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Читать книгу: «Herz und Wissen», страница 10

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Capitel XX

Wann macht sich die Kürze der Zeit am nachdrücklichsten fühlbar; wann sieht man in beständiger Besorgniß nach der Uhr, merkt nicht die Nacht und ist überrascht, wenn es wieder Morgen ist? Wenn man eine Reise vorhat.

Wie im Fluge vergingen Ovid die wenigen Tage, und ehe er sich noch fragen konnte, ob es denn wirklich schon Freitag wäre, waren die Stunden seines Aufenthaltes zu Hause bereits gezählt. Doch hatte er noch einige Zeit übrig, als er spät am Nachmittage nach Fairfield-Gardens zurückkehrte. Da er in der Bibliothek Niemanden antraf, so ging er nach oben zum Salon und fand hier seine Mutter allein beim Lesen.

»Hast Du mir irgend etwas zu sagen, bevor ich Carmina wissen lasse, daß Du hier bist?« fragte sie mit ruhiger Stimme, ohne dabei aber vom Buche aufzusehen.

Da Ovid wußte, daß dies die erste und letzte Chance war, sich vor seiner Abreise offen auszusprechen, so entschloß er sich, in Carmina’s Interesse zu sprechen.

»Mutter«, sagte er, »ich lasse diejenige, die mir das Kostbarste in der Welt ist, in Deiner Obhut.«

»Du meinst damit«, fragte Mrs. Gallilee, »daß Du und Carmina Verlobte seid?«

»Jawohl, und ich weiß nicht, ob Du dem Bunde zustimmst. Willst Du Dich deutlicher aussprechen als das letzte Mal, da wir über diesen Gegenstand sprachen?«

»Wann war das?«

»Als ich mit Dir am Morgen, da ich hier frühstückte, auf einige Augenblicke allein war. Du erklärtest es für ganz natürlich, daß Carmina Eindruck auf mich gemacht hätte, nahmst Dich aber in Acht den Gedanken an eine Heirath zwischen uns zu ermuthigen. Ich verstand wohl, daß Dir derselbe mißfiel – Du sagtest mir aber nicht offen, warum?«

»Können Frauen immer ihre Gründe angeben?«

»Ja – wenn sie so sind wie Du.«

»Danke Dir, mein Sohn, für das reizende Compliment. Ich kann mich auf mein Gedächtniß verlassen, und glaube, daß ich auf die sich einem solchen Bunde entgegensetzenden, zu Tage liegenden Hindernisse hingewiesen habe. Ihr seid Cousin und Cousine und gehört außerdem verschiedenen Religionsbekenntnissen an. Ich will noch hinzufügen, daß ein Mann mit so glänzenden Aussichten wie Du, meiner Ansicht nach keinen Grund hat zu heirathen, wenn nicht seine Frau eine Stellung einnimmt, die im Stande ist, seinen Einfluß und seinen Ruhm zu erhöhen. Ich hatte gehofft, meinen klugen Sohn einst mit anderen hochgestellten Mitgliedern unserer Familie auf gleicher Rangstufe zu sehen. Das ist mein Bekenntniß, Ovid. War ich damals wirklich im Zweifel, so habe ich Dir nun, denke ich, gesagt warum.«

»Soll ich daraus schließen daß Du noch im Zweifel bist?«

»Nein.« Damit erhob sie sich, um das Buch wieder fortzustellen.

»Hat Carmina Dich gewonnen?« fragte Ovid, ihr nach dem Bücherschranke folgend.

»Das hat sie«, antwortete sie, das Buch wieder an seinen Platz stellend.

»Du sagst das so kalt«

»Was schadet das, wenn ich die Wahrheit sage?«

Jetzt kam der Kampf zwischen Hoffnung und Befürchtung zum Durchbruch. »O Mutter, ich kann es in Worten nicht sagen, wie ich Carmina liebe! Um Gotteswillen, nimm Dich ihrer an, und sei gut gegen sie!«

»Um Deinetwillen«, verbesserte Mrs. Gallilee von ihrem Gesichtspunkte aus sanft den Ausdruck ihres aufgeregten Sohnes. »Du thust mir Unrecht, Dich um Carmina zu sorgen, wenn Du sie hier zurückläßt. Das Kind meines seligen Bruders ist mein eigenes; dessen kannst Du versichert sein.« Dabei ergriff sie ihn bei der Hand, zog ihn an sich und küßte ihn mit Würde und Bedacht auf die Stirn, wie man vielleicht einen Todten segnen mag.

»Hast Du sonst noch Anweisungen für mich?» fuhr sie dann fort. »Zum Beispiel, hast Du etwas dagegen, wenn ich Carmina mit in Gesellschaften nehme? Ich meine natürlich in solche, die zu ihrer Bildung beitragen werden.«

»Thue, was Du kannst, um ihr Leben glücklich zu« machen, während ich fort bin«, war die einzige Anweisung, die er ihr zu geben hatte. Aber sie hatte daran noch nicht genug.

»In Bezug auf Besuche«, fuhr sie fort, »muß ich wohl vorsichtig sein, wenn ich merken sollte, daß junge Herren häufiger zu uns kommen als sonst?«

Hierüber mußte Ovid wirklich lachen. »Glaubst Du, ich zweifelte an ihr?« fragte, er. »Es giebt kein treueresMädchen auf der ganzen Welt als meine kleine Carmina!« Während er dies sagte, kam ihm ein Gedanke, der die Heiterkeit von seinem Gesichte verscheuchte und seiner Stimme alle Munterkeit nahm! »Eine Person möchte Dich vielleicht besuchen, von der ich nicht wünsche, daß sie Carmina sieht sagte er.

»Und die wäre?«

»Unglücklicherweise ist es ein Mann, der ihre Neugier erweckt hat – ich meine Benjulia.«

Jetzt war die Reihe zu lachen an Mrs. Gallilee; aber ihr Lachen gehörte keineswegs zu ihren vorzüglichsten Reizen; es klang hart und war der Ausdehnung nach beschränkt – es öffnete den Mund, ließ aber ihre Augen kalt. »Du bist eifersüchtig auf den häßlichen Doctor!« rief sie. »Ah, Ovid, was noch!«

»Da bist Du gänzlich im Irrthum«, antwortete ihr Sohn scharf.

»Was hast Du denn gegen ihn?«

Es war nicht leicht, auf diese Frage eine offene Antwort zu geben. Denn wenn Ovid erklärte, daß die chemischen Experimente Benjulia nur als Mantel dienten, die schlimmste Abscheulichkeit und die ruchloseste Verirrung der modernen Wissenschaft zu verbergen, so würde er dadurch nur bewirken, daß der Doctor in der Achtung seiner Mutter stieg; und wenn er ihr andererseits mittheilte, was bei der Begegnung im zoologischen Garten zwischen ihnen vorgefallen war, so mochte sie die Sache vielleicht mit anderen Augen ansehen als er und den Doctor auffordern, sich über den Ton, in welchem derselbe über Carmina und deren Mutter gesprochen hatte, zu erklären. Nachdem sich Ovid übereilt in dies Dilemma gestürzt hatte, zog er sich ebenso eilig und ohne besondere Ueberlegung auf die leichteste Weise wieder heraus, indem er sagte: »Ich halte Benjulia für keinen passenden Gesellschafter für ein junges Mädchen.«

Mrs. Gallilee gab sich mit dieser Erklärung mit einer Bereitwilligkeit zufrieden, die einem Argwöhnischeren als ihrem Sohne bewiesen haben würde, daß er einen Fehler begangen habe.

»Du mußt es ja wissen«, entgegnete sie; »ich werde es mir merken.« Während sie aber die Glocke zog, um Carmina rufen zu lassen, sagte sie zu sich: »Hier ist etwas nicht richtig; Benjulia soll mir sagen, was das zu bedeuten hat.«

Capitel XXI

Als Ovid in dem Zimmer allein gelassen war, schienen ihm zum ersten Mal, seitdem der Tag seiner Abreise bestimmt war, die Minuten langsam dahinzugehen ein Eindruck, den er seinem ungeduldigen Verlangen nach dem Erscheinen Carmina’s zuschrieb – —bis er an der Uhr sah, daß bereits fünf endlose Minuten und darüber verstrichen waren. Eben wollte er sich der Thür nähern, um nach der Ursache dieses Zögerns zu forschen, als dieselbe sich öffnete. Er eilte auf dieselbe zu, um Carmina zu empfangen, sah sich aber unerwartet Miß Minerva gegenüber, die hastig eintrat und ihm, ohne ihn dabei anzusehen, die Hand hinhielt.

»Verzeihen Sie, daß ich bei Ihnen eindringe«, sagte sie mit einer Hast und einem scheuen Benehmen, die ihr sonst ganz fremd waren. »Ich muß die Kinder auf ihre morgigen Stunden vorbereiten, und habe später keine Gelegenheit, Ihnen Lebewohl zu sagen. Empfangen Sie meine besten, meine innigsten Wünsche – für Ihr Wohlergehen und Ihre Gesundheit und – und für Ihr Vergnügen auf der Reise. Leben Sie wohl! Leben Sie wohl!«

Nachdem sie einen Augenblick seine Hand gehalten hatte, eilte sie nach der Thür zurück, hielt aber wieder inne, wandte sich nochmals um und sah ihn jetzt zum ersten Mal an. »Ich habe noch etwas zu sagen sagte sie hastig. »Ich werde thun, was ich kann, um Carmina das Leben in Ihrer Abwesenheit angenehm zu machen.« Und ehe er ihr noch danken konnte, war sie fort.

Als nach einer Minute Carmina eintrat, fand sie Ovid verlegen und verstimmt auf und ab gehen. Sie war der Gouvernante auf der Treppe begegnet – hatte zwischen ihnen irgend ein Mißverständnis; stattgefunden?

»Hast Du Miß Minerva gesprochen?« fragte sie. Er schlang seinen Arm um sie und zog sie neben sich auf das Sopha, dann sagte er: »Ich verstehe Miß Minerva nicht; wie kommt es, daß sie kam während ich Dich erwartete?«

»Sie bat mich um die Gunst, sie zuerst zu Dir zu lassen; und es schien ihr so viel daran zu liegen, daß ich nachgab. Ich that doch nicht Unrecht, Ovid – nein?«

»Du bist immer freundlich, mein Herz, und thust immer Recht! Aber warum konnte sie mir nicht unten mit den Anderen Lebewohl sagen? Verstehst Du diese seltsame Frau?«

»Ich glaube, ja.« Dann spielte sie mit dem Haar auf seiner Stirn und sagte nach einer Pause unschuldig. »Miß Minerva liebt Dich, die Arme.«

»Liebt mich?«

Seine Ueberraschung schien auf sie keinen Eindruck zu machen, denn sie spielte weiter mit seinem Haar und sagte: »Ich wollte sehen, wie es aussieht, wenn es in der Mitte gescheitelt ist. Nein! es steht Dir besser, wie Du es gewöhnlich trägst. Wie schön Du bist, Ovid! Wünschst Du nicht, daß ich auch schön wäre? Alle im Hause lieben Dich und bedauern, daß Du fortgehst. Ich bin Miß Minerva und Allen gut, weil sie meinen lieben, lieben Helden so lieb haben. Ach, was werde ich anfangen, wenn ein Tag nach dem andern vergeht und Dich immer weiter von mir entführt. Nein! ich will nicht weinen; Du sollst nicht mit schwerem Herzen gehen, mein Geliebter, wenn ich es verhindern kann. Wo ist Deine Photographie? Du hast sie mir versprochen. Laß mich sie, ansehen. Ja? sie gleicht Dir, und doch wieder nicht: ich werde darüber nachdenken, wenn ich allein bin. Sie hat Deine Augen, aber nicht die göttliche Freundlichkeit und Güte, die ich in denselben sehe!« Sie pausierte und legte ihren Kopf an seine Brust.

»Wenn ich Dich noch länger ansehe, werde ich trotz meines Vorsatzes weinen. Wir wollen uns nicht ansehen – auch nicht sprechen – ich kann Deinen Arm um mich fühlen – Dein Herz pochen hören. Wenn ich früher von Leuten hörte, die glücklich gestorben seien, vermochte ich das nicht zu verstehen, jetzt aber glaube ich, könnte ich glücklich sterben.« Ehe er sie tadeln konnte, legte sie ihm die Hand auf die Lippen und schmiegte sich dichter an ihn. »Still!« sagte sie weich; »still!«

So verharrten sie schweigend, ohne sich zu bewegen, in stillem Glück, bis Mrs. Gallilee plötzlich diesen Zauber brach, indem sie die Thür öffnete, auf die Uhr zeigte und wieder verschwand.

Der schreckliche Augenblick war gekommen; sie tauschten die letzten Versprechungen die letzten Küsse, die letzte Umarmung aus; und als er sie ließ, warf sie sich aufs Sofa mit einer Gebärde, die ihn beschwor zu gehen, solange sie sich noch beherrschen könne. An der Thür sah er sich noch einmal um – dann war es vorüber.

Draußen wischte er sich die Thränen aus den Augen; Kummer und Leiden kämpften heftig gegen seine Männlichkeit, doch wenn sie ihn auch erschütterten, besiegen ließ er sich nicht; und er war ruhig, als er in die Bibliothek trat, wo die Familie ihn erwartete.

Mrs. Gallilee bestieg wie gewöhnlich ihr häusliches Piedestal, beglückte ihren Sohn mit noch einem Kusse und erinnerte ihn dann an den Zug. »Wir verstehen einander, Ovid – Du hast nur noch fünf Minuten. Schreibe von Quebec aus. Jetzt, Maria, sage Lebewohl.«

Mit einer Grazie, die dem Tanzlehrer der Familie Ehre machte, trat Maria an ihren Bruder heran: »Lieber Ovid, ich bin nur ein Kind, aber ich bin aufrichtig besorgt um Deine Gesundheit. Bei dieser günstigen Jahreszeit wirst Du einer angenehmen Reise entgegen sehen. Empfange meine besten Wünsche.« Dabei bot sie ihm ihre Wange zum Kuß – und sah aus wie ein junges Wesen, das seine Pflicht gethan hatte und sich dessen vollständig bewußt war.

Aus ein Zeichen von seiner Frau trat nun Mr. Gallilee hinter der Gardine am Fenster hervor, wo er sich bis jetzt verborgen gehalten hatte. Eine seiner fleischigen rothen Hände hielt ein großes Packet der besten Cigarren, die andere umklammerte eine mächtige neue Reiseflasche.

»Mein lieber Junge, es ist möglich, daß an Bord guter Brandy und gute Cigarren zu haben sind; ich aber habe diese Erfahrung aus Dampfern nicht gemacht – Du?« Er hielt inne und wandte sich an seine Frau. »Hast Du die Erfahrung gemacht?« Mrs. Gallilee aber hielt nur ihr Coursbuch in die Höhe und schüttelte dasselbe bedeutungsvoll, so daß jener eiligst fortfuhr: »Hier ist ein ordentlicher Stoff, Ovid, wenn Du ihn annehmen willst. Fünfundzwanzig Jahr ist er alt – willst Du kosten? Willst Du kosten, liebe Frau?« Mrs. Gallilee aber ergriff wieder mit einem schrecklichen Blick ihr Coursbuch, und ihr Gatte zwängte die große Flasche in eine von Ovid’s Taschen und die Cigarren in eine andere. »Sie werden Dir wohltun, wenn Du fort von uns bist. Gott beschütze Dich, mein Sohn! Du hast doch nichts dagegen, daß ich Dich Sohn nenne? Ich könnte Dich nicht lieber haben, wenn ich wirklich Dein Vater wäre. Scheiden wir so fröhlich, wie wir können.« Und dabei rollten dem Armen die klaren Thränen über die dicken Wangen. »Wir können einander ja schreiben – nicht wahr? O, ich wollte, ich könnte die Sache so leicht nehmen wie Maria. Zo! komm und gieb dem armen Jungen einen Kuß. Wo ist Zo?

Mrs. Gallilee entdeckte sie unter dem Tische und zog sie hervor; dann nahm Ovid sein Schwesterchen auf’s Knie und fragte sie, warum sie sich versteckt habe.

»Weil ich Dir nicht Adieu sagen will!« rief die Kleine in einem Ausbruch von Kummer, der ihre ganze Gestalt erschütterte »Nimm mich mit, Ovid; nimm mich mit!« Während er sie zu trösten versuchte, rief Mrs. Gallilee’s warnende Stimme wie eine Glocke: »Schnell! schnell!« Zo’s lauter Discant aber übertönte dieselbe. »Papa will Dir schreiben – warum soll ich nicht auch schreiben?« rief sie unter Thränen.

»Liebe so, Du bist zu jung«, bemerkte Maria.

»Zum Teufel mit dem Unsinn!« schluchzte Mr. Gallilee; »sie wird schreiben!«

»Schnell! schnell!« wiederholte Mrs. Gallilee.

Ohne Antheil an dem Streite zu nehmen, adressierte Ovid zwei Couverts für die Kleine und beruhigte sie so. Dann eilte er in die Halle, warf einen Blick nach der Treppe und sah Carmina oben stehen, um noch einen Blick zum Abschiede von ihm zu erhalten. Eine Treppe höher, unbemerkbar von der Halle aus, stand Miß Minerva und beobachtete die Abschiedsscene. Unbekümmert um Eisenbahn und Dampfer eilte Ovid zu Carmina hinauf, küßte sie wieder und wieder und eilte dann hinaus aus der offenen Hausthür, gefolgt von Zo, die mit ihm in den Wagen steigen wollte. Ein letztes freundliches Wort zu dem Kinde, als es zum Hause zurückgetragen wurde; ein letzter Blick auf die vertrauten Gesichter an der Thür; eine letzte Anstrengung, dem Vorgeschmack des Todes, der jedes Scheiden verbittert, zu widerstehen – und Ovid war fort!

Capitel XXII

Am Nachmittage des auf Ovid’s Abreise folgenden Tages befanden sich die Damen im Gallileeschen Hause in Zurückgezogenheit in ihren Zimmern.

Der Schreibtisch in Mr. Gallilee’s Boudoir war mit Briefen bedeckt. Da lagen das Contobuch ihres Banquiers und ihr Chequebuch – denn Mr. Gallilee hatte seine Angelegenheiten schon lange ganz und gar seiner Frau überlassen – und neben dem Chequebuch lag ein mit Zahlengruppen bedecktes Blatt Papier, das in zwei Columnen getheilt war. Die Ziffern an der rechten Columne waren oben in eine Zeile gefaßt, während die linke Columne ganz damit ausgefüllt war. Den Fächer in der Hand, die Feder im Tintenfaß, saß Mrs. Gallilee vor dem Tische und dachte.

Es war der heißeste Tag der Saison und der Fächer daher immer in Bewegung. Sah sie die Columne rechts an, so zeigten ihre Berechnungen ihr die Bilanz bei der Bank; sah sie links, so zeigten sie ihr ihre Schulden, von denen einige theilweise, andere überhaupt noch nicht bezahlt waren. Wandte sie sich Trost suchend hiervon ab, nach den Briefen, so stieß sie auf höfliche Bitten um Geld, an erster Stelle von Kaufleuten und dann von den Secretairen fashionabler Wohlthätigkeitsvereine. Dazwischen lagen allerlei Einladungen die ebenfalls pecuniäre Verbindlichkeiten repräsentierten, denn sie bedurfte dazu neuer Anzüge und mußte die Gastfreundschaft durch Diners und Unterhaltungen in ihrem Hause erwidern. Geld und nichts als Geld, welches sie entweder schon schuldete oder noch ausgeben mußte – und woher sollte sie es nehmen?

Soweit ihre pecuniären Hilfsquellen in Betracht kamen, waren ihre Einnahmen sich ebenso regelmäßig gleichbleibend, als ihre Ausgaben beständig wachsend. Zweimal im Jahre ging das regelmäßige Einkommen aus dem angelegten Capitale in gleicher Höhe ein, und sie wußte daher besser, was sie zahlen konnte, als was sie wieder für Verpflichtungen einzugehen haben mochte Mit Takt und Geschicklichkeit war es möglich, ihre Gläubiger theilweise zu befriedigen und noch weitere sechs Monate den Schein zu wahren – aber was dann?

Nachdem sie verschiedene Cheques ausgefüllt, ihre Correspondenz mit den Geschäftsleuten erledigt und dann noch über ihre Beiträge zu den Wohlthätigkeitsveranstaltungen bestimmt hatte, nahm die eiserne Matrone ihren Fächer wieder auf, fächelte sich Kühlung zu und faßte die Frage der Zukunft fest in’s Auge. Dabei drehte sich ihr ganzes Sinnen um einen Mittelpunkt – ihren Sohn Ovid. Blieb derselbe, ganz seinem Berufe lebend, unverheirathet, so stand ihr damit eine letzte Hilfsquelle offen. Seit Jahren schon hatte er sein vom Vater ererbtes Vermögen durch den Ertrag seiner ärztlichen Praxis vermehrt und verschiedene Tausende von Pfunden zurückgelegt – aus dem einfachen Grunde, weil er sonst nichts damit anzufangen wußte, da er keinen kostspieligen Neigungen fröhnte. Die Großmuth ihres Bruders hatte Mrs. Gallilee bis soweit die harte Nothwendigkeit erspart, ihrem Sohne ein Bekenntniß zu machen, wie aber die Sachen jetzt standen, mußte sie ihm die demüthigende Wahrheit mittheilen, und Ovid würde thun, was sein Onkel früher gethan hatte.

Das war die Aussicht, wenn er Junggeselle blieb. Aber er hatte sich entschlossen, Carmina zu heirathen. Was würde daraus werden, wenn sie so schwach war, dies zu gestatten?

Sie würden natürlich Kinder bekommen, und wenn nur eins derselben am Leben blieb, so bedeutete das den Verlust des prächtigen Vermögens, das dem Testamente nach Mrs. Gallilee und ihren Töchtern zufallen sollte, falls Carmina ohne Nachkommen stürbe.

Da Mrs. Gallilee Carmina nach sich selbst beurtheilte – und beurtheilt nicht Jeder, auch wenn er noch so klug ist, seine Mitmenschen nach sich selbst? – so war sie überzeugt, daß nach der Verheirathung für sie auch nicht ein Pfennig übrig bleiben würde, um ihr die mit jeder neuen Concession, die sie den Anforderungen der Gesellschaft machte, ständig zunehmenden Schulden bezahlen zu helfen. Die junge Frau würde das großartige Beispiel ihrer Tante vor Augen haben und ja wirklich ein erbärmliches Geschöpf sein, wenn sie nicht die achttausend Pfund, die Beide – Ovid’s Verdienst mitgerechnet – jährlich haben würden, in dem Bemühen, mit der gesellschaftlichen Stellung Lady Northlake’s zu rivalisieren, vollständig darauf gehen ließe. Rechnete Mrs. Gallilee zu diesem Resultate noch den Verlust der tausend Pfund jährlich, die ihr als Vormünderin zu Gebote standen, solange das Mündel in ihrer Obhut wäre, so hatte sie das ganze Unglück vollständig vor Augen.

»Schande für mich und ein glänzendes Elend für meine Kinder: das ist der Preis, den ich bezahle, wenn Ovid und Carmina ein Paar werden.«

Als sie innerlich ihre Gedanken in dieser Form zusammenfaßte, legte sie ruhig den Fächer fort, aber ihr Aussehen verkündete Böses – und Ovid war bereits auf der See und Teresa fern in Italien!

Die Uhr auf dem Kaminsims schlug fünf, und pünktlich mit dem Glockenschlage erschien die Jungfer, um ihrer Herrin die gewohnte Tasse Thee zu bringen. Aus die Frage Mrs. Gallilee’s nach der Gouvernante antwortete das Mädchen, daß dieselbe auf ihrem Zimmer sei.

»Der Herr ist mit ihnen spazieren gegangen.«

»Haben dieselben ihre Musikstunde schon gehabt?«

»Nein, noch nicht, gnädige Frau. Mr. Le Franc sagte gestern, daß er heute Abend um sechs kommen würde.«

»Weiß Mr. Gallilee darum?«

»Ja, ich hörte, daß Miß Minerva es ihm sagte, als ich den Fräulein beim Ankleiden half.«

»Schön. Bitte Miß Minerva, auf ein Wort zu mir zu kommen!

Miß Minerva saß in ihrem Schlafzimmer am offenen Fenster und sah mit leerem Blicke auf die Hinterwände der Straße hinter Fairfield Gardens. Auch sie, bei der die böse Laune wieder die Oberhand hatte, dachte an Ovid und Carmina; zu frisch stand ihr ja noch die Abschiedsscene vom vorigen Tage vor Augen.

Je mehr sie über alles Das, was in dieser kurzen Zeit geschehen war, nachdachte, desto erbitterter wurde sie auf sich selbst. Hatte doch diese eine Schwäche, der sie unterlag, sie offen entwürdigt, ohne daß sie nur den Versuch eines Widerstandes gemacht hätte. Die Furcht, sich zu verrathen, wenn sie von dem Manne, den sie heimlich liebte, vor seiner Familie Abschied nähme, hatte sie bewogen, sich eine Gunst von Carmina zu erbittert, und das unter Umständen, die ihre Rivalin vielleicht die Wahrheit ahnen lassen konnten. Dann, als sie mit Ovid allein war, hatte sie nicht vermocht, ihre Aufregung zu beherrschen, und hatte – was noch schlimmer war – in ihrem Eifer, beim Scheiden einen guten Eindruck auf ihn zu machen, versprochen – ja, in diesem Momente des Impulses ehrlich versprochen, sich Carmina’s Glück besonders angelegen sein zu lassen, Carmina’s, die in einem Tage die Hoffnung von Jahren vernichtet; die ihn ihr entrissen; die ihn umschlungen, als er nach oben geeilt war, die ihn geküßt – vor der Dienerschaft in der Halle – inbrünstig schamlos geküßt hatte!

Von ihren Erinnerungen in wahnsinnige Wuth versetzt, sprang sie von ihrem Stuhle auf und sah hinunter auf das Pflaster des Hofes – es war tief genug, um bei einem Sprunge aus dem Fenster sofort den Tod zu finden. Kalte Verzweiflung zuckte durch die Hitze ihres Aergers; sie lehnte sich über die Fensterbrüstung – und wer weiß was geschehen wäre, da sie nichts von Furcht verspürte, wenn nicht in diesem Augenblicke draußen Jemand gesprochen hätte.

Es war die Jungfer, eine von Miß Minerva’s vielen Feindinnen im Hause, die jetzt, anstatt hereinzukommen, durch die geöffnete Thür sprach. »Mrs. Gallilee wünscht Sie zu sehen«, sagte dieselbe und machte sofort die Thür wieder zu.

Mrs. Gallilee! Der bloße Name schien ihr in diesem Augenblick verheißungsvoll, schien sie mit Hoffnung – mit sündiger, abscheulicher Hoffnung zu erfüllen.

Sie verließ das Fenster und trat vor den Spiegel und schrak vor ihrem eigenen hageren Gesicht zurück. Dann goß sie Bau de Cologne und Wasser in ihr Waschbecken und wusch sich damit den brennenden Kopf und die Augen. Darauf ordnete sie sich das Haar fast ebenso sorgfältig, als ob es gegolten hätte, vor Ovid zu erscheinen, um ein ruhiges Aeußere zur Schau zu tragen, damit seine Mutter ihr Geheimniß nicht erriethe; denn sie ahnte nicht im Entferntesten, daß dieselbe schon lange darum wußte. Aber die Kniee zitterten unter ihr und sie mußte sich eine Minute setzen.

Wurde sie nur zu einer gewöhnlichen Berathung über häusliche Angelegenheiten verlangt, oder sollte Aussicht vorhanden sein, die Frage wegen Ovid’s und Carmia’s vorbringen zu hören?

Sie glaubte, was sie hoffte: daß die Zeit gekommen, da Mrs. Gallilee einer Alliierten – vielleicht einer Mitschuldigen bedürfe. Mochte dieselbe nur die Trennung der beiden Liebenden beabsichtigen – dann war sie bereit, ihr in jeder von beiden Eigenschaften behilflich zu sein. Und wenn jene zu vorsichtig war, um mit ihrem Zwecke herauszurücken? Miß Minerva war auch in diesem Falle für ihre Beschäftigerin bereit; der Zweifel, welchen ihr fruchtlose Fragen eingegeben, als sie mit Carmina allein in deren Zimmer war – der Zweifel, ob nicht in dem letzten Theile des Testamentes, den sie nicht gehört hatte, ein Schlüssel zu Mrs. Gallilee’s Motiven zu finden sein könnte, war ihr noch immer gegenwärtig.

»Die Gelehrte ist nicht unfehlbar«, dachte sie, als sie bei Mrs. Gallilee eintrat. »Wenn ihr nur ein einziges unbedachtes Wort über die Zunge schlüpft, so werde ich es auffangen!«

Das Benehmen Mrs. Gallilee’s war von vornherein ermuthigend; dieselbe hatte ihren Schreibtisch verlassen und ruhte müde und muthlos in einem Lehnstuhle – das Bild einer Frau, die einer helfenden Freundin bedurfte.

»Der Kopf thut mir weh vom Rechnen und Briefeschreiben«, sagte sie. »Ich möchte Sie bitten, meine Correspondenz für mich zu vollenden.«

Als Miß Minerva dann ihren Platz am Pulte einnahm, entdeckte dieselbe sofort, daß die unvollendete Correspondenz nur ein falscher Vorwand war; denn es war weiter nichts zu thun, als drei Cheques für Subscriptionen zu wohlthätigen Zwecken, die an dem Datum fällig waren, mit den gewohnten Briefen an drei Secretaire abzufertigen, eine Arbeit, die in fünf Minuten geschehen war.

»Haben Sie noch etwas zu thun?« fragte die Gouvernante dann.

»Nicht daß ich wüßte. Würden Sie mir wohl meinen Fächer geben? Ich fühle mich vollständig hilflos – mir ist heute ganz elend zu Muthe.«

»Vielleicht macht das die Hitze?«

»Nein, die Ausgaben. Die Anforderungen an unsere Hilfsquellen scheinen mit jedem Jahre zuzunehmen. Es ist durchaus gegen mein Princip, die – ganze Einnahme draufgehen zu lassen – und doch bin ich dazu genöthigt.«

Auch hierin erkannte die Gouvernante wieder einen falschen Vorwand, der offenbar nur in der Absicht gebraucht wurde, den wirklichen Zwecks weshalb sie gerufen war, als etwas zufällig im Laufe des Gespräches Auftauchendes hinzustellen. Indessen gab sie dem nöthigen Bedauern mit bereitwilliger Unschuld Ausdruck.

»Dürfte ich da wohl zur Sparsamkeit rathen?« fragte sie mit unerschütterlichem Ernst.

»Das ist ja ein ausgezeichneter Rath«, gab Mrs. Gallilee zu; »wie aber soll ich das anfangen? Diese Zeichnungen zum Beispiel gehen eigentlich über das hinaus, was ich geben sollte; aber was würde geschehen, wenn ich den Betrag mindern? Ich würde mich dadurch nur ungünstigen Vergleichen mit anderen Leuten unseres Ranges in der Gesellschaft aussetzen.«

»Vielleicht kämen Sie mit einem Pferde aus«, bemerkte Miß Minerva, geduldig die von ihr erwartete Rolle weiterspielend.

»Aber Beste, sehen Sie sich die Leute an, die nur ein Pferd haben! Kann ich, wie ich situiert bin, zu denselben hinabsteigen? Glauben Sie nicht, daß ich für meine Person mir einen Pfifferling aus dergleichen machte. Nein – was ist mein Stolz und mein Vergnügen im Leben? Die Bildung meines Geistes. Aber ich habe eine Lady Northlake zur Schwester und darf mich meiner Familienverbindungen nicht gänzlich unwerth zeigen. Außerdem habe ich zwei Töchter, deren Interesse ich bedenken muß. In einigen Jahren wird Maria bei Hofe vorgestellt werden und wird dank Ihnen eins der gebildetsten Mädchen in England sein. Denken sie sich Maria’s Mutter in einen: Einspänner! Liebes Kind! erzählen Sie mir von ihren Stunden. Macht sie noch immer solche Fortschritte?«

»Examinieren Sie sie, Mrs. Gallilee; ich kann mich für das Resultat verbürgen.«

»Nein, Miß Minerva, dazu habe ich zu viel Vertrauen zu Ihnen. Nebenbei bin ich ja in einem der wichtigsten Bildungsfächer Maria’s ganz von Ihnen abhängig, da ich nichts von Musik verstehe. Für ihre Fortschritte in der Richtung sind Sie allerdings nicht verantwortlich, doch ich möchte gern wissen, ob Sie in dieser Beziehung mit ihr zufrieden sind?«

»Ja, vollständig.«

»Sie glauben nicht, daß sie – wie soll ich mich ausdrücken? – soll ich sagen, daß sie Mr. Le Franks Können entwächst?«

»Gewiß nicht.«

»Halten Sie Mr. Le Frank vielleicht auch für befähigt, Jemand, der älter und vorgeschrittener ist als Maria, in zufriedenstellender Weise zu unterrichten?«

Bis soweit hatte Miß Minerva die an sie gestellten Fragen mit gut verhehlter Gleichgültigkeit beantwortet; diese letzte aber erweckte ihre Aufmerksamkeit. Warum zeigte Mrs. Gallilee jetzt zum ersten Mal ein Interesse an Mr. Le Franks Lehrfähigkeit? Wer war dieser ältere und vorgeschrittenere Jemand, für dessen Erscheinen im Gespräche die vorigen Fragen so sanft den Weg gebahnt hatten? Sie war jetzt auf ihrer Hut und antwortete:

»Ich habe Mr. Le Frank immer für einen ausgezeichneten Lehrer gehalten.«

»Können Sie mir keine bestimmtere Antwort geben?« fragte Mrs. Gallilee.

»Ich kenne die musikalische Ausbildung des Jemand, von dem Sie sprechen, durchaus nicht«, entgegnete die Gouvernante., »Ja, ich weiß nicht einmal, ob Sie von einer Dame oder von einem Herrn sprechen.«

»Ich spreche von meiner Nichte Carmina«, sagte Mrs. Gallilee ruhig.

Diese Worte brachten jeden weiteren Zweifel zur Ruhe, denn nach solch geschickter Vorbereitung konnte die Erwähnung Carmina’s nur zu dem Thema ihrer Heirath führen – Mrs. Gallilee war endlich bei dem Zwecke, den sie im Auge hatte, angekommen.

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Дата выхода на Литрес:
06 декабря 2019
Объем:
490 стр. 1 иллюстрация
Правообладатель:
Public Domain

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