegelt, die sich unter der Lupe des Landesrechnungshofes mit jährlichen siebenstelligen Verlusten als Fass ohne Boden entpuppten. Die Landesregierung sah sich unter den Argusaugen ihrer höchsten Prüfungsinstanz gezwungen, vor allem die Spielbankmittel drastisch zu kürzen. Es drohte der Gau: der Rückzug des Landes aus der Kurstadt. Rückzug bedeutete nicht nur Verlust an Geld, es ging um Renommee und Internationalität, existenzielle Fragen von der Hotellerie bis zum Einzelhandel. Es drohte politischer Liebesentzug für eine Diva, die die Grenzen ihrer Einzigartigkeit aus der Landesperspektive überzogen und damit sträflich aufs Spiel gesetzt hatte. Frankophile badische Lebenslust kollidierte mit schwäbischer Rigorosität sowie einem eisigen Ostwind, und zwar parteiübergreifend. Der Leitsatz des damaligen Ministerpräsidenten Lothar Späth „Baden-Baden ist uns lieb und teuer“ – meist mit einem spitzbübisch wohlwollenden Blick garniert, war dabei, in das „Noi, mir gäbet nix“ zu kippen. Zwischen den Verwaltungsratsvorsitzenden und Vorstand Sigrun Lang wurde die Verantwortung hin- und hergeschoben. Letztlich erhielt die ehrwürdige BKV einen zweiten Vorstand – Günter Götz. Kurz darauf kündigte Sigrun Lang ihren Vertrag und schied aus.

Der Scherbenhaufen war Realität. Er war gespenstig in der Perspektive für die ganze Stadt. Mit der Lähmung der BKV als eine der beiden Baden-Badener Herzkammern drohten automatisch auch Folgerisiken für die ganz „normale Bürgerstadt“. Der traditionell leider schwache Wirtschaftsstandort für Industrie und produzierendes Gewerbe lief nun zusätzlich Gefahr, auf die Bereiche Dienstleistung, Einzelhandel und Hotellerie überzugreifen. Es war höchste Zeit für einen Kurswechsel an Haupt und Gliedern, einem wirklichen Neustart. Das war die Herausforderung für den Neuen im Rathaus, dem ehemaligen Jesuitenkloster, als er sein fast quadratisches, hohes Zimmer mit den beiden bodentiefen Flügelfenstern und dem beeindruckenden weißen Kamin betrat. Er mochte es sehr. Er sollte da auf einem verdammt heißen Stuhl Platz nehmen.

MONTAG, 30. MÄRZ 2020

DIE CORONA-INFIZIERTEN-ZAHL FÜR DEUTSCHLAND GEHT ÜBER DIE 60.000 HINAUS. DIE SITUATION IN NEW YORK, SYMBOL DER AMERIKANISCHEN STÄRKE, OFFENBART EINE ACHILLESFERSE: ÜBERFÜLLTE, SCHLECHT AUSGERÜSTETE KRANKENHÄUSER UND KEIN SOZIALES NETZ ZUM AUFFANGEN BREITER BEVÖLKERUNGSSCHICHTEN. BEI UNS BLEIBT ES EHER LÄNGER WIE KURZ BEI KONTAKTSPERREN. ERSTE EXITSTRATEGIEN ZUM WIEDERANKURBELN DER WIRTSCHAFT WERDEN EVALUIERT. MEHR UND MEHR ZEICHNET MAN EINE LÄNGERE ZEITACHSE IN WELLENBEWEGUNGEN, DIE NOCH DER KONKRETISIERUNG BEDÜRFEN. NOCH IST DIE STIMMUNG IM LAND, ZWISCHEN REGIERUNG UND GESELLSCHAFT, ERFREULICH KONSTRUKTIV.

5.
DER START

Der Neue fing an zu arbeiten. Wie immer wurde man als Wahlsieger unverdientermaßen mit Vorschusslorbeeren überhäuft. Gleich für das erste Wochenende, den 2./3. Juni, hatten der Einzelhandel und die Gastronomie der Innenstadt unter dem euphorischen Aufmacher „Baden-Baden blüht auf“ – darüber war mein Vorgänger verständlicherweise gar nicht glücklich – mit einem Blumenmeer, Live-Musik, Open Air-Bars, Leckerbissen und Sonderangeboten ein Signal gesetzt. Es wurde ein Reinfall. Petrus öffnete die Schleusen. Dauer-Starkregen und kalt-windiges Wetter trieben die Blütenblätter über Pfützen, leere Plätze und Fußgängerzone. Für den umgestalteten Leopoldsplatz, dessen mit Sand gefugte Platten unter dem Druck der kreuzenden Linienbusse schon bald verrutschten und ein bis 2019 währendes Trauma verursachen sollten, war Krisenmanagement angesagt. Man suchte auf dem zentralen Platz der Stadt vergebens den neuen Blickfang. Der ersehnte langgestreckte, weiße Marmorbrunnen, Richtung Fieserbrücke, Lichtentaler Allee, Kurhaus, war unauffindbar. Dafür gähnte ein Loch. Die Kette zwischen Unternehmer und Subunternehmer war wohl gebrochen. Ich schickte eigene Leute, selbst meinen Hauptamtsleiter Josef Höß, in die Alpen, die bei der Vor-Ort-Recherche in einem Tessiner Steinbruch fündig wurden. Man bestaunte einen noch unfertigen Monolithen. Erst Monate danach sprudelte das Wasser. Es dauerte weitere Jahre, bis nach einem Gutachter-Slalom gegen die gigantischen Flieh- und Druckkräfte der öffentlichen Verkehrslinien die neue Lösung gefunden, beschlossen und umgesetzt wurde. Die Fliehkräfte waren aber auch im Gemeinderat zu verzeichnen. Egal, ob Klebstoffe, Plattengröße, Anordnung und Dicke – es wurde angesichts der Vielzahl unterschiedlichster fachlicher Expertisen zu einer Glaubensfrage. Einige Gemeinderäte streikten bei der Abstimmung. Über dem Leo hing ein Fluch, der die Stadt noch viel Energie und Geld kosten sollte.

Hier ein kritisches Licht auf mich. Ich hatte einen Ruf als Macher. Das Rathaus hatte beim Amtswechsel in der Bevölkerung nicht nur Freunde. Ich wollte ein erfolgreiches, ein bürgernahes, straff geführtes Rathaus, eines, in dem an einem Strang gezogen wird. Mit Klinik, Stadtwerken und nach der BKV-Neuordnung ab 1994/1995 waren dies über 2.000 Mitarbeiter. Ich wollte ziemlich vieles gleichzeitig. Manchmal einfach zu viel auf einmal. Bürgerbriefe sollten binnen maximal drei Wochen von mir unterschrieben und expediert werden. Bauanfragen und Genehmigungen bekamen enge Zeitfristen und wurden am kurzen Zügel kontrolliert. Die Amtsleiterrunde im Rathaus stöhnte. Ich erhöhte den Druck. Mein Wahlslogan lautete: „Nah am Bürger – konsequent – für Baden-Baden Ulrich Wendt“! Ich wollte das unbedingt einhalten. Ich musste und wollte also auf fast jeder Hochzeit tanzen. Zugleich hatte ich einen absoluten Doppel-Job. Ich war noch bis 1992 parallel Landtagsabgeordneter. Das war für die Stadt lebenswichtig, um die BKV auf neue Gleise zu setzen. Ich hatte der Badener Bevölkerung zugleich versprochen, 1992 als Abgeordneter nicht wieder anzutreten, was ich einlöste. Aber zuvor musste ich wichtige Hürden nehmen. Nur keine Blöße geben, war die Devise. Ein erster Haushaltsentwurf für 1991/1992 des CDU-Finanzministers Guntram Palm verschlug mir die Sprache. Es drohte eine brutale Kürzung der Spielbankabgabe um viele Millionen. Hätte ich in dieser Phase nicht die volle Rückendeckung einer starken Frau und Persönlichkeit, gleichzeitig Vorsitzende der CDU-Mehrheitsfraktion, Ursula Lazarus, gehabt – man hätte Entscheidendes in und für Baden-Baden nicht stemmen können. Sie wurde auch als meine Nachfolgerin als MdL ab 1992 zur unverzichtbaren, engsten Wegbegleiterin. Darüber wird noch zu reden sein. Aber so viel vorweg: Nomen est omen! Wenn man Lazarus heißt, erreicht man Herzen mit heilender Wirkung. Für einen Ministerpräsidenten, der in den kritischsten Phasen der Stadt mit dem Namen Teufel noch zum Rettungsengel werden würde, braucht es eine solche Frau! Im Gemeinderat hielt sie mir den Rücken frei. Nur mit dieser Arbeitsteilung konnte ich später die finanzielle Amputation der BKV-Mittel verhindern.

Doch zunächst galt es Zeit zu kaufen. Es wurde zwischen Land und Stadt bald darauf ein ordentlicher Prozess zur Beendigung der gegenseitigen BKV-Blockade aufgesetzt, um neues Vertrauen zwischen beiden Partnern Schritt für Schritt wieder aufzubauen.

Ich geriet in dieser extremen Phase an meine physische und psychische Belastungsgrenze. Ich hatte einen Bandscheibenvorfall, den ich lange einfach negierte. Das ständige Sitzen, das Pendeln per Auto oder Eisenbahn zwischen Baden-Baden und Stuttgart, voll genutzt für die Rathausarbeit, schufen mit den Abendterminen, den gemeinderätlichen Sitzungen, unabweisbaren repräsentativen Verpflichtungen für hochrangige Gäste mit anschließendem Dinner ein Übermaß. Zeitgleich baute ich in Baden-Baden unter dem Merkur unser neues erstes eigenes Haus. Meine Frau Gitta – wir sind zusammen seit 1968, heirateten 1973 – hatte nahezu die Alleinverantwortung für die ganze Familie mit den Kindern Julia und Tilman, elf und zehn Jahre alt, übernommen. Ein großer Umzug kündigte sich an.

Dann klappte ich zusammen. Wenige Wochen vor Weihnachten war ich schlicht bewegungsunfähig. Ich konnte weder sitzen, stehen oder liegen ohne steten Wechsel und ständigen Schmerzen mit ersten Taubheitssymptomen in den Beinen. Im Staatlichen Landesbad gleich neben der Caracalla-Therme konnte ich mich fallen lassen. Ich fand meinen Rettungsengel.


Einzug in unser neues Haus, August 1991.

Die couragierte Frau Wirbser, Leiterin der Physiotherapie, verpasste mir einen maßgeschneiderten Trainingsplan. Im Bett liegend, dann auf dem Zimmerboden, dann auch im fast leeren Haus übers Wochenende trainierte ich per Sondergenehmigung solo im Thermalbecken. Eine Operation lehnte sie kategorisch ab: „Sie kommen nicht unters Messer, ich habe schon viel zu viele Opfer gesehen.“ Drei Wochen später war ich wieder im Rathaus. Mit Disziplin, Tag für Tag über fünf Jahre hinweg, bekam ich die Sache dann endgültig in den Griff.

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