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IX

Wut war kein guter Beifahrer. Das musste Damp gleich zur Kenntnis nehmen, als er das Auto vom Hof des Rathauses in Vitte auf die Straße nach Kloster steuerte. Als er heftig das Lenkrad nach links einschlug, brach das Heck des Streifenwagens aus. Nur Gegensteuern konnte verhindern, dass der Wagen in den nahen Graben rutschte. Laura Ihlow auf der Rückbank hatte Augen und Mund vor Schreck aufgerissen und hielt sich krampfhaft an der Rückenlehne des Beifahrersitzes fest. Nelly Blohm fiel das Handy aus der linken Hand, mit der rechten griff sie nach der Seitenlehne.

„Geht es vielleicht auch etwas vorsichtiger?“, fragte sie empört ihren Kollegen. Aber Damp brummte nur etwas Unverständliches. Innerlich kochte er. Der Pilot des Hubschraubers war nicht bereit gewesen, noch einen Abstecher ins Hiddenseer Hochland zu machen, um die Polizisten und Laura Ihlow zum Hotel „Dornbusch“ zu fliegen, damit sie dort Frau Dehne über den Tod ihres Mannes informieren und gleich vernehmen könnten. Bei der Schneehöhe sei es unmöglich, den Hubschrauber zu landen. Bökemüller hatte ihn bei seiner Bitte auch nicht unterstützt, sondern durch einen deutlichen Blick auf die Uhr klargemacht, dass er zum Aufbruch nach Stralsund drängte. Nun stand den Polizisten und ihrer Zeugin eine Tiefschneewanderung bevor. Außerdem war Damp sauer auf den Pathologen. Auch Doktor Krüger wollte sich bei der Todesursache nicht festlegen. Sicher würden alle Anzeichen, auch an der aufgetauten Leiche, auf Erfrieren hindeuten, aber er könne, wie der Inselarzt, nicht ausschließen, dass der Mann nicht doch eines anderen Todes gestorben sei. Das könne nur die Obduktion ergeben. Bökemüller wies daraufhin an, bis zu einem endgültigen Bericht des Pathologen weiter zu ermitteln, was mit Dehne passiert sein könne. Also blieb auch Nelly Blohm auf der Insel. Sie würde damit einen Fuß in die Tür seines Polizeireviers bekommen und sicher bald auf Rieders Stuhl sitzen. Dann wäre es mit der Ruhe dahin. Ständig klapperte sie auf der Tastatur ihres Laptops herum, suchte nach irgendwelchen Ermittlungsansätzen, recherchierte über das Mordopfer und dessen Hotel im Internet und anderswo. Ganz zu schweigen von ihrer Telefon-SMS-Aktion für die Urlauber, die der Bürgermeister und Bökemüller noch mal ausdrücklich als hervorragenden Einfall gelobt hatten. Irgendwann würde schon ein Hubschrauber kommen oder wieder eine Fähre fahren. Wer im Winter auf eine Insel fuhr, musste damit rechnen, nicht wieder zurückzukommen. Pech gehabt! Da musste man nicht gleich bei dem bisschen Protest einknicken. Bei der Kälte wären die Leute irgendwann abgezogen. Alles Weicheier, diese Chefs.

Damp spürte, wie das Auto mehr schlitterte als fuhr. Die Reifen griffen kaum auf der glatten geräumten Schneefläche. Blohm war im Fußraum abgetaucht und suchte nach ihrem Telefon. Sie wollte bei der Telekom in Bergen anrufen, um zu erfahren, was mit den Telefonleitungen und Mobilfunkverbindungen im Norden Hiddensees los war. Als sie wiederauftauchte, starrte sie Damp an. „Haben Sie noch Sommerreifen drauf?“

Damp sah sie kurz an. „Und wenn?“

„Sind Sie verrückt?“

„Ich nicht“, gab er zurück, „aber die Polizeidirektion. Sparmaßnahme. Da es hier oben so selten schneit, fahren wir mit Ganzjahresreifen. Nur dass sie nicht für das ganze Jahr taugen. Wie wir gerade sehen. Hat Ihnen das Ihr Revierleiter in Bergen nicht mitgeteilt?“

„Das kann doch nicht wahr sein.“

„Ist es aber.“

Nelly Blohm schüttelte ungläubig den Kopf. Damp fuhr langsamer.

In Kloster schaffte das Auto nicht den kleinen Anstieg vor dem Gerhart-Hauptmann-Haus. Das Auto glitt zurück auf den Platz vor dem Inselmuseum. Damp nahm einen neuen Anlauf, ließ den Motor jaulen. Ein kleines Stück fuhren sie bergauf, doch dann drehten die Reifen durch. Wieder rutschte der Wagen zurück.

„Endstation“, verkündete Damp. Er legte den Rückwärtsgang ein und fuhr auf den Platz vor dem Inselmuseum. „Hier geht’s nur zu Fuß weiter.“

Damp stieß die Fahrertür auf, stieg aus, griff auf dem Rücksitz nach seiner Schapka, stülpte sie auf den Kopf und knallte die Tür zu.

Auch die beiden Frauen stiegen aus. Laura Ihlow starrte auf ihre feuchten Stiefel. Nelly Blohm war mit richtigen Schneeboots gut gerüstet. Damp hoffte, dass er mit seinen Filzstiefeln keine kalten Füße bekäme. Er ließ die Zentralverriegelung zuschnappen. Dann stapften sie schweigend los. Der Kirchweg in Kloster war ganz gut geräumt, aber doch sehr glatt. Sie liefen bis zur Bäckerei „Kasten“ und bogen dann nach links in den Hügelweg ein. Im tiefen Schnee gab es ein paar Fußspuren. Hier wohnten noch Hiddenseer, die immer mal vor die Tür mussten. So kamen sie ganz gut voran. Doch nachdem sie das Stromhäuschen passiert hatten, versanken sie auf dem Weg „Zum Hochland“ bis zu den Oberschenkeln im Schnee. Hier gab es zwar auch links und rechts des Weges Häuser, versteckt hinter Hecken und den tief hängenden Zweigen der Bäume, ihre Besitzer kamen aber nur im Sommer auf die Insel. Durch die hohe Schneedecke waren die Ferienhäuser im gräulichen Tageslicht kaum zu erkennen. Damp überlegte, ob die Dächer die schwere Last aus Eis und Schnee auf Dauer aushalten würden.

Der Weg war nicht zu erkennen, aber es gab eine Spur. „Das sind noch meine Abdrücke“, bemerkte Laura Ihlow. „Weiter oben wird es noch schlimmer.“

Damp verzog das Gesicht. Nelly Blohm stöhnte.

„Wir hatten gehofft, Herr Böhnke würde vielleicht mit seinem Schlitten mal vorbeikommen und so wenigstens mit den Pferden eine begehbare Spur in den Schnee ziehen“, erklärte die Hotelangestellte. „Herr Dehne hatte es mit ihm verabredet, damit sich die Urlauber auch bei diesem Wetter auf der Insel bewegen könnten. Aber er hat sich nicht gemeldet.“

Das wunderte Damp. Böhnke betrieb ein Fuhrunternehmen in Kloster. Sein alter Eisschlitten, mit dem schon früher sein Vater übers Eis nach Rügen gefahren war, galt als Attraktion auf der Insel. Er hatte Böhnke damit in den letzten Tagen auch gesehen. Der Fuhrunternehmer hatte Touristen, eingepackt in Decken und Felle, über die Insel kutschiert. Warum war Böhnke dann nicht auch zu Dehnes Hotel gefahren? Damp würde der Sache mal auf den Grund gehen.

Laura Ihlow bog nach links ab in einen zunächst schmalen, gassenartigen Weg. Die Polizisten folgten ihr. Bald öffnete sich die Landschaft und vor ihnen lag ein weites Schneefeld. Am Ende stand ein Haus. Die alte Vogelwarte, nun das Hotel „Dornbusch“. Damps Ärger war durch die Anstrengung fast verflogen. Er blickte sich um. Links ragten hinter dichten Büschen die dunklen Gemäuer der Lietzenburg auf. Er sah einen Lichtschein. „Dort ist ja jemand“, rief er aus. Auch die beiden Frauen sahen sich um.

„Nein, das ist nur ein Baustellenlicht“, erklärte Laura Ihlow. „Es brennt nicht immer, sondern ist an eine Zeitschaltuhr gekoppelt. Der Besitzer will damit Einbrecher abschrecken, damit sie ihm nicht wieder ausbauen, was er gerade hat einbauen lassen.“

Damp schüttelte den Kopf. So etwas war noch nie auf Hiddensee passiert. Er konnte sich nicht mal genau erinnern, wann ihm das letzte Mal ein Einbruch gemeldet worden war. Vielmehr sorgte er sich über die unvorsichtigen Hiddenseer, die gern mal ihre Hausschlüssel unter Blumentöpfen oder in einem geöffneten Fenster ablegten. Dafür brachten die Zugereisten aus den Großstädten nun neue Marotten mit und ließen das Licht brennen, wenn sie nicht da waren.

Endlich hatten sie das Hotel „Dornbusch“ erreicht. Sie trampelten sich auf der Eingangsstufe den Schnee von Kleidung und Schuhwerk. Von dem Vorraum ging es in ein dunkles Treppenhaus. Die Wände waren grau gestrichen, zu den Stufen durch einen ochsenblutroten Sockel abgegrenzt. Die Holzstufen waren im selben Farbton gestrichen, aber mit einem hellen Kokosläufer. Es roch noch nach frischer Farbe. Links öffnete sich eine Tür. Eine Frau schaute heraus.

„Endlich!“, rief sie aus. „Haben Sie etwas erreicht?“

Laura Ihlow deutete hinter sich. „Frau Blohm und Herr Damp von der Polizei. Sie haben keine guten Nachrichten.“ Sie fing wieder heftig an zu weinen und rannte ohne ein weiteres Wort die Treppe nach oben.

Die Frau starrte die beiden Polizisten an. „Was ist mit Martin?“ Damp sah kurz Nelly Blohm an. Sie hatten nicht ausgemacht, wer die Todesnachricht überbringen sollte. Aber er war der Chef, dachte sich Nelly. Damp ging einen Schritt nach vorn, doch die Ehefrau kam ihm zuvor. „Ist er … ist er tot?“, fragte die Frau mit leiser, ungeduldiger Stimme.

Damp hielt kurz die Luft an, dann nickte er. „Wir haben Ihren Mann letzte Nacht auf der ‚Caprivi‘ entdeckt. Ihre … äh, Mitarbeiterin hat ihn identifiziert. Wahrscheinlich ist er erfroren.“

„Erfroren! Auf der ‚Caprivi‘“, wiederholte die Frau verstört und schüttelte dann verständnislos den Kopf. „Was ist die ‚Caprivi‘? Ein Fährschiff?“

„Ein altes Hotelschiff“, erklärte Nelly Blohm. „Es liegt im Hafen von Vitte, ist aber nicht mehr in Betrieb.“

„Und was wollte er da?“ Wieder schüttelte sie den Kopf. „Ich versteh das alles nicht.“

„Deshalb sind wir auch hier. Wir würden gern, Frau Dehne, auch wenn der Moment vielleicht etwas ungünstig ist, Ihnen ein paar Fragen stellen“, erklärte Damp etwas umständlich. „Aber zunächst erst mal mein, äh, unser Beileid.“

Dehnes Frau schien Damps Worte gar nicht gehört zu haben. „Hat er dort einen Unfall gehabt? Wie konnte er denn erfrieren?“

„Das müssen wir herausfinden“, sagte Nelly Blohm. „Momentan behandeln wir den Tod Ihres Mannes noch als ungeklärten Todesfall, weil weder der Inselarzt noch ein Rechtsmediziner bei einer ersten Leichenschau am Fundort einen Totenschein ausstellen wollten.“

Die Frau blickte die beiden Polizisten mit großen Augen an. „Ungeklärter Todesfall?“, wiederholte sie leise und verharrte dann ein paar Minuten in einer völlig erstarrten Haltung. Langsam schien sie zu begreifen, was das bedeuten konnte. „Wollen Sie sagen, mein Mann ist ermordet worden?“

„Nein, nein, dafür gibt es momentan keine Beweise“, wiegelte Damp ab. Er hoffte immer noch, dass sich Dehnes Tod als Unglücksfall erweisen würde. „Wir müssen nur versuchen, genau zu …“, er suchte nach dem richtigen Wort und wedelte dabei mit der Hand. Nelly sprang ein. „ … zu rekonstruieren, was Ihr Mann Silvester gemacht hat, nachdem er hier weggegangen ist.“ Dann schaute sie sich etwas ungeduldig in der Halle um und erreichte damit ihr Ziel.

„Oh, Entschuldigung, ich bin völlig von der Rolle. Kommen Sie doch hier herein.“ Sie öffnete die Tür etwas weiter. Die Polizisten folgten ihr in einen Raum, an dessen Wänden ringsum hohe Regale standen. Allerdings waren sie nur zum Teil mit Büchern gefüllt. In vielen Fächern standen ausgestopfte Vögel: von kleinen Sperlingen, Meisen und anderen Wiesenvögeln bis zu ausgewachsen großen Schwänen und Seeadlern. Damp und Blohm blieben stehen und blickten sich mit großen Augen im Raum um. Die Glasaugen vieler Präparate leuchteten im diffusen Licht des Raumes bedrohlich, fast angriffslustig.

„Übrigens, ich heiße nicht Dehne“, verkündete die Frau. „Mein Name ist Leetz, Isa Leetz. Ich habe meinen Namen bei der Heirat behalten.“ Sie drehte sich um und sah die staunenden Gesichter der Polizisten. „Das Hobby meines Mannes, Exmannes ja nun“, erklärte sie kühl. „Er war Hobbyornithologe. Vögel waren seine Leidenschaft, die ich leider nicht so richtig geteilt habe. Aber er wollte mit diesem Zimmer auch an die alte Nutzung des Hauses als Vogelwarte erinnern. Und es ist nun mal sein Hotel.“

Nelly Blohm wunderte sich, wie gefasst die Frau plötzlich war. Sie wirkte nun sehr distanziert, wenig berührt vom Tod ihres Mannes. Der Eindruck wurde durch die geschäftsmäßige Kleidung und die Frisur verstärkt. Die Haare waren halblang geschnitten, die Spitzen leicht eingedreht nach innen, wie man es oft bei Geschäftsfrauen sah. Ihre Augen waren sehr hell, der Mund schmal. Sie trug ein sportlich-elegantes Twinset mit Pullover und Jacke aus Kaschmir, wie Nellys geschultes Auge sofort registrierte, kombiniert mit einem knielangen Rock und nicht allzu hochhackigen Pumps. Nelly blickte auf ihre eigenen Schuhe und sah, wie sich kleine Rinnsale des tauenden Schnees ihren Weg auf die schweren Teppiche suchten, die auf dem Parkett lagen. Es bildeten sich feuchte Flecke neben den Sohlen. „Sollen wir die Schuhe ausziehen?“, fragte Nelly schuldbewusst.

Frau Leetz winkte ab. „Ist auch nur Wasser. Das wird uns nicht umbringen.“ Sie wies auf eine Sitzgruppe aus Leder, die um einen runden Rauchtisch vor einem brennenden Kamin stand. Während sie sich auf das Sofa setzte, sanken Damp und Blohm in den erstaunlich weichen Polstern der Sessel ein. Plötzlich tauchte hinter der Lehne des Sofas der Kopf eines Kindes auf und blickte neugierig auf die Polizisten.

„Wer bist du denn?“, fragte Nelly lächelnd. Da erschien noch ein zweiter blonder Jungenkopf.

„Das sind meine Kinder. Florian und Jonas. Sie stammen aus meiner ersten Ehe“, klärte Isa Leetz auf. Die beiden wurden mutiger und kamen aus ihrem Versteck nach vorn und kletterten auf das Sofa. Sie setzten sich links und rechts von ihrer Mutter und schmiegten die Köpfe an ihren Körper. Jeder hatte kleine Autos in den Händen. Sie begannen damit über den Rock und die Beine ihrer Mutter zu fahren. Nelly schätzte, dass die Jungen entweder gerade in die Schule gekommen waren oder kurz davor standen. Sie dachte sofort an Lukas und spürte einen kleinen Stich im Herzen.

„Mein erster Mann ist bei einem Autounfall vor drei Jahren ums Leben gekommen. Martin habe ich erst Anfang Dezember geheiratet, ganz spontan bei einem Ausflug nach Quedlinburg.“ Die Erinnerung ließ ein kurzes Lächeln über ihre Lippen gleiten. Es verschwand aber sofort wieder. „Und nun bin ich schon wieder Witwe. Ich scheine den Männern kein Glück zu bringen.“

Es entstand eine bedrückende Pause. Damp überlegte, wie er das Gespräch fortführen sollte. Er überlegte, ob es nicht besser wäre, es Nelly Blohm zu überlassen. So von Frau zu Frau. Doch seine Kollegin schien seit dem Auftauchen der Kinder völlig in Gedanken versunken. Er selbst spürte jetzt, wie müde ihn der anstrengende Weg hier hoch doch gemacht hatte. Seine Wangen glühten von der Wärme des Feuers. Seine Augen verengten sich zu Schlitzen und der Schlaf drohte ihn zu übermannen. Doch dann riss er sich zusammen. Er fragte, ob denn die Kinder alles hören dürften. Isa Leetz zuckte mit den Schultern. „Sie hatten keine so eine enge Beziehung zu Martin. Sie müssen wissen, wir drei leben eigentlich in Stralsund. Ich bin dort als Lehrerin tätig. So habe ich Martin auch kennengelernt. Er hat bei einer Weiterbildung ein Seminar über Vogelkunde geleitet. Martin war für sie mehr so ein entfernter Onkel und die Reisen nach Hiddensee sind für sie eher Ausflüge.“ Dann schaute sie auf ihre Söhne. „Aber vielleicht haben Sie recht.“ Sie schickte die Jungen aus dem Zimmer. Die beiden folgten mürrisch und zögerlich. Als sie das Zimmer verlassen hatten, begann Damp von Neuem. „Erzählen Sie uns doch einfach mal, was Ihr Mann am Silvestertag gemacht hat. Wann er nach Rügen losgefahren ist, wo er hinwollte und wann sie mit seiner Rückkehr gerechnet haben?“

Isa Leetz fasste sich kurz. „Es begann eigentlich mit dem Streit um dieses blöde Feuerwerk.“

„Wir haben eine Tasche mit Raketen und Böllern bei ihm gefunden“, warf Nelly ein. Sie war hellhörig geworden. „Wer hat sich gestritten?“

Isa Leetz machte mit ihren flachen Händen eine abwehrende Geste und bat damit die Polizisten um Geduld. „Ich muss vielleicht ein wenig weiter ausholen. Eigentlich haben wir erst vor ein paar Tagen das Hotel eröffnet. Martin wollte, dass für die ersten Gäste alles perfekt ist. Darunter sind auch Journalisten. Sie sollen über das Haus schreiben und Werbung für uns machen …“

„Wie viele Gäste sind jetzt hier?“, fragte Damp dazwischen.

„Fünf“, antwortete Isa Leetz etwas unwirsch, weil die Frage sie offensichtlich aus dem Konzept gebracht hatte. „Jedenfalls sollte es Silvester auch ein riesiges Feuerwerk geben. Herr Zakis …“

„Wer ist das?“ Diesmal unterbrach Nelly Blohm. Isa Leetz knetete ihre Hände und versuchte ihre aufwallende Wut zu unterdrücken.

„Herr Zakis ist der Koch. Er hatte von seinen Einkäufen in Stralsund und auf Rügen schon einiges an Böllern mitgebracht. Es waren diese typischen Packungen, die man beim Discounter bekommen kann. Aber Martin reichte das nicht. Er wollte etwas ganz Besonderes. Darüber haben sich die beiden in die Haare bekommen. Martin hat sich dann seine Sachen geschnappt. Er wollte nach Rügen fahren, um richtiges Feuerwerk zu besorgen. Er hatte da von einem Laden gehört, wo man wohl Zeug kaufen könne, dass eben nicht nur puff macht, sondern am Himmel glitzernde Kugeln oder Funkenregen erzeugt. Was weiß ich. Dann ist er also noch mal los. Zur Fähre und dann nach Bergen. Er wollte am frühen Nachmittag wieder zurück sein. Aber er kam nicht. Ich konnte ihn auch nicht erreichen, denn er hatte in der ganzen Hektik sein Handy hier vergessen. Zuerst habe ich mir auch keine Sorgen gemacht. Der Fährverkehr war ja eingestellt und ich dachte mir, er wäre auf Rügen geblieben und vielleicht zu seiner Schwester gefahren. Er konnte uns ja auch nicht mehr anrufen, denn ab Neujahr war hier oben alles tot. Das Telefon ging nicht mehr. Nicht mal die Funktelefone. Durch den starken Schneefall konnten wir auch nicht raus. Ich hatte gehofft, dass er sich vielleicht bei Herrn Blank gemeldet hat, aber der hat sich hier auch nicht blicken lassen …“

„Herr Blank?“, fragte Nelly.

„Der Rabe“, rutschte es Damp heraus, noch bevor Isa Leetz antworten konnte. Er schlug die Hand vor den Mund. Isa Leetz konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Nelly sah beide überrascht an.

„Blank war früher Angestellter der Vogelwarte, muss schon fast achtzig sein“, klärte Damp seine Kollegin auf. „Er fühlt sich als so eine Art Herr über die Hiddenseer Vogelwelt und nervt gewaltig, traktiert mich ständig mit Anzeigen, wenn irgendjemand die Vogelschutzgebiete auf der Insel unberechtigt betritt oder über die Absperrungen an der Steilküste steigt. Den Rangern vom Nationalparkhaus liegt er auch andauernd in den Ohren, sie müssten mehr für die Vögel tun. Wegen seiner Kleidung, einem alten Hut und einem weiten Mantel, nennen ihn alle auf der Insel den Raben.“

Nelly nickte.

„Er hat meinen Mann auch auf die Idee gebracht, die Vogelwarte zu kaufen und hier dieses Vogelzimmer einzurichten“, meinte Isa Leetz abschätzig. „Es sollte eine Mischung aus Hotel und Museum sein. Sonst war er jeden Tag hier oben, auch wenn ich da war, und hat mit Martin ewig über die Vögel, den Vogelzug und die Auflösung der Vogelwarte geredet. Aber seit Silvester war er auch nicht mehr hier. Was mich wundert.“

Damp und Blohm nickten sich zu.

Isa Leetz stand auf und ging zum Kamin. Sie warf ein paar Scheite in das brennende Feuer.

„Dass Martin tot ist … Ich kann es noch nicht fassen“, sagte sie mehr zu sich selbst. Dann stützte sie sich am Kaminsims ab. „Was soll denn nun werden? Wir haben das Haus voll. Ich habe doch auch gar keine Ahnung …“

„Wissen die Gäste vom Verschwinden Ihres Mannes?“, fragte Nelly.

Isa Leetz schüttelte den Kopf. „Sie wissen, dass er nicht da ist, weil er wegen dem Eis nicht mehr von Rügen zurückkommen konnte. Aber langsam wird es schwierig. Die Journalisten wollen eine Homestory machen, alles Mögliche über das Hotel und das Konzept wissen, aber … was soll ich ihnen sagen?“

Damp fragte noch, welche Fähre er am Silvestertag genommen hätte.

„So gut kenne ich mich nicht aus. Er wollte von Kloster fahren, hoffte, dass der Eisfahrplan noch nicht galt und er bis nach Vitte müsste.“

Die Polizisten verabschiedeten sich. Als sie vor der Tür standen, schüttelte sich Damp. „Wie ich so etwas hasse.“

„Das gehört nun mal zum Job“, erwiderte Nelly.

X

Zurück nach Kloster ging es aus dem Hochland schneller durch die getretene Spur, auch wenn es mittlerweile wieder zu schneien angefangen hatte. Die Polizisten begegneten keiner Menschenseele. Nur hier und da zeigte ein erleuchtetes Fenster, dass Menschen zu Hause waren, aber bei dem frostigen Wetter nicht vor die Tür gingen.

Die Fenster des Polizeiautos waren eingefroren. Damp kramte in den Seitenfächern der Türen vergeblich nach einem Eiskratzer, während Nelly Blohm mit heftigem Hüpfen versuchte, ihre kalten Füße etwas aufzuwärmen. Damp holte sein Portemonnaie heraus, griff seine Krankenkassenkarte und begann damit die Scheiben zu schaben.

„Können Sie nicht schon mal den Motor anmachen?“, fragte Nelly bibbernd.

Damp lehnte ab. „Wir müssen Benzin sparen. Wer weiß, wann wir Nachschub kriegen.“

Nelly verzog das Gesicht. „Was machen wir denn nun?“, wechselte sie das Thema.

Damp zuckte mit den Schultern. „Gar nichts, bis sich dieser Quacksalber aus Greifswald meldet und uns sagt, wie Dehne umgekommen ist.“ Er hielt mit dem Eiskratzen kurz inne. „Ich frage mich echt, wie er sich als Lehrer diesen Schuppen leisten konnte.“

„Durch den Verkauf der Häuser.“

Damp schüttelte den Kopf. „Ich bin bestimmt kein Fachmann, aber wie das da alles auf Chic gemacht ist, das zahlt man nicht aus der Portokasse. Und das Haus, die alte Vogelwarte, musste er sich vorher ja auch noch kaufen. Nee, irgendwas passt da nicht.“

Damp setzte Nelly Blohm in der Sprenge ab. Trotz des Neuschnees war der Weg hinter dem Bodden durch den Einsatz der Feuerwehr noch gut befahrbar. Sie musste um das Haus laufen, denn Maltes Pension stand mit der Giebelseite zum Bodden. Der Eingang befand sich in einem kleinen Hof. Gerade als Nelly an das Fenster der Veranda klopfen wollte, kam Malte und öffnete die Tür.

„Immer herein.“

Nelly trat ein und zögerte. Sie wollte mit ihren nassen Schuhen die Teppichläufer nicht schmutzig machen.

„Lassen Sie mal. Ist nur Wasser. Wenn Sie möchten, kann ich Ihnen ein paar Latschen besorgen. Meine Gäste lassen immer was liegen. Da findet sich sicher was.“

Aus der Küche duftete es nach gebratenem Fisch. Nelly merkte, wie hungrig sie war. Seit dem Frühstück hatte sie nichts mehr gegessen. Sie musste sich dringend was besorgen. Hoffentlich hatte der Supermarkt noch offen.

„Ich würde nur kurz meine Tasche abstellen und dann noch mal schnell los. Ich habe noch nicht eingekauft.“

„Nun mal langsam, junge Frau“, beruhigte sie Malte. „Gehen Sie erst mal auf ihr Zimmer und richten sich ein. In einer Viertelstunde gibt es Abendbrot.“

„Aber …“

„Keine Widerrede.“

Als sie wenig später wieder herunterkam, war in der Stube der Tisch gedeckt. Nelly hatte mit Lukas und ihrer Mutter telefoniert. Offenbar vermisste sie ihren Sohn mehr als umgekehrt. Jedenfalls hatte er ihr begeistert erzählt, dass er mit seiner Oma gespielt, gelesen und gebacken hätte. Dann hatte er das Telefon weitergereicht. Ihre Mutter hatte hinterlistig gefragt, ob sie denn heute noch kommen würde. Nelly wusste nicht recht, was sie sagen sollte. „Nein, das zieht sich hier noch hin.“

„Was habe ich dir prophezeit“, hatte ihre Mutter noch einmal in der Wunde gebohrt und dann aufgelegt.

Nelly musste an der Schwelle zu Maltes Wohnstube den Kopf einziehen. Der graue Kater hatte es sich in einem Sessel bequem gemacht und schaute sie prüfend an. Scheu kannte er durch die vielen Sommergäste nicht.

„Setzen Sie sich“, ließ sich Malte aus der Küche vernehmen. Kurz darauf erschien er mit zwei Tellern.

„Ich hoffe, Sie essen Fisch?“

„Bin doch ein Mädchen von der Küste.“

Sie schaute mit offenem Mund auf das, was er vor ihr abstellte.

„Das ist Zanderfilet, gebraten, dazu Bratkartoffeln mit Speck.“

„Es duftet herrlich“, erklärte Nelly begeistert, „aber ich kann Ihnen doch nicht Ihre Vorräte wegessen …“

„Mach dir mal keine Sorgen, Mädchen. Die Kühltruhe ist voll. Die Speisekammer auch. Ist für mich nicht der erste harte Winter auf der Insel. Musst nicht alles glauben, was die so erzählen im Fernsehen von Mangel und Not hier, nur weil mal der Bodden dicht ist. Auf Hiddensee ist noch keiner verhungert. Jedenfalls kein Hiddenseer. Und nun iss mal, sonst wird’s kalt.“

Erleichtert griff sie nach ihrem Besteck und begann zu essen. „Das schmeckt ausgezeichnet. Wo haben Sie so gut kochen gelernt?“

„Auf dem ‚Klausner‘. War dort erst Lehrling, dann Koch, schon zu DDR-Zeiten. Heute wird um diese Zeit viel Gewese gemacht. War aber auch nur ’ne Kneipe wie jede andere. Wenn draußen die Gäste warten, muss es drinnen in der Küche laufen. Nach der Wende habe ich dann von meiner Mutter den Pensionsbetrieb übernommen und den Kochlöffel an die Wand gehängt. Nur für besondere Gäste werfe ich den Herd mal an.“

Er zwinkerte Nelly zu. Nachdem Malte die Hälfte seines Filets aufgegessen hatte, nahm er den Teller und stellte ihn auf das Blech vor dem Ofen. Sofort sprang der Kater vom Sessel und stürzte sich mit lautem Schmatzen darauf.

„Kannten Sie eigentlich den Toten? Diesen Herrn Dehne?“, fragte Nelly. „Auf so einer kleinen Insel kennt doch sicher jeder jeden.“

Malte wiegte den Kopf hin und her. „Ich hatte kaum mit ihm zu tun. Ich habe keine Kinder. Da hat man mit den Lehrern der Inselschule wenig am Hut. Und dann hat doch jeder auf der Insel so – wie sagten wir früher als Kinder? – seine Bande. Heute nennt man es wohl eher Clique. Abgesehen davon, war er ein paar Jahre jünger als ich. Er ist sicher schon in der neunten Klasse nach Bergen auf die erweiterte Oberschule gegangen und erst nach dem Studium zurückgekommen. Außerdem wohnte Dehne in Süderende auf der Ostseeseite von Vitte. Nicht mein Beritt. Ist es denn sicher, dass er ermordet wurde?“

Nelly schüttelte den Kopf. „Wir müssen noch die Obduktion abwarten.“

„Außerdem war er einer dieser Vogelkieker.“

„Sie meinen, er war Ornithologe.“

„Wenn Sie so wollen. Schon als Kind ist er mit dem Raben, also Walter Blank, losgezogen, um Gänsen, Möwen und was weiß ich nachzustellen. Das waren für uns die Streber.“

„Ach ja, von dem Raben habe ich schon gehört.“

„Dehne und Blank waren ganz dicke, schon als Dehne noch ein Pionier war. Wissen Sie, was das ist?“

Nelly lächelte. „Was es bedeutet, weiß ich, aber selbst bin ich noch zu jung, um Pionier gewesen zu sein.“

„Mit blauem Halstuch sind die losgerannt und haben mit dem Raben am Bessin oder auf dem Gellen Vögel gezählt. Öde. Da bin ich lieber mit meinen Kumpels auf dem Bodden angeln gegangen oder habe die Kirschbäume der Nachbarn geplündert.“

„Was ist das eigentlich für ein Schiff, auf dem Martin Dehne gefunden wurde“, fragte Nelly.

Malte stand auf und zog aus seinem Regal ein Buch. Er blätterte darin und legte es dann aufgeschlagen vor Nelly hin. Er zeigte auf eine Reihe von Bildern eines Passagierdampfers.

„Die ‚Caprivi‘ heißt eigentlich ‚Seebad Wustrow‘. Auf diesen Namen wurde sie im Februar 1964 in Magdeburg getauft. Sie war das letzte Schiff der sogenannten Seebäder-Serie. Diese Dampfer wurden extra für die Ostseeküste gebaut, um dem Ansturm der Tagestouristen Herr zu werden.“

Malte blätterte eine Seite weiter. „Hier sehen Sie mal, wie es drinnen aussah. Ziemlich komfortabel für die damalige Zeit mit dem Salon, von dem man über das Vordeck Aussicht über den Bug hatte. Außerdem hatte das Schiff eine besondere Verstärkung am Vorschiff und gehörte damit zur Eisklasse.“

„Eisklasse?“

„Es konnte auch bei Eisgang oder selbst bei einer geschlossenen Eisdecke auf dem Bodden bis zu zwanzig Zentimeter noch fahren und die Eisdecke aufbrechen“, erklärte Malte. „So ein Schiff fehlt uns heute. Die Reederei verspricht uns immer nur, diese klapprige alte Fähre mal durch ein eisgängiges Schiff auszutauschen. Aber außer hübschen Bildern in den ‚Inselnachrichten‘ passiert nichts. Nur die Preise steigen ständig.“

„Warum liegt die ‚Caprivi‘, äh, die ‚Seebad Wustrow‘ nun hier?“

„Nach der Wende wurde sie außer Dienst gestellt, rostete dann in Stralsund still vor sich hin, bis sich unter anderem Angela Merkel erbarmte und uns den Dampfer schickte. Erst wurde ein Jugendklub draus, dann ein Hotelschiff. Nun ist der Besitzer wohl pleite oder was weiß ich. Jedenfalls liegt der Dampfer schon eine Weile hier, ohne dass sich was tut. Und jetzt ist es eh vorbei. Das Schiff ist ein Wrack. Schade drum.“

Er klappte das Buch zu und trug es wieder zum Regal. Als er sich umdrehte, schien Nelly in Gedanken versunken. „Wo sind Sie denn gerade? Bei Ihrem Sohn?“

Nelly schüttelte den Kopf. „Ich habe an Stefan Rieder gedacht. Haben Sie vielleicht mal was gehört, was mit ihm ist?“

„Nein, nur das, was alle wissen, dass er im Koma in einer Klinik auf Møn liegt, nicht transportfähig ist und es nicht gut aussieht.“

Tränen rannen Nelly übers Gesicht. Malte setzte sich neben sie und legte unbeholfen seinen Arm um ihre Schultern. „Na, Mädchen, du musst ihn dir aus dem Kopf schlagen.“

„Wenn das so einfach wäre …“

„Behalt ihn so in Erinnerung, wie er war. Als netten Kerl. Ich vermisse ihn auch, selbst wenn wir zuletzt nicht immer einer Meinung waren. Aber denk mal, was wäre, wenn er aufwacht und nur noch Watte im Kopp hat? Er sollte seinen Frieden finden …“

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Дата выхода на Литрес:
25 мая 2021
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304 стр. 7 иллюстраций
ISBN:
9783954626922
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