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Читать книгу: «Die neue Magdalena», страница 14

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»Was meinen Sie damit? Ich verstehe Sie nicht.«

»Haben Sie Lust, eine Straßendirne zu Ihrer Gattin zu machen?«

Horace trat einen Schritt näher. Sein zorniger Blick sagte deutlich, dass er jeden Augenblick dazu bereit sei, die unverschämte Verleumderin eigenhändig aus dem Hause zu stoßen. Lady Janet hielt ihn zurück.

»Sie hatten recht mit Ihrem eben gemachten Vorschlag, dass Grace besser das Zimmer verlasse«, sagte sie. »Wir gehen alle drei. Julian soll hier bleiben und dem Manne, wenn er hierher kommt, die nötigen Weisungen geben. Kommen Sie.«

Aber nein. Sonderbar genug war es jetzt Horace, welcher selbst Mercy zum Bleiben zu bewegen suchte. Er war zu empört, um zu bemerken, dass er seiner Würde damit etwas vergab, wenn er sich mit einer Irrsinnigen, denn dafür hielt er sie ja doch, auf gleiche Linie stellte. Zum Erstaunen seiner Umgebung schritt er nach einem Seitentisch und ergriff ein Etui, welches er beim Hereinkommen dort hingestellt hatte. Es enthielt das Hochzeitsgeschenk seiner Mutter für Mercy, welches er eben mitgebracht hatte. Sein verletztes Selbstgefühl benutzte nun die willkommene Gelegenheit, um durch die öffentliche Überreichung dieser Gabe seine Verlobte zu rächen.

»Warten Sie!« rief er zornig aus. »Dieser Elenden gebührt vorerst eine Antwort. Zu hören und zu sehen vermag sie noch; so soll sie hören und sehen.«

Er öffnete das Etui und nahm ein prächtiges Perlenhalsband in antiker Fassung heraus.

»Grace«, sagte er in feierlichem Tone, »meine Mutter sendet Ihnen mit ihren Grüßen auch ihre Glückwünsche zu unserer bevorstehenden Vermählung und bittet Sie, diese Perlen als einen Teil Ihres Hochzeitsstaates von ihr anzunehmen. Sie hat sie selbst als Braut getragen und will Ihnen, die Sie demnächst ein Glied unserer Familie werden sollen, mit diesem Familienschmuck einen Beweis ihrer Liebe geben.«

Er hob die Perlenschnur empor und befestigte sie an Mercys Halse.

Julian beobachtete sie in atemloser Spannung, wie sie die Probe bestehen würde, zu welcher Horace sie ahnungslos verurteilt hatte.

Durch die beleidigende Haltung Grace Roseberrys war aber Mercys Stolz von neuem erwacht, und dieser litt es nicht, dass sie sich jetzt vor ihrer Feindin erniedrigte; sie würde in diesem Augenblicke jeder besseren Einsicht Trotz geboten haben, nur um Gracens willen. Mit leuchtenden Augen, wie eben nur Frauenaugen beim Anblick von Juwelen leuchten können, empfing sie, den schönen Kopf anmutig neigend, das Halsband. Ihr Antlitz färbte sich in freudiger Erregung; der volle Reiz ihrer Schönheit trat hervor. Sie hatte Grace Roseberry gänzlich geschlagen! Julian senkte traurig den Kopf, sollte er sich in ihr getäuscht haben?

Horace ordnete die Perlen an Mercys Halse und sagte, sie mit Stolz betrachtend:

»Als Ihrem künftigen Gatten ist es mir erlaubt, Sie damit zu schmücken. So, und jetzt«, fügte er mit einem verächtlichen Seitenblick auf Grace hinzu, »können wir in das Bibliothekzimmer gehen. Sie hat nun gehört und gesehen; das wollte ich haben.«

Damit glaubte er, sie zum Schweigen gebracht zu haben; doch nein, ihr Widerstand war dadurch nur noch mehr gereizt.

»An Sie wird die Reihe kommen, zu sehen und zu hören«, gab sie zurück; »wenn ich nur erst meine Beweise aus Kanada habe. Sie werden hören, dass Ihre Gattin sich betrügerischerweise meinen Namen und meine Stellung angeeignet hat; Sie werden sehen, wie Ihre Gattin ehrlos aus diesem Hause gestoßen wird!«

Das war für Mercy zu viel. Mit einem wilden Ausbruch der Leidenschaft fuhr sie auf Grace los und rief:

»Sie sind wahnsinnig!«

Das zündete; es war, als ob plötzlich alle Gemüter von Zorn ergriffen würden. Auch Lady Janet stimmte ein und rief heftig:

»Sie sind wahnsinnig!«

Horace noch mehr; er war außer sich und wiederholte, die sprühenden Augen auf Grace geheftet, dieselben Worte:

»Sie sind wahnsinnig!«

Diese dreifache Anklage schmetterte sie zu Boden. Mit einemmale erkannte sie, welch furchtbarem Verdachte sie sich ausgesetzt. Ein leiser Schrei des Entsetzens entfuhr ihr, als sie zurück gegen einen Stuhl taumelte. Sie wäre sicherlich zu Boden gefallen, hätte nicht Julian, der ihr rasch beigesprungen war, sie rechtzeitig aufgefangen.

Lady Janet schritt nach dem Bibliothekzimmer voran. Sie öffnete die Tür – stutzte – und trat plötzlich zur Seite, denn auf der Schwelle stand ein unbekannter Mann.

Er sah weder wie ein Gentleman, noch wie ein Arbeiter, noch wie ein Diener aus. Sein schwarzer Anzug war aus feinem glänzendem Tuche, passte ihm aber gar nicht. Der Überrock hing nur von seinen Schultern herab; die Weste war zu kurz und zu eng und die Beinkleider glichen viel eher zwei unförmlichen Säcken; die Handschuhe waren ihm zu groß und seine tadellos glänzenden Stiefel knarrten unausstehlich bei jedem Schritte. Zudem besaß er widerwärtig wachsame Augen, denen man es sogleich ansah, wie gut sie in der Kunst, durch die Schlüssellöcher zu gucken, bewandert waren; abstehende Ohren, groß, wie die eines Affen, verrieten ebenfalls deutlich, dass ihre Bestimmung sei, an den Türen der Leute zu horchen. Sein Wesen war ruhig vertraulich, wenn er sprach, und undurchdringlich gesammelt, wenn er schwieg; es lag überhaupt etwas eigentümlich Lauerndes in allem, was er tat. So trat er in das Zimmer und sah sich anscheinend gleichgültig – wenigstens ließ er keine Überraschung oder Bewunderung merken – in dem prächtig ausgestatteten Raume um.

Auf jedes der Anwesenden warf er einzeln einen flüchtigen, prüfenden Blick aus seinen schlauen, wachsamen Augen. Er verbeugte sich gegen Lady Janet und wies, um sich einzuführen, die Karte vor, mittelst welcher er hierher berufen worden war; da stand er denn ganz gemütlich in seiner trostlosen, selbst geoffenbarten Eigenschaft als – Polizeibeamter in Zivilkleidern.

Niemand redete ihn an; jedem war zumute, als sei eine Schlange unter sie hereingekrochen.

Er blickte bei alledem ohne das geringste Zeichen von Verlegenheit einmal auf Horace, dann auf Julian.

»Kann ich mit Mister Julian Gray sprechen?« fragte er.

Julian führte Grace zu einem Stuhl. Sie blickte den Fremden starr an. Zitternd flüsterte sie: »Wer ist das?« Ohne ihr zu antworten, trat Julian zu dem Beamten.

»Warten Sie dort«, sagte er zu diesem und deutete dabei auf einen Stuhl im äußersten Winkel des Zimmers. »Ich werde sogleich mit Ihnen sprechen.«

Dieser schritt in seinen Stiefeln knarrend nach der bezeichneten Stelle hin; dabei berechnete er im Stillen, wie viel die Elle des Teppichs unter seinen Füßen gekostet haben mochte; an dem rechten Punkt angelangt, ließ er sich auf dem Stuhl nieder, auch da den Wert eines Dutzends solcher Möbel berechnend. Er fühlte sich vollkommen behaglich; ob er jetzt wartete und nichts tat, oder in die Privatverhältnisse eines jeden einzelnen der Anwesenden eingeweiht wurde, war ihm, so lange man ihn überhaupt zahlte, ganz einerlei.

Lady Janet war durch den Anblick dieses Menschen so unangenehm berührt, dass sie gar nicht mehr Miene machte, die Angelegenheit allein zu leiten. Sie überließ dies gerne ihrem Neffen. Julian warf einen flüchtigen Blick auf Mercy, ehe er einen Schritt weiter tat; denn er wusste, dass jetzt nichts mehr von ihm, sondern nur von ihr abhing.

Sie fühlte sein Auge auf ihr ruhen, während sie selbst nach dem Fremden blickte, dann wandte sie den Kopf – zögerte – und trat rasch auf Julian zu. Gleich Grace Roseberry flüsterte sie zitternd:

»Wer ist das?«

Julian sagte es ihr offen heraus.

»Was hat er hier zu tun?«

»Erraten Sie das nicht?«

»Nein!«

Horace verließ seinen Platz an Lady Janets Seite und trat zu Julian und Mercy; – dies geheime Zwiegespräch dauerte ihm schon zu lange.

»Störe ich Sie?« forschte er.

Julian verstand sogleich, was er meinte, und zog sich einen Schritt zurück. Er sah sich nach Grace um; sie saß, fast durch die ganze Länge des geräumigen Zimmers von ihnen getrennt, in ihrem Stuhl, gerade noch so, wie er sie darauf niedergelassen hatte. Der ärgste aller Schrecken – der Schrecken vor etwas Unbekanntem – schien sie erfasst zu haben. Ihr Dazwischentreten war somit jetzt nicht mehr zu fürchten; sie hörte nicht einmal, was sie sprachen; nur durften sie nicht zu laut werden. Julian gab das Beispiel, um dies zu verhindern, indem er sich mit gedämpfter Stimme an Mercy wandte:

»Horace mag Ihnen darüber Auskunft geben, was der Polizeibeamte hier zu tun hat.«

Sie richtete sogleich die Frage an ihn: »Nun, weshalb ist er hier?«

Horace blickte quer über das Zimmer nach Grace hin und antwortete: »Er soll uns nämlich diese Person vom Halse schaffen.«

»Wollen Sie damit sagen, dass er sie fortbringt?«

»Ja.«

»Und wohin bringt er sie?«

»Auf die Polizei.«

Mercy stutzte und blickte auf Julian, der noch immer jede kleinste Veränderung in ihrem Gesichte mit gespannter Aufmerksamkeit verfolgte. Ihr Blick fiel zurück auf Horace.

»Auf die Polizei?« wiederholte sie. »Wozu denn das?«

»Wie können Sie darum noch fragen?« sagte Horace gereizt. »Natürlich nur, um unter polizeilicher Aufsicht zu sein.«

»Heißt dies, sie kommt ins Gefängnis?«

»Das heißt in ein Irrenhaus.«

Wiederum wandte sich Mercy zu Julian. Doch diesmal war Entsetzen und Überraschung in ihren Zügen zu lesen. »O«, sagte sie zu ihm, »das kann nicht sein; da irrt sich Horace sicherlich?«

Julian überließ es Horace, darauf zu antworten. Er hing mit allen seinen Sinnen an ihren Zügen, um sich nicht die leiseste Regung in denselben entgehen zu lassen. So war sie gezwungen, Horace abermals zu fragen:

»Sie meinen doch nicht wirklich ein wahrhaftes Irrenhaus?«

»Ja, das meine ich«, versetzte er. »Vielleicht kommt sie zuerst in das Zwangsarbeiterhaus – und später in das Irrenhaus. Übrigens sehe ich nicht ein, was Sie daran so überrascht? Sie haben es ihr doch gerade selbst in das Gesicht gesagt, dass sie wahnsinnig ist? Guter Gott! Sie werden ja plötzlich ganz blass! Was ist Ihnen?«

Sie wandte sich zum dritten Male an Julian. Es war ihr endlich klar geworden, dass sie vor einer fürchterlichen Entscheidung stand; sie hatte nur die Wahl, entweder die Beschäftigte in die ihr allein gebührenden Rechte wieder eingesetzt, oder in ein Irrenhaus gesperrt zu sehen! – Von ihr allein hing es ab! So sprach es in ihrem Innern. Der Entschluss war gefasst. Ehe sie noch die Lippen öffnete, hatte Julian in ihren Augen den Sieg ihres besseren Selbst gelesen. Er sah sie abermals in mildem Glanze strahlen; nur noch reiner, noch heller als zuvor. Es war, als spräche in ihrem Blicke das Gewissen, das er gekräftigt, die Seele, die er errettet, die Worte zu ihm: »Nun zweifle nicht mehr an uns!«

»Schicken Sie den Mann fort.«

So sprach sie mit klarer, entschlossener Stimme, dass es bis in die entfernteste Ecke des Zimmers drang – dabei deutete sie nach dem Polizeibeamten.

Ein verstohlener Händedruck Julians sagte ihr, dass sie auf seine brüderliche Teilnahme, auf seine Hilfe zählen könne. Alle Übrigen blickten in sprachlosem Erstaunen auf sie. Grace erhob sich von ihrem Stuhl; und sogar der Beamte sprang auf. Lady Janet – sie war auf Horace zugeeilt, dessen Bestürzung und Besorgnis sie in vollstem Maße teilte – fasste jetzt Mercy hastig beim Arm und suchte sie aus ihrer vermeintlichen Erschlaffung aufzurütteln. Doch Mercy blieb fest; sie wiederholte bestimmt die Worte: »Schicken Sie den Mann fort.«

Dies raubte Lady Janet die Geduld. »Was fällt Ihnen plötzlich ein?« fragte sie streng. »Wissen Sie denn auch, was Sie damit sagen? Wir haben den Mann hierher bestellt um Ihrer, um meiner Sicherheit willen; damit wir endlich von den Quälereien dieser Person erlöst werden. Und jetzt bestehen Sie darauf – in meiner Gegenwart noch dazu, dass er fortgeschickt werde! Was soll das heißen?«

»Sie sollen es erfahren, Lady Janet; in einer halben Stunde sollen Sie es erfahren. Auch bestehe ich nicht darauf – ich wiederhole nur meine inständige Bitte, dass Sie den Mann entlassen!«

Julian trat zur Seite – wohin ihm der zornige Blick seiner Tante folgte – und sprach mit dem Polizeibeamten. »Gehen Sie wieder auf die Station zurück«, sagte er, »und erwarten Sie dort weitere Befehle.«

Ein verstohlener Seitenblick aus den wachsamen Augen dieses widerlichen Menschen streifte Julian und Mercy. Er stellte über die Schönheit der Letzteren eine ähnliche Berechnung an, wie über den Teppich und die Stühle. »Immer dasselbe«, dachte er bei sich. »Der letzte Grund von allem ist doch immer wieder eine hübsche Frau, welche am Ende doch ihren Willen behält.« Dann schritt er mit dem unvermeidlichen Stiefelgeknarr auf die Herrin des Hauses zu, verbeugte sich vor ihr und verschwand mit einem boshaften Lächeln, welches verriet, dass er von allem, was er gesehen und gehört, das Schlechteste denke, durch die Tür des Bibliothekszimmers.

Lady Janet besaß feinen Takt genug, um nicht zu sprechen, so lange der Polizeibeamte es noch hätte hören können. Als sie davor gesichert war, wandte sie sich zu Julian.

»Sie scheinen um das Geheimnis, welches dieses sonderbare Vorgehen bestimmt hat, zu wissen?« sagte sie. »Sie werden darum wohl auch einen Grund haben, weshalb Sie der Autorität, welche ich in meinem Hause genieße, so entschieden entgegengetreten sind?«

»Ich bin mir nicht bewusst, jemals gegen die Ihnen gebührende Ehrerbietung verstoßen zu haben«, antwortete Julian. »Überdies werden Sie binnen kurzem erfahren, dass ich auch jetzt nicht dagegen verstoße.«

Lady Janet blickte nach der anderen Seite des Zimmers auf Grace. Diese horchte gespannt auf das, was gesprochen wurde; sie fühlte, dass sich während der letzten paar Minuten das Blatt zu ihren Gunsten gewendet hatte.

»Gehört es vielleicht mit in Ihren neuen Plan für meine Angelegenheiten«, fuhr Lady Janet fort, »dass diese Person hier im Hause bleiben soll?«

Der Schrecken, welcher Grace vorhin beinahe zu Boden geworfen, steckte ihr noch in allen Gliedern. Sie ließ Julian statt ihrer antworten. Ehe er jedoch sprechen konnte, schritt Mercy rasch durch das Zimmer auf sie zu und flüsterte: »Lassen Sie mir nur so viel Zeit, um schriftlich mein Bekenntnis zu machen; mündlich, hier vor allen, mit diesem Schmucke an meinem Halse« – sie deutete auf die Perlenschnur – »kann ich's nicht.« Grace warf einen drohenden Blick auf sie und wandte sich dann plötzlich schweigend von ihr ab.

Mercy antwortete jetzt auf Lady Janets Frage. »Gewähren Sie ihr nur für eine halbe Stunde Zeit in Ihrem Hause«, sagte sie. »Bis dahin werden Sie auch wissen, weshalb ich Sie darum bat.«

So ließ es Lady Janet geschehen. Es lag etwas in Mercys Gesicht, in ihrer Sprache, das jede Erwiderung zum Schweigen brachte; sie fühlte das jetzt ebenso, wie es gerade zuvor Grace gefühlt hatte. Horace ergriff nun das Wort. Mit mühsam verhaltener Wut wandte er sich argwöhnisch an die neben Julian, ihm gegenüberstehende Mercy.

»Muss ich auch die halbe Stunde warten, um über Ihr befremdendes Benehmen aufgeklärt zu werden?«

Seine Hand war es gewesen, die ihr den Brautschmuck seiner Mutter um den Hals gelegt. Ein bitteres Weh erfasste sie jetzt, als sie in seinen Zügen die Betrübnis und Kränkung las, die sie hervorgerufen. Es traten ihr die Tränen in die Augen; matt und demütig antwortete sie:

»Ich bitte Sie«, war alles, was sie hervorbringen konnte; dann erstickte der Schmerz ihre Stimme und sie schwieg.

Horace fühlte sich jedoch zu sehr verletzt, um durch diese einfache Ergebung besänftigt zu werden.

»Ich kann Geheimnisse und bloße Vermutungen nicht leiden«, fuhr er sie barsch an. »In unserer Familie ist es von jeher eingeführt, dass eines dem anderen offen heraussagt, was es auf dem Herzen hat. Warum soll ich eine halbe Stunde warten, um eine Erklärung zu hören, die Sie mir jetzt schon geben können? Auf was soll ich überhaupt warten?«

Diese Worte brachten Lady Janet wieder zu sich.

»Das ist ganz meine Ansicht«, sagte sie. »Ich sehe nicht ein, worauf wir warten sollen?«

Diese deutliche, grausame Frage raubte sogar Julian seine Beherrschung; angstvoll sah er Mercys Antwort entgegen; würde ihr Mut ausreichen, um die Antwort zu geben?

Ruhig und fest sprach sie zu Horace: »Sie fragten, worauf sie eigentlich warten sollten? Ich sage es Ihnen jetzt. Sie sollen dann mehr von Mercy Merrick hören.«

Bei diesem Namen wendete sich Lady Janet voll Verdruss und Widerwillen ab.

»Verzeihen Sie – Sie wissen noch nichts von ihr. Ich, einzig und allein, kann Ihnen über sie Auskunft geben.«

»Sie?«

Sie neigte ehrerbietig den Kopf.

»Ich habe Sie gebeten, Lady Janet, mir eine halbe Stunde Zeit zu lassen«, fuhr sie fort. »Ich verspreche Ihnen hiermit feierlich, Ihnen, Lady Janet Roy und Mister Horace Holmcroft, nach Ablauf dieser Frist, Mercy Merrick hierher, vor Ihre Augen zu führen.«

Mit diesen Worten, die sie nun unwiderruflich zu dem Bekenntnis zwangen, löste sie die Perlenschnur von ihrem Halse und legte sie in das Etui zurück. Es Horace übergebend, sagte sie mit unsicherer Stimme: »Behalten Sie es indessen, bis wir uns wiedersehen.«

Horace nahm das Etui schweigend in Empfang; die Überraschung lähmte ihm die Zunge. Er bewegte mechanisch die Hand und blickte gedankenlos fragend Mercy nach. Lady Janet schien, obgleich in anderer Weise, seine eigentümliche Beklommenheit zu teilen. Ein undeutliches Gefühl, wie von Furcht und Trauer, hatte sie beschlichen. In diesem denkwürdigen Augenblick machten sich ihre Jahre geltend wie noch nie zuvor.

»Gestatten mir Lady Janet, auf mein Zimmer zu gehen?« fragte Mercy in ehrerbietigem Tone.

Lady Janet gab stumm ihre Einwilligung. Mercys letzter Blick, ehe sie das Zimmer verließ, fiel auf Grace. Ihre großen, grauen Augen schienen traurig zu fragen, ob sie jetzt mit ihr zufrieden sei? Grace wendete sich mit einer raschen, unfreundlichen Bewegung zur Seite. Doch einen Augenblick war es, als regte sich unwillkürlich selbst in diesem engherzigen Geschöpf ein Funken von Mitleid.

Im Fortgehen sagte Mercy zu Julian:

»Sorgen Sie dafür, dass sie einstweilen in einem Zimmer hier warten kann; und sagen Sie ihr selbst, wenn die halbe Stunde abgelaufen ist.«

Mit diesen Worten stellte sie Grace unter Julians Schutz.

Er öffnete für sie die Tür des Bibliothekszimmers, und flüsterte ihr zu:

»Das war gut, das war edel gehandelt! Meine vollste Teilnahme, meine beste Hilfe gehört Ihnen.«

Sie dankte ihm durch aufsteigende Tränen mit einem stummen Blick. Auch seine Augen wurden feucht. Langsam schritt sie hinaus und war im Augenblicke verschwunden.

16.
Tritte im Korridor

Mercy war allein.

Sie hatte sich eine halbe Stunde ungestörter Zurückgezogenheit auf ihrem Zimmer gesichert und war entschlossen, in dieser Zeit ihr Bekenntnis in Form eines an Julian Gray gerichteten Briefes niederzuschreiben.

In der Stellung, welche sie auch jetzt noch Horace und Lady Janet gegenüber einnahm, konnte sie es nicht über sich gewinnen, ihnen zu gestehen, dass sie sich unter fremdem Gewande in ihre Herzen einschlichen. Nur durch Julian war sie im Stande, ihre Schuld zu offenbaren, und damit Grace Roseberry in ihr Recht wieder einzusetzen.

Sollte sie ihm das Bekenntnis schriftlich mitteilen, oder es ihm von Angesicht zu Angesicht selbst sagen?

Nach allem, was zwischen ihnen vorgefallen war, hätte sie es als eine Erleichterung empfunden, ihr Herz dem Mann mündlich zu eröffnen, der sie so feinfühlend verstanden und in ihrer trostlosen Lage ihr so treu geholfen hatte. Allein Horace hatte schon zu wiederholten Malen seinen eifersüchtigen Argwohn gegen Julian kundgegeben; und so fühlte Mercy, dass sie sich selbst neue Hindernisse in den Weg legen und Julian in eine peinliche Verlegenheit bringen würde, wenn sie diesem, während Horace im Hause anwesend war, eine geheime Unterredung bewilligte.

Es blieb ihr somit nur das eine Mittel übrig; sie musste die lange, beschämende Erzählung des begangenen Betruges als Brief an Julian gelangen lassen.

Sie war entschlossen, ihm zu schreiben und am Schluss einige Winke über das Verhalten beizufügen, welches sie von ihm beobachtet zu sehen wünschte.

Es betraf die Mitteilung ihres Geständnisses an Lady Janet und Horace. Sie sollten im Bibliothekszimmer erfahren, dass Mercy, nach ihrem eigenen Bekenntnis, die Vermisste sei, welche sie sich verpflichtet hatte, ihnen vorzuführen; indessen sie selbst in einem anstoßenden Zimmer des Urteils harrte, das sie, nachdem sie die Wahrheit gehört, über sie sprechen würden. Es war ein Augenblick, der in ihr den Entschluss zur Reife brachte, jede Folge, die ihr Geständnis nach sich ziehen würde, zu ertragen; es war dies der Augenblick gewesen, da Horace – und Lady Janet hatte sich ihm hierin angeschlossen – in scharfem Tone um den Grund ihrer verzögerten Erklärung und um den Gegenstand derselben gefragt hatte. Der bittere Schmerz über seine Worte hatte ihr plötzlich den Gedanken eingegeben, sie wollte mit eigenen Ohren den Richterspruch über ihre Schuld hören, wenn der Brief an Julian ihnen dieselbe enthüllt haben wird. »Sie sollen mich nur zugrunde richten«, hatte es damals verzweifelnd in ihr gerufen; »ich habe nichts Besseres verdient.«

Sie verschloss die Tür und setzte sich an den Schreibtisch. Was sie zu tun sich vorgenommen, wollte sie jetzt tun.

Doch es war umsonst. – Nur solche, welche das Schreiben als eine Kunst betreiben, sind im Stande zu bemessen, wie wesentlich verschiedene Dinge es sind, einen Gedanken im Kopf zu haben und ihn in richtiger Form zum Ausdruck zu bringen. Die furchtbare Aufregung der letzten Stunde hatte Mercy für die schwierige Aufgabe, die verschiedenen Momente ihrer Erzählung nach der gehörigen Reihenfolge zu ordnen und in das entsprechende Verhältnis zu einander zu stellen, gänzlich unfähig gemacht. Immer und immer wieder fing sie den Brief von vorne an und immer wieder fand sie sich durch das Chaos ihrer Gedanken am Fortfahren gehindert. Hoffnungslos gab sie schließlich ihre Bemühung auf.

Sie fühlte ihren Mut sinken; immer drückender wurde die Last auf ihrem Herzen; nur durch Beschäftigung konnte sie sich jetzt vor krankhaftem Grübeln und grundlosen Befürchtungen retten.

Unwillkürlich trat ihr da zunächst der Gedanke an ihre eigene Zukunft vor die Seele. Da gab es keine Verwicklungen; da war nichts unklar. Sie begann und endete mit der Rückkehr in das Besserungshaus, wenn sie die Hausmutter noch einmal aufnahm.

Julian Gray, das wusste sie, würde sie nie verlassen; sein edles Herz würde ihr unter allen Umständen Trost und Hilfe gewähren. Aber wie konnte sie sich arglos seiner Teilnahme hingeben, da ihre Schönheit und seine Jugend den geschäftigen bösen Zungen so viel Anlass zu übler Nachrede, ja vielleicht zu schändlicher Verdächtigung der reinsten, höchsten Freundschaft gab. Und er, nur er musste darunter leiden. Er besaß einen unbescholtenen Charakter – er war Geistlicher – und beides konnte er verlieren! Nein! Um seinetwillen, aus Dankbarkeit für alles, was er getan, musste ihr Abschied von Mablethorpe-House zugleich auch der Abschied von Julian Gray sein.

Die kostbarsten Minuten verrannen. Da entschloss sie sich, an die Hausmutter zu schreiben, sie um Verzeihung und um abermalige Aufnahme zu bitten. Der Brief war leicht zu verfassen; vielleicht stärkte er ihren Geist und klärte ihre Gedanken, dass sie nachher die Lösung der schweren Aufgabe noch einmal versuchen konnte. So stand sie, bevor sie die Feder wieder ergriff, einen Augenblick am Fenster und gedachte des vergangenen Lebens, in das sie so bald zurückkehren sollte.

Ihr Fenster lag nach Osten zu. Der trübe Widerschein der erleuchteten Straßen Londons hing am Himmel, als sie ihre Augen zu demselben emporhob. Ihr war, als zöge sie dieser Schein in die Nacht ihrer früheren Straßenexistenz zurück – als zeigte er ihr höhnend den Weg nach den Brücken, die sich über den schwarzen Fluss spannen – als riss er sie über das Brückengeländer mit einem Sprung hinein – in Gottes Arme oder in das Nichts – niemand weiß es.

Schaudernd trat sie vom Fenster weg. »Sollte dies dein Ende sein«, fragte sie sich selbst, »wenn die Hausmutter die Aufnahme verweigert?«

Sie begann den Brief.

»Teuere Frau – kaum wage ich es mehr, nach so langer Zeit wieder an Sie zu schreiben. Ich fürchte, Sie haben mich als eine verstockte, unverbesserliche Sünderin bereits aus Ihrem Herzen ausgeschlossen und aufgegeben.

Ich habe bisher kein ehrliches Leben geführt; dies der Grund, weshalb ich Ihnen bis zum heutigen Tage nicht schreiben konnte. Heute will ich aber alles sühnen, was ich verschuldet, allen jenen ihr Recht werden lassen, die ich darum verkürzt habe; und so darf ich nun, mit der bittersten Reue im Herzen, wieder bei Ihnen anklopfen, bei der Freundin, die so viel Not und Elend mit mir getragen, die mich so viele Jahre hindurch gestützt und getröstet hat. O, verstoßen Sie mich nicht! Sie sind meine einzige Zuflucht!

Dürfte ich Ihnen meine ganze Schuld bekennen, vielleicht würden Sie dann milder urteilen und mir verzeihen können. Nehmen Sie mich noch einmal auf, und lassen Sie mich durch Arbeit mein Obdach und mein Brot verdienen.

Noch vor Anbruch der Nacht muss ich den Ort verlassen, von wo aus ich diese Zeilen schreibe; und ich weiß nicht, wohin ich meine Schritte lenken soll. Die kleinen Ersparnisse und das Wenige, was ich an Wertsachen jetzt besitze, muss ich hier zurücklassen; sie gehören nicht mir; ich habe sie unter falschen Vorspiegelungen an mich gebracht. Kein zweites Geschöpf auf Erden steht so hilflos da, wie ich in diesem Augenblick. Üben Sie christliche Barmherzigkeit, nicht um meinetwillen – um unseres Herren willen nehmen Sie mich auch diesmal auf.

Sie wissen, dass ich als Krankenwärterin brauchbar bin und auch mit der Nadel umzugehen verstehe; vielleicht können Sie mein Kraft in einer oder der anderen Richtung verwerten.

Gerne und uneigennützig möchte ich Kinder lehren. Allein, wie kann man von Eltern verlangen, dass sie ihr höchstes Gut so verrufenen Händen, wie den meinen, anvertrauen? Darauf darf ich nicht hoffen, und dennoch liebe ich die Kinder! Inmitten einer Kinderschar könnte ich mein Schicksal, wenn auch nicht glücklich, so doch befriedigend nennen. Gibt es denn keine Wohltätigkeitsanstalten, um verwahrloste Kinder vor dem Verderben zu erretten, das ihnen bei ihrem Leben auf den Straßen unausweichlich droht? Meine eigene unselige Kindheit schwebt mir vor – o, wie glücklich wäre ich, andere Kinder vor dem Elend zu bewahren, das mich selbst zugrunde gerichtet hat. Für diesen Zweck würde ich freudig arbeiten und unermüdlich Tag und Nacht, dem würde ich mein ganzes Denken und Fühlen weihen; irdische, mit Glücksgütern gesegnete Frauen müssten mich darum beneiden. – Versuchen Sie es, sprechen Sie ein Wort für mich; vielleicht vertraut man mir die armen, dem Hunger und der Not preisgegebenen Kleinen an. Doch ist das zu viel gefordert, so vergeben Sie mir. Ich fühle mich so verlassen, so namenlos unglücklich. – Das Leben ist mir zur Last.

Nur eines noch. Mein Bleiben hier zählt kaum mehr nach Stunden. Wollen Sie mir freundlichst auf diesen Brief mit einem telegraphischen »Ja« oder »Nein« antworten?

Sie kennen mich unter einem Namen, der hier allen fremd ist. Ich bitte Sie daher, das Telegramm an den hochwürdigen Herrn Julian Gray, Mablethorpe-House, Kensington, zu adressieren. Er ist hier im Hause und wird es mir übergeben. Was ich ihm schulde, kann ich mit Worten gar nicht sagen. Er hat mich vor gänzlicher Verzweiflung gerettet – hat mich mir selbst zurückgegeben. Gott segne ihn dafür und lohne es ihm; er ist mein bester, treuester, mein einzig wahrer Freund!

So nehmen Sie denn zum Schluss nur noch meine Entschuldigung wegen des langen Briefes, und seien Sie überzeugt von der Dankbarkeit Ihrer —«

Sie fügte die Unterschrift bei, schloss den Brief und schrieb die Adresse. Da stellte sich ihr zum ersten Male ein Hindernis in den Weg, an welches sie bisher noch nicht gedacht hatte.

Mit der Post konnte sie den Brief nicht an seinen Bestimmungsort gelangen lassen; dazu war sein Inhalt zu dringend. Es brauchte somit einen eigenen Boten. Bisher hatte sie allerdings über die ganze Dienerschaft im Hause verfügen können; aber jetzt, wo ihr in einer halben Stunde die Entlassung drohte, konnte sie doch keine Dienstleistung für ihre eigene Person mehr beanspruchen. In diesem Falle war es noch besser, den Schritt zu wagen und ohne vorher eingeholte Erlaubnis im Besserungshause zu erscheinen.

Sie überdachte ihren Entschluss noch einmal; da ward sie plötzlich durch ein Klopfen an der Zimmertür aufgeschreckt. Sie öffnete und ließ die Zofe Lady Janets, mit einem zusammengelegten Blatt Papier in der Hand, eintreten.

»Ich soll Ihnen dies von meiner Herrin überbringen, Fräulein«, sagte diese, ihr den Zettel reichend. »Es ist keine Antwort darauf zu geben.«

Sie wollte wieder gehen. Mercy hielt sie zurück. Das Erscheinen der Zofe hatte sie auf einen Einfall gebracht; sie fragte, ob jemand von den Dienstleuten diesen Nachmittag in die Stadt gehe.

»Ja, Fräulein. Einer der Diener reitet dahin; er hat dem Wagenfabrikanten einen Auftrag von Lady Janet auszurichten.«

Da lag das Besserungshaus auf seinem Wege. Unter diesen Umständen hielt es Mercy für erlaubt, sich seiner zu bedienen.

»Wollen Sie so gut sein, dem Diener diesen Brief zur Besorgung zu übergeben«, sagte sie. »Der Ort der Bestellung liegt auf seinem Wege, und er braucht ihn nur abzugeben – sonst nichts.«

Die Zofe entsprach bereitwillig ihrem Wunsch. Als Mercy wieder allein war, betrachtete sie das Blatt Papier in ihrer Hand.

Zum ersten Male hatte ihre Wohltäterin, trotzdem sie beide nur durch Türen voneinander getrennt waren, diesen Umweg eingeschlagen, um ihr eine Mitteilung zu machen. Was hatte diese Abweichung Lady Janets von ihren sonstigen Gewohnheiten zu bedeuten? War es die Entlassung, die sie in diesem Zettel schickte? Sollte ihr Scharfsinn die Wahrheit herausgefunden haben? Mercy fühlte, wie ihre Nerven immer schlaffer und schlaffer wurden. Zitternd bog sie das Papier auseinander.

Ohne Einleitung, und ohne Unterschrift lautete der Brief folgendermaßen:

»Ich muss Sie bitten, Ihre versprochene Erklärung etwas aufzuschieben. In meinem Alter sind so peinliche Überraschungen wie ich sie eben erfahren, keine Kleinigkeit mehr. Ich muss mich erst beruhigen, bis ich Sie weiter hören kann; keinesfalls sollen Sie länger warten müssen als nötig ist. Inzwischen bleibt alles beim Alten. Mein Neffe Julian und Horace Holmcroft sowohl, als auch die Dame, die ich im Speisezimmer angetroffen habe, bleiben auf meinen ausdrücklichen Wunsch hier im Hause, bis ich wieder im Stande bin, Ihnen allen gegenüberzutreten.«

Возрастное ограничение:
0+
Дата выхода на Литрес:
06 декабря 2019
Объем:
400 стр. 1 иллюстрация
Правообладатель:
Public Domain

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