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Читать книгу: «Blinde Liebe», страница 29

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Neunundsechzigstes Kapitel

Iris kehrte nach Louvain über Paris zurück. Sie mußte dort mit dem Doktor abrechnen.

Er folgte ihrer Aufforderung sogleich und suchte sie im Hotel auf.

»Nun, Mylady,« begann er mit seiner rauhen Stimme, indem er seine Hände rieb und lachte, »nun ist es endlich doch zum guten Ende gekommen! Nicht wahr?«

»Ich habe durchaus nicht den Wunsch, Doktor Vimpany, mit Ihnen eine längere Unterhaltung anzuknüpfen; bitte, beeilen wir uns, das Geschäft, das wir mit einander abzumachen haben, so schnell als möglich zu erledigen.«

»Ich hätte nicht gedacht, daß Sie, Mylady, doch noch darauf hereinfallen würden,« entgegnete er. »Jetzt darf ich auch gestehen, daß dies der schwierigste Teil der ganzen Sache war. Es ist ja ganz leicht, zu behaupten, daß ein Mann gestorben ist, aber es ist durchaus nicht leicht, das Geld von einer Versicherungsgesellschaft ausbezahlt zu bekommen. Ich muß offen gestehen, ich hätte nicht recht gewußt, wie wir das ohne Ihre Mithilfe hätten fertig bringen sollen. Sie hatten gewiß keine Schwierigkeit dabei?«

»Nicht die geringste.«

»Ich soll die Hälfte von dem Geld bekommen.«

»Ich bin beauftragt, Ihnen zweitausend Pfund zu übergeben. Ich habe sie bei mir.«

»Ich hoffe, Sie sehen ein, daß ich dieses Geld beanspruchen kann?«

»Ich glaube, Doktor Vimpany, daß Sie nicht nur dieses Geld, sondern alles, was Ihnen in Zukunft aus dieser Sache erblühen kann, reichlich verdienen. Sie haben einen Mann auf Ihren eigenen Standpunkt herabgezogen –«

»Bitte, und zugleich auch eine Frau.«

»Gewiß, auch eine Frau. Ihr Lohn dafür wird nicht ausbleiben. Ich zweifle nicht im mindesten daran.«

»Wenn der Lohn jedesmal die Gestalt von Banknoten annimmt, dann werde ich immer vergnügter sein, je größer der Lohn ist. Sie werden doch als gute Christin jedenfalls auch auf eine Belohnung rechnen, für sich selbst sowohl, wie für Ihren edlen Gatten.«

»Ich habe die meinige schon erhalten,« antwortete sie traurig. »Jetzt erlauben Sie, Doktor Vimpany, daß ich Ihnen das Geld übergebe und so mit Ihnen zu Ende komme.«

Vimpany nahm das Geld in Empfang, zählte es vorsichtig nach und that es wieder in den Beutel, in welchem es ihm von Iris übermittelt worden war. Diesen Beutel steckte er dann in seine Rocktasche.

»Ich danke Ihnen, Mylady. Ich glaube, wir haben Komplimente genug über diesen Scherz ausgetauscht.«

»Ich hoffe, das heißt, ich bitte Gott, daß Sie uns niemals wieder vor Augen kommen werden.«

»Das kann ich nicht versprechen, Mylady. In dieser engen und kleinen Welt treffen die Leute auf so sonderbare Weise immer wieder zusammen und besonders diejenigen, die dunkle Geschichten mit einander ausgeführt haben, und für die daher gar kein Grund vorliegt, einander auszuweichen.«

»Genug, genug!«

»Sie werden natürlich in der Welt, in der Sie jetzt leben, unter einem andern Namen bekannt sein.«

»Ich werde Ihnen nicht sagen, unter welchem –«

»O, bitte, bitte, das ist gar nicht nötig; ich werde den Namen schon ganz allein herausbekommen. Wir werden uns bald im Hintergrunde der menschlichen Gesellschaft begegnen.«

»Was soll das heißen?«

»Das heißt, Lady Harry, daß Ihr Gatte nicht die geringste Idee von dem Wert des Geldes hat. Die zweitausend Pfund, die Sie ihm mitbringen, werden in einem oder in zwei Jahren verschwunden sein. Was wollen Sie dann anfangen? Was mich selbst betrifft, ich kenne den Wert des Geldes so gut, daß ich mir damit immer die schönsten und angenehmsten Dinge einkaufe. Aber diese angenehmen Dinge kosten eben Geld, viel Geld. Wir wollen uns daher keinen Illusionen hingeben. Sie, Mylady, und Ihr Gatte, der edle Lord Harry, und ich, wir gehören alle zum Hintergrund, und in einem Jahr, – wenn es gut geht, in zwei Jahren, gehören wir zu dem allertiefsten Hintergrund. Ich kann wohl sagen, daß die Welt dann glauben wird, wir gehören zu dem Hintergrund, mit dem die Gerichte zu schaffen haben. Ich wünsche im übrigen Mylady ein angenehmes Wiedersehen mit Ihrem Herrn Gemahl.«

Mit diesen Worten machte der Doktor eine höhnische Verbeugung und ging aus dem Zimmer. Die Prophezeiungen, mit denen er Iris verabschiedet hatte, verließen sie nicht und begleiteten sie auf ihrer Reise, die dadurch nur mit um so schwererem Kummer belastet wurde. Der nächste Tag fand sie auf dem Wege nach Louvain.

* * *

Dort begann nunmehr ein neues Leben, ein Leben der Verborgenheit und der Unwahrheit. Iris besorgte pünktlich ihre Haushaltung, aber sie wagte es nicht, aus dem Hause wegzugehen, ohne einen dichten Schleier vor das Gesicht zu binden. Ihr Gatte, der die Entdeckung gemacht hatte, daß doch zuweilen englische Reisende von Brüssel einen Abstecher nach Louvain machten, seines Rathauses wegen, ging überhaupt nur abends aus. Sie hatten keine Freunde und keine Geselligkeit irgend welcher Art.

Das Haus, das sie bewohnten, lag ganz abgeschlossen hinter einer hohen Mauer in einem Garten, in der ruhigsten Gegend der alten Stadt. Nicht das geringste Geräusch drang bis dorthin, und ebenso sprachen die beiden Leute, die dieses Haus bewohnten, sehr selten mit einander. Sie trafen überhaupt nur bei zwei Gelegenheiten zusammen: beim Frühstück und beim Mittagstisch. Während der übrigen Zeit saß Iris in ihrem Zimmer und Lord Harry in dem seinigen, oder er ging stundenlang im Garten spazieren – schweigend, in sich gekehrt.

So schwanden die Tage eintönig dahin; die Uhren tickten, die Stunden verliefen. Die beiden Eheleute nahmen ihre Mahlzeiten; sie schliefen, standen auf, kleideten sich an und nahmen wieder ihre Mahlzeiten ebenso schweigend und gedrückt wie an den vorhergehenden Tagen ein. Das war der Lauf ihres Lebens, und das war auch alles, was sie von der Zukunft erwarten konnten.

Drei Monate lang hielt Iris dieses Leben aus. Von der Außenwelt erfuhr sie überhaupt nichts mehr. Ihr Gatte hatte selbst das vergessen, was im modernen Leben als das Unentbehrlichste zu gelten pflegt: die Zeitungen. Sie hätte sich ja vollkommen für diese Einsamkeit und Abgeschlossenheit entschädigt gefühlt, wenn das Leben, das sie führte, das Leben in einem Paradiese gewesen wäre. Aber es war ein Gefängnis, in das die beiden zusammen eingesperrt waren, und in dem gleichwohl das Bewußtsein ihrer schweren Schuld zwischen ihnen stand, über die sie kein Wort zu sprechen wagen und die doch keinen andern Gedanken in ihnen aufkommen ließ.

Lord Harry sah immer in den Augen seiner Frau einen Vorwurf. Ihr trauriger und bekümmerter Blick sagte ihm deutlicher als Worte: »Du bist es, der mich so weit gebracht hat.«

Eines Morgens blätterte Iris ohne besondere Absicht in den Papieren, die in ihrem Schreibtisch lagen. Es waren alte Briefe, alte Photographien und alle möglichen unbedeutenden Dinge, welche sie an die Vergangenheit erinnerten, – eine Frau hebt ja alles auf – kleine Andenken an ihre Kindheit, an ihre erste Gouvernante, an ihren ersten Schulunterricht, an ihre Schulfreundschaften und mehr dergleichen. Während Iris diese Sachen durchsah, eilte ihr Geist zurück in die längst vergangenen Tage. Sie wurde wieder ein junges Mädchen, unschuldig, liebefrei: sie wurde größer und war eine Frau, auch noch unschuldig. Dann übersprang ihr Geist die Zwischenzeit bis in die Gegenwart, und sie sah sich, wie sie jetzt war – nicht mehr unschuldig – herabgekommen und verächtlich als Mitwisserin eines gemeinen Verbrechens.

Ihr war wie einem, der eine bunte Brille getragen hat und dieselbe nun ablegt und infolge dessen die Dinge in ihrer wirklichen Färbung wahrnimmt; sie sah, wie sie durch blinde Liebe auf den Standpunkt des Mannes herabgezogen worden war, der sie an sich gefesselt hielt; und sie sah den Mann, wie er in Wirklichkeit war, leichtsinnig, wankelmütig und unbekümmert um Namen und Ehre. Und dann stellte sie sich zum erstenmal den Abgrund, in den sie hinabgesunken war, vor, und dachte an das Leben, das sie hinfort gezwungen war zu führen. Die blinde Liebe schwand ganz in ihr, sie war endlich tot; aber trotz alledem blieb sie an den Mann gefesselt durch eine Kette, die nichts zerreißen konnte; zum erstenmale seit langer Zeit befand sie sich jetzt in dem vollständigen Besitz ihres klaren Verstandes; sie sah die Dinge so, wie sie wirklich waren; aber dieses Wissen kam zu spät.

Ihr Gatte machte keinen Versuch, die Entfremdung, die seit einiger Zeit zwischen ihnen entstanden war, zu beseitigen: sie nahm im Gegenteil von Tag zu Tag immer mehr zu; er lebte für sich allein und saß in seinem Zimmer, mehr Cigarren rauchend und mehr Cognac mit Wasser trinkend, als für ihn gut war; zuweilen durchschritt er den Garten. Am Abend nach dem Diner ging er aus und durchwanderte die leeren Straßen der ruhigen, kleinen Stadt. Ein- oder zweimal wagte er ein Café zu betreten, setzte sich dort in einen Winkel und zog den Hut tief über die Augen herab. Trotzdem aber blieb es gefährlich. Meistenteils durchwanderte er daher nur ruhelos die einsamen Straßen und sprach mit keinem Menschen.

Inzwischen war der Herbst vergangen, und der Winter begann mit nassen, unangenehmen Tagen. Immerfort regnete es, und die Straßen und Wege wurden fast unbeschreitbar. Lord Harry saß auf seinem Zimmer und rauchte den ganzen Tag über. So nahm die traurige Einsamkeit immer noch zu.

Eines Tages – es war nach dem Frühstück – fing er an, darüber zu sprechen.

»Iris,« sagte er, »wie lange soll das so fortgehen?«

»Das – was?«

»Dieses Leben, diese elende Einsamkeit und Schweigsamkeit?«

»Bis wir sterben!« antwortete sie. »Was erwartest Du anderes? Du hast unsere Freiheit verkauft, und wir müssen uns nun in Geduld fügen.«

»Nein, ich werde ein Ende damit machen; ich kann es nicht länger ertragen.«

»Du bist noch jung; Du wirst vielleicht noch vierzig Jahre oder mehr zu leben haben und zwar ganz in derselben Weise wie jetzt, so einsam und verlassen. Es ist der Preis, den wir zahlen müssen.«

»Nein,« antwortete er, »es kann, es darf nicht so fortgehen.«

»Du würdest allerdings besser thun, wenn Du nach London gingest und in Piccadilly spazieren gingest, um ein wenig Gesellschaft zu bekommen!«

»Was kümmert es Dich, was ich thue oder wohin ich gehe?«

»Wir wollen uns gegenseitig keine Vorwürfe machen, Harry.«

»Was thust Du denn seit langer Zeit anderes, als daß Du mir mit Deinen traurigen Blicken und Deinem Stillschweigen Vorwürfe machst?«

»Wenn Du es kannst, so mache ein Ende. Suche nach einem Ausweg aus dieser Trostlosigkeit.«

»Ich habe einen Plan entworfen. Höre zu, Iris. Wir können dieses Leben nicht länger so fortsetzen. Es macht mich wahnsinnig.«

»Mich auch. Aber eben deshalb brauchten wir nicht den Wunsch nach Abänderung zu haben, denn Wahnsinnige vergessen? sie glauben irgendwo anders zu sein, und für uns würde es an sich Glück bedeuten, wenn wir glaubten, wir wären anderswo.«

»Ich bin entschlossen, es zu ändern, auf jede Gefahr hin. Wir werden Louvain verlassen.«

»Wir können allerdings,« antwortete Iris kühl, »eine andere Stadt in Frankreich oder Belgien aufsuchen, wo wir wiederum ein kleines Haus finden, hinter hohen Mauern in einem Garten gelegen, und können uns dort von neuem verbergen.«

»Nein, ich will mich nicht länger verbergen. Ich bin dessen überdrüssig.«

»Nun, was ist denn dann Dein Plan? Soll ich etwa noch einmal behaupten, irgend jemands Witwe geworden zu sein?«

»Wir wollen nach Amerika gehen. Dort gibt es Gegenden in den Vereinigten Staaten, wohin kein Engländer kommt, weder als Reisender noch als Ansiedler, Gegenden, in denen man gewiß noch nichts von uns gehört hat. Wir werden dort eine ruhige Stadt aufsuchen, ein kleines Gut kaufen und uns unter den anderen Ansiedlern niederlassen. Ich verstehe etwas von Landwirtschaft: wir brauchen also keine Sorge zu haben, daß sich unser Plan nicht bezahlt macht. So können wir wieder zu einem menschenwürdigen Leben kommen, und dann, Iris, wirst Du vielleicht, wenn wir wieder mit Menschen zusammen verkehren – wirst Du vielleicht« – er zögerte einen Augenblick – »wirst Du vielleicht im stande sein, mir zu verzeihen und mich wieder wie früher liebgewinnen. Es geschah ja alles um Deinetwillen.«

»Nein, es geschah nicht um meinetwillen. Sage diese Unwahrheit nicht noch einmal. Das alte Vertrauen, die alte Liebe werden niemals zurückkehren, Harry. Sie sind für ewig dahin, sie sind gestorben. Ich habe aufgehört. Dich und mich selbst zu achten. Die Liebe kann nicht den Verlust der Selbstachtung überdauern. Wer bin ich, daß ich irgend jemand Liebe schenken könnte, und wer bist Du, daß Du Liebe erwarten könntest?«

»Willst Du mit mir nach Amerika gehen – ob Du mich nun liebst oder nicht? Ich kann nicht länger hier bleiben, ich will nicht länger bleiben.«

»Ich werde mit Dir gehen, wohin Du willst. Es würde mir angenehm sein, wenn wir keine Gefahr liefen, jemand zu begegnen, denn es gibt noch Menschen, denen es Schmerz verursachen würde, Iris Henley schuldig zu sehen, im Bunde mit zwei Männern an einem Verbrechen beteiligt.«

»Ich würde an Deiner Stelle, wenn ich Du wäre, Iris, mich daran gewöhnen, nicht allzu offen über solche Dinge zu sprechen. Ueberlaß die Sache ganz mir; ich werde sie schon richtig angreifen. Wir werden mit dem Nachtzug von Brüssel nach Calais reisen und von dort weiter nach Havre. In Havre wählen wir einen Dampfer nach New-York, denn kein Engländer fährt jemals mit dieser Linie. Wenn wir einmal in Amerika sind, dann werden wir irgend einen entlegenen Staat aussuchen, vielleicht Kentucky oder einen andern, und uns dort in irgend einer kleinen Landstadt niederlassen. Nach anderem habe ich kein Verlangen. Ich will nur den Rest meines Lebens ruhig verbringen und keine weiteren Abenteuer erleben. Bist Du damit einverstanden, Iris?«

»Ich werde alles thun, was Du wünschest,« antwortete sie kalt.

»Gut, dann laß uns keine Zeit mehr verlieren. Ich fühle mich hier beunruhigt und beängstigt. Willst Du nach Brüssel reisen und dort ein Reisehandbuch kaufen, das uns genau die Zeit angibt, wann die Schiffe abgehen und wie viel das Ueberfahrtsgeld beträgt und was wir sonst noch zu wissen brauchen? Wir werden natürlich alles Geld, das wir besitzen, mit uns nehmen, um uns dort ankaufen zu können. Du mußt also an Deinen Bankier schreiben. Wir können es leicht so einrichten, daß uns das Geld nach New-York nachgeschickt wird. Für die vierzehn Tage auf der See brauchen wir ja keine weiteren Ausgaben. Ich habe alles wunderschön eingerichtet. Jetzt sieh mich wieder so an wie früher, Kind.« Er ergriff ihre Hand, die sie ihm willig überließ. »Ich möchte Dich wieder lachen und glücklich sehen.«

»Das wirst Du niemals wieder.«

»O doch, wenn wir uns erst von diesem verderblichen, ungesunden Leben befreit haben, wenn wir wieder mit unseren Nebenmenschen verkehren. Du wirst dann dieses – dieses kleine Geschäft, das, wie Du weißt, eine unglückliche Notwendigkeit war, vergessen.«

»O, wie kann ich das jemals?«

»Neue Interessen werden unsere Gedanken in Anspruch nehmen, neue Freundschaften geschlossen werden.«

»Harry! Mir selbst werde ich es nie verzeihen können. Lehre mich das, und ich werde alles vergessen.«

Er erwiderte:

»Nun gut! Reise jetzt nach Brüssel und besorge das Nötige. Versuche es nur, diese thörichte moralische Empfindlichkeit zu überwinden, die übrigens viel zu spät kommt, und Du wirst sehen, wie leicht das geht, wenn wir erst einmal andern Boden unter unseren Füßen spüren und wieder eine freiere Luft atmen.«

»Ich werde sofort gehen und den nächsten Zug benützen.«

»Das ist der Zug, der um dreiviertel auf zwei Uhr von hier abfährt. Du kannst dann in Brüssel alles ruhig besorgen, was nötig ist, und mit dem Fünfuhrzug wieder heimkehren. Iris, die Möglichkeit einer Veränderung, einer Verbesserung unserer Lage macht mich ungeduldig. Laß uns gleich morgen reisen, laß uns mit dem Nachtschnellzug fahren; den werden zwar auch englische Reisende benützen, aber sie sollen mich nicht erkennen. Um ein Uhr morgens sind wir dann in Calais. Von dort fahren wir mit einem früheren Zug weiter, bevor der englische Dampfer in den Hafen einläuft. Kannst Du bis morgen mit allem bereit sein?«

»Ja. Es gibt nichts, das mich aufhalten könnte. Ich hoffe, wir können die Hausmiete zahlen, so daß wir jederzeit reisen können. Ich will daher gleich nach Brüssel fahren und Deine Aufträge besorgen.«

»Dann laß uns noch heute nacht abreisen.«

»Wie Du willst, ich bin jederzeit bereit.«

»Nein, das geht doch nicht gut. Das würde aussehen, als ob wir davonliefen. Wir wollen lieber erst morgen nacht fahren. Du wirst außerdem zu ermüdet sein, wenn Du jetzt nach Brüssel fährst und dann wieder zurückkommst. Iris, wir werden wieder glücklich werden. Ich weiß es, wir werden es wieder.« – Zum erstenmal blickte er wieder offen und zuversichtlich in ihre Augen. – »Jetzt geh, liebes Kind,« fügte er hinzu, »und besorge die Sachen, die wir brauchen.«

Sie band ihren dichten Schleier vor das Gesicht und trat ihre kurze Reise an. Daß so plötzlich ihres Gatten guter Mut zurückgekehrt war, gab auch ihr einen neuen Hoffnungsschimmer. Die Veränderung würde in der That heilbringend sein, wenn ihrem Gatten die Möglichkeit geboten war, wieder mit anderen Männern in Verkehr zu treten und für sie, wenn sie dadurch eine Beschäftigung fand. Was das Vergessen anbetrifft, wie konnte sie die Vergangenheit vergessen, so lange sie die Früchte ihres Verbrechens einernteten in Gestalt von soliden Dividenden?

Sie fand ohne große Mühe, was sie suchte. Der Dampfer der Compagnie generale Transatlantique verließ Havre alle acht Tage. Sie würden mit dieser Linie fahren. Je länger sie diesen Plan überlegte, um so mehr empfahl er sich. Sie würden auf jeden Fall aus dieser traurigen Gefangenschaft befreit werden. Es würde doch endlich eine Aenderung in ihrem Leben eintreten. Elende Lage! Keine andere Wahl zu haben als ein Leben der Verbannung und des Verborgenhaltens! Keine andere Aussicht als diejenige eines fortgesetzten Betruges, der jedesmal erneuert wurde, so oft die Post ihnen Geld brachte!

Nachdem sie alle ihre Besorgungen gemacht hatte, blieb noch eine Stunde bis zum Abgang des Zuges übrig. Sie wollte diese Zeit benützen, um eine Wanderung durch die Straßen von Brüssel zu machen. Die Bewegung und das Leben dieser heiteren Stadt, wo alle Menschen, bis auf die Marktweiber hinaus, jung zu sein schienen, gefielen ihr ausnehmend. Es war lange Zeit vergangen, seitdem sie nichts von der Lebhaftigkeit gesehen hatte, welche die Straßen einer großen Stadt kennzeichnet. Sie wanderte langsam dahin und betrachtete die Läden. Sie machte zwei oder drei kleine Einkäufe. In einem Laden, der mit Tauchnitz-Ausgaben angefüllt war, kaufte sie zwei oder drei Bücher. Dann wurde sie von dem langen Herumwandern müde und hielt es für besser, den Weg nach dem Bahnhof anzutreten. Da erinnerte sie sich aber daran, daß sie Fanny Mere gebeten hätte, ihr nach Brüssel zu schreiben.

»Ich bin doch neugierig,« sagte sie zu sich, »ob Fanny es wirklich gethan hat.«

Sie erkundigte sich nach dem Weg zum Postamt. Es blieb ihr nicht mehr viel Zeit übrig, sie mußte schnell gehen.

Auf der Post fand sich ein Brief für sie, ja, noch mehr als ein Brief, ein ganzes Paket, augenscheinlich ein Buch.

Sie nahm es in Empfang und eilte nach der Bahn zurück.

Während der Fahrt beschäftigte sie sich damit, die neuen Tauchnitz-Ausgaben durchzublättern. Den Brief von Fanny Mere wollte sie erst zu Hause nach dem Essen lesen.

Während des Essens sprachen die beiden Gatten lebhaft mit einander. Lord Harry war aufgeregt durch die Aussicht, wieder unter Menschen zu kommen. Er hätte sein Einsiedlerleben, wie er sagte, lange genug genossen. Er müsse jetzt wieder die Gesellschaft von anderen Menschen aufsuchen.

»Setze mich mitten unter Wilde,« sagte er, »und ich will mich doch mit ihnen befreunden; aber allein leben, das ist fürchterlich. Morgen wollen wir unsere neue Flucht antreten.«

Nach dem Essen zündete er sich eine Cigarre an und fuhr fort, über die Zukunft zu sprechen. Iris erinnerte sich des Pakets, das sie auf dem Postamt bekommen hatte, und öffnete es. Es enthielt ein vollgeschriebenes Buch und einen kurzen Brief. Sie las den Brief, legte ihn dann weg und öffnete das Buch.

Siebzigstes Kapitel

»Ich werde mich freuen, ein Farmer zu werden,« fuhr Lord Harry fort, während Iris das Buch öffnete und Fannys Niederschrift zu lesen begann. »Ja, ich freue mich darauf, nach allen meinen Abenteuern mich an einem ruhigen Ort niederzulassen und den Boden zu bebauen. An Markttagen werden wir zusammen in die Stadt fahren« – er sprach, als ob Kentucky Warwickshire wäre – »neben einander in einem kleinen Wagen sitzend. Wir werden Getreideproben in kleinen Säckchen mit uns führen, und Du wirst Butter und Käse in Deinem Korb haben. Zur gewöhnlichen Zeit werden wir dann bescheiden zu Mittag speisen, und nach dem Essen werde ich bei einem Glase Grog und einer Pfeife mit Dir über das Wetter und die Ernte plaudern. Und während wir so in Verborgenheit glücklich zusammenleben, wird der Name Lord Harrys hier in Vergessenheit geraten. Das ist sonderbar, nicht wahr? Wir sollen weiter leben, nachdem wir längst tot, begraben und vergessen sind! Beim Jupiter, Iris, wenn wir erst einmal alte Leute sind, dann werden wir in die Heimat zurückkehren und uns zusammen die alten Orte, an denen wir gelebt haben, ansehen! Es ist doch etwas Angenehmes, wenn man auf etwas hinblicken kann, wenn man einen gewissen Lebenszweck hat. Ich fühle mich heute abend außerordentlich glücklich, Iris, glücklicher, als ich seit Monaten gewesen bin. Dieser langweilige Ort hat uns beide hypochondrisch gemacht. Ich murre nicht gern, aber diese Einsamkeit und Abgeschlossenheit hat mich doch furchtbar verstimmt, und Dir ist es genau ebenso gegangen. Du bist dadurch veranlaßt worden, über allerhand unmögliche und unnötige Dinge nachzugrübeln. Jetzt blicke ich für meinen Teil wieder hoffnungsfreudiger in die Zukunft. Wir waren ja hier ganz angenehm von der Vergangenheit abgeschnitten, aber damit ist es jetzt vorbei; wir wollen überhaupt an die Vergangenheit gar nicht mehr denken. Was geschehen ist, kann niemals entdeckt werden. Nicht eine Seele weiß es außer dem Doktor, und zwischen ihn und uns haben wir einige tausend Pfund gestellt. – Ja, was ist Dir denn, Iris? Was fehlt Dir denn?«

Iris war nämlich plötzlich aufgestanden; sie hatte bisher unausgesetzt in dem Buch gelesen, während ihr Gatte weitergesprochen hatte. Jetzt ließ sie das Buch fallen und blickte ihren Gatten mit entsetzten Augen an.

»Was gibt es denn?« fragte Lord Harry noch einmal.

»Mein Gott, ist das wahr? – Ist das wirklich wahr?«

»Was denn?«

»Ich kann es nicht sagen. Kann denn dies überhaupt wahr sein?«

»Was denn? So sprich doch nur, Iris!« Er sprang von seinem Stuhl auf. »Ist es – ist es entdeckt?«

»Entdeckt? – Ja, alles – alles – alles – alles ist entdeckt!«

»Wo? Wie? Gib mir das Buch, Iris, schnell, gib es mir! Wer weiß es? Was weiß man?«

Er riß ihr das Buch aus der Hand. Sie schrak zurück vor der Berührung seiner Hände. Sie stieß ihren Stuhl weg und stand aufrecht, als ob sie sich gegen einen unvermuteten Augriff verteidigen sollte, während sie die verstörten Blicke auf ihren Gatten heftete, wie man sie aus etwas Gefahrdrohendes zu heften pflegt. Er überflog hastig die Aufzeichnungen Fannys Seite für Seite, denn er wollte alles wissen, selbst wenn es das Schlimmste wäre. Dann warf er das Buch auf den Tisch.

»Nun?« fragte er, ohne die Augen zu erheben.

»Der Mann ist ermordet worden, ist auf gemeine Weise ermordet worden,« flüsterte sie mit rauher Stimme.

Er gab keine Antwort.

»Und Du hast zugesehen, während er ermordet wurde. Du hast zugesehen und warst damit einverstanden? Du bist ein Mörder!«

»Ich habe keinen Teil daran gehabt. Ich wußte damals nicht und weiß auch jetzt noch nicht, ob er vergiftet worden ist.«

»Das ist eine Lüge! Du wußtest es ganz genau schon damals, als er in Dein Haus kam. O, der tote Mann, der ermordete Mann, der befand sich in der Villa, als ich bei Dir war. Deine Hände waren rot von Blut, als Du mich hinwegbrachtest, damit ich nicht weiter im Wege stünde und damit ich es nicht bemerken sollte!«

Sie hielt inne, – sie konnte nicht weiter reden.

»Ich wußte es nicht, Iris, wenigstens nicht mit Bestimmtheit! Ich glaubte, daß er sterben würde damals, als er in mein Haus kam. Aber er starb nicht; er wurde sogar von Tag zu Tag gesünder. Als der Doktor ihm die Medizin gab, nachdem Dein Kammermädchen fort war, da schöpfte ich den ersten Verdacht. Und dann, als er starb, dann war mein Verdacht gerechtfertigt. Da forderte ich den Doktor auf, mir die Wahrheit zu gestehen. Er leugnete sie nicht. Glaube mir, Iris, ich habe weder davon gewußt, noch etwa gar damit übereingestimmt.«

»Das ist auch wieder nicht wahr! Du hast Dich nur dabei beruhigt. Du hast stillschweigend beigestimmt. Denn Du hättest sonst dem – dem andern Mörder sagen sollen, Du würdest der Polizei anzeigen, woran der Mann gestorben. Das thatest Du aber nicht. Du zogst im Gegenteil Vorteil aus seinem Tode. Denn der Tod dieses armen Unglücklichen setzte Dich in stand, Deinen Betrug mit meiner Hilfe auszuführen. Ja, mit meiner Hilfe! Du hast mich zur Genossin eines Mörders gemacht.«

»Nein, meine Iris, Du hast nichts davon gewußt! Kein Mensch kann Dich jemals anklagen, daß –«

»Das verstehst Du nicht. Ich bin es, die selbst eine Anklage gegen sich erhebt.«

»Was das Mädchen schreibt,« fuhr ihr Gatte fort, »ist leider wahr. Ich halte es für vollständig nutzlos, irgend ein Wort davon abzuleugnen, denn sie war ja hinter dem Vorhang verborgen. Sie hörte und sah alles. Mein Gott im Himmel, wenn Vimpany sie gefunden hätte! Was würde er dann gethan haben? Er hatte doch recht! Niemand ist gefährlicher als eine Frau. Ja, sie hat Dir genau erzählt, was geschehen ist. Sie hegte überdies schon länger Argwohn. Wir hätten so klug sein sollen, sie schon längst fortzuschicken und unsere Pläne zu ändern. Das kommt aber daher, wenn man zu schlau sein will. Der Doktor glaubte, daß gar nichts anderes nötig sei als der Tod dieses Mannes. Ich glaubte, das heißt, wir beide glaubten, daß er eines natürlichen Todes sterben werde. Das that er aber nicht, und ohne seinen Tod waren wir ratlos. Wir brauchten einen toten Mann, Iris; ich verspreche Dir, ich will nichts vor Dir verheimlichen, was sich ereignet hat. Ich will alles gestehen. Ja, Du hast recht. Du hast recht, ich wußte, daß er sterben werde. Damals, als es ihm besser ging, da glaubte ich an Vorbedeutung, weil ich wußte, daß es ihm nicht beschieden sein sollte, gesund aus der Villa wegzugehen. Denn auf welche Weise sollten wir uns einen Leichnam verschaffen? Es ist kaum möglich, einen Leichnam zu stehlen oder sonst einen aufzutreiben, und wir mußten doch einen haben als Beweis des Todes von Lord Harry Norland. Ich bekenne,« – seine Stimme klang rauh und wild – »ich bekenne, daß ich wußte, daß er sterben mußte. Ich las sein Todesurteil in dem Gesicht des Doktors, und wir hatten kein Geld mehr für einen neuen Versuch, wenn Oxbye wieder gesund werden und fortgehen würde. Sobald es so weit war, bemächtigte sich meiner ein tödlicher Schrecken. Ich würde alles darum gegeben haben, alles, wenn der Mann sich von seinem Bett erhoben hätte und weggegangen wäre. Aber es war zu spät. Ich sah, wie der Doktor ihm seine letzte Medizin zubereitete, und als der Kranke das Glas an seine Lippen setzte, da sah ich in den Augen Vimpanys, daß es der Todestrank des Dänen war. Jetzt habe ich Dir alles bekannt.«

»Ja, Du hast mir alles bekannt,« wiederholte sie, »alles, Gott im Himmel, alles!«

»Ich habe Dir nichts verheimlicht, ich weiß nichts mehr hinzuzufügen!«

Sie stand still – wie erstarrt. Sie hatte ihre Hände gefaltet, und ihre Augen ruhten auf dem Gesicht ihres Gatten. Ihr Gesicht war bleich und traurig.

»Was jetzt thun?« fragte sie. »Was jetzt thun?«

»Iris, ich beschwöre Dich, laß keine Aenderung in unseren Plänen eintreten!«

»Nein! Ich weiß genau, was ich jetzt zu thun habe. Mein Plan liegt bestimmt vor mir!«

»Iris, ich beschwöre Dich nochmals, laß keine Aenderung in unseren Plänen eintreten. Laß uns weit weggehen, wie wir uns vorgenommen haben. Laß uns die Vergangenheit vergessen. Komm mit mir!«

»Ich soll mit Dir zusammen fortgehen? Mit Dir – wirklich mit Dir? O mein Gott!«

Sie bebte zurück vor Entsetzen.

»Iris, ich habe Dir alles gesagt. Wir wollen zusammen fortgehen, gerade als ob Du nichts gehört hättest. Wir können ja nicht tiefer von einander getrennt sein, als wir es die letzten drei Monate waren. Wenn Du willst, so laß es uns auch noch weiter bleiben, bis Du wieder im Stande bist, irgend etwas für mich zu fühlen, bis Du wieder im Stande bist, Mitleid mit mir zu haben und mir zu vergeben.«

»Das verstehst Du nicht. Ich soll Dir vergeben? Davon kann jetzt nicht mehr die Rede sein. Wer bin ich denn, daß meine Vergebung nur den geringsten Wert für Dich haben könnte, für Dich oder einen andern?«

»Um was handelt es sich denn sonst?«

»Ich weiß es nicht. Ein schreckliches Verbrechen ist begangen worden, ein schreckliches, fürchterliches Verbrechen, wie man es nur in Zeitungen und Büchern liest und sich dabei wundert, daß es überhaupt Menschen geben kann, die im Stande sind, ein solches Verbrechen zu begehen. Und nun ist mein Gatte ein solcher Mensch – und ich, ich bin eine von den entsetzlichen Frauen, die es fertig gebracht haben, die Genossin eines solchen Mannes zu werden!«

»Du darfst sagen, Iris, was Du willst, ganz, was Du willst.«

»Ich hab' es gewußt, aber erst, seitdem ich hierher gekommen bin, habe ich es verstanden, daß ich mein Leben einer blinden Liebe geopfert habe. Ja, Harry, ich habe Dich blindlings geliebt, und das war mein Fluch. Ich bin Dir gefolgt, obgleich mich alle Welt davor gewarnt hat, und was ist jetzt meine Belohnung dafür? Wir müssen im Verborgenen leben, denn wenn wir entdeckt würden, dann würden wir sofort wegen verbrecherischer Handlungen verhaftet werden. Ja, wir können von Glück sagen, daß das noch nicht geschehen ist, und daß wir noch nicht unser Leben am Galgen beendet haben. Das ist meine Belohnung!«

»Ich habe niemals Dir gegenüber, Iris, den Heuchler gespielt; ich habe niemals behauptet, Tugenden zu besitzen, die ich nicht besitze. In so weit –«

»Still! Sprich kein Wort mehr! Ich habe Dir noch eins zu sagen, dann werde ich nie mehr zu Dir reden. Still, laß mich meine Gedanken sammeln. Ich kann jetzt nicht die Worte finden, ich kann nicht . . . warte, warte, um Gottes willen! O, ich Unglückliche!«

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Дата выхода на Литрес:
04 декабря 2019
Объем:
515 стр. 10 иллюстраций
Правообладатель:
Public Domain

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