Читать книгу: «Die Regulierung innovativer Finanzinstrumente», страница 26

Шрифт:

4. Verknüpfung: Risiko als Einflussfaktor für Gefahrbeurteilung und für Maßnahmen

Einzelne Vertreter des Schrifttums haben darauf hingewiesen, dass das Prinzip der Gefahrenvorsorge sich vor allem auf die Verarbeitung von Irrtumskosten auf der Rechtsfolgeseite bezieht. Es komme zu einer Verlagerung von „erfahrungsbezogenen“ Gefahrenabwehr zu einer „ungewissheitsorientierten“ Risikosteuerung vorhandener Risiken (d.h., das Recht werde „reflexiv“).738 Zwar bleibe es (auf Tatbestandsseite) notwendig, das Risiko, das Gegenstand der Gefahrenvorsorge ist, an rechtliche Schutzziele zurückzubinden und eine Folgenbewertung auf der Grundlage vorhandener Kenntnisse vorzunehmen, um so (auf Rechtsfolgeseite) bekannte Risiken zu reduzieren und unbekannten Risiken präventiv zu begegnen.739 Der zu konkretisierende Sachverhalt und die zu ergreifenden Maßnahmen seien aber nicht unabhängig voneinander, sondern stünden je nach Abschätzbarkeit der betreffenden Risiken in einem wechselbezüglichen Verhältnis zueinander.740

Diese Überlegung ist nicht leicht verständlich, erscheint aber zutreffend: Das Vorliegen eines Sachverhalts, der Maßnahmen der Gefahrenvorsorge rechtfertigt, lässt sich aufgrund der Unsicherheit, ob sich ein vorhandenes Risiko zum Nachteil eines Schutzguts verwirklichen wird, nur eingeschränkt beurteilen. Jene Unsicherheit wirkt sich sowohl hinsichtlich der Lagebeurteilung als auch hinsichtlich der zu treffenden Maßnahmen aus. Damit lässt sich auch nur eingeschränkt sagen, welche Maßnahmen erforderlich sind, um einen effektiven Rechtsgüterschutz zu gewährleisten. Die Unsicherheit erschwert einerseits die Entscheidung darüber, welches Mindestmaß eine Gefahrenvorsorge zum effektiven Schutz bestimmter Rechtsgüter haben muss, andererseits aber auch die Entscheidung darüber, welche Maßnahmen aufgrund der damit einhergehenden Nachteile für andere Rechtsgüter unverhältnismäßig sind. Es dürfte weiterhin gerade der Umfang der Unsicherheit sein, der die Entwicklung eines maßlosen Präventionsstaats provozieren kann. Denn die zu treffenden Entscheidungen verlagern sich um so mehr auf den zuständigen Amtswalter, je mehr der Gesetzgeber den Vorfeldbereich zu einer Gefahr (auf Tatbestandsseite) offenlässt und je allgemeiner er die zu treffenden Maßnahmen (auf Rechtsfolgeseite) beschreibt. Hiermit eröffnet sich ein ungeregelter Raum, in dem willkürliche Einzelfallentscheidungen möglich werden. Anders ist die Situation dann, wenn der Gesetzgeber für einen – gegebenenfalls weit definierten – Vorfeldbereich konkrete Maßnahmen vorsieht, die unabhängig von der Entwicklung im konkreten Einzelfall umzusetzen sind und die eine durch den Gesetzgeber bestimmte und eindeutige Wirkung aufweisen. Wird auf die tatbestandlich offene Ausgangslage mit solchen Maßnahmen auf Rechtsfolgeseite geantwortet, ist eine willkürfreie Gefahrenvorsorge also durchaus möglich. Die Maßnahmen müssen aber jeweils unter den Gesichtspunkten der Effektivität und insbesondere der Verhältnismäßigkeit austariert sein.

Das Finanzaufsichtsrecht folgt – wie im Einzelnen zu zeigen sein wird – eben dieser Regelungsphilosophie. Denn soweit es um den Umgang mit Risiken geht, die aufsichtsrechtlich bereits erfasst werden, stellt der Rechtsrahmen zwar keine konkreten Anforderungen an die Gefahrnähe, gibt aber gleichzeitig sehr konkrete aufsichtsrechtliche Maßnahmen vor (z.B. Beschränkungen der Geschäftstätigkeit, Kapitalvorgaben, Verhaltenspflichten gegenüber den Kunden), die von der weiteren Lageentwicklung unabhängig ausgestaltet und (aus Sicht des Gesetzgebers) einerseits effektiv und andererseits verhältnismäßig sind. Die beschriebene Regelungsphilosophie kann allerdings auch zugrunde gelegt werden, wenn es um die Vorsorge bei Finanzinstrumenten mit einer neuartigen Risikostruktur geht, die es den Marktteilnehmern ermöglichen, die vorhandene staatliche Regulierung zu umgehen. Unter diesen Umständen droht die Schutzwirkung vorhandener aufsichtsrechtlicher Maßnahmen gegenüber dem gesetzlich intendierten Maße verkürzt zu werden. Damit stellt sich die Frage, wie die verbleibende Regulierung anzuwenden ist, um eventuelle Schutzdefizite zu kompensieren. Bei der Lösungssuche ist auf die Überlegungen dieses Abschnitts zurückzukommen.741

III. Allgemeine Vorgaben des höherrangigen Rechts

Es bleibt die Frage, ob sich die Notwendigkeit einer ordnungsrechtlichen Gefahrenvorsorge aus höherrangigem Recht ableiten lässt. Diese Frage erscheint hinsichtlich des allgemeinen Gefahrenvorsorgeprinzips ungeklärt (Abschn. 1). In Bezug auf die Gefahrenvorsorge im Finanzaufsichtsrecht dürften definitivere Aussagen möglich sein (Abschn. 2).

1. Unsicherheiten bezüglich der Gefahrenvorsorge in anderen ordnungsrechtlichen Bereichen

Im vorangehenden Abschnitt wurde darauf hingewiesen, dass der moderne Rechtsstaat ein Mindestmaß an effektivem Rechtsgüterschutz erfordert. Die Notwendigkeit einer Gefahrenvorsorge wird deshalb in anderen ordnungsrechtlichen Bereichen als dem Finanzaufsichtsrecht auch mit der Notwendigkeit eines solchen Rechtsgüterschutzes begründet. In diesem Kontext können Schutzgüter bedeutsam sein, die im Allgemeininteresse bestehen (z.B. Gesundheits- und Umweltschutz, gewisse Sozialstandards).742 Aus diesen Schutzgütern können dann objektive Schutzpflichten folgen. Diskutiert werden aber vor allem aus den Grundrechten hergeleitete Schutzgewähransprüche. Diese können sich im Grundsatz sowohl aus den Unionsgrundrechten als auch aus nationalen Grundrechten ergeben.

Die Unionsgrundrechte sind vom EU-Gesetzgeber bei allen von ihm erlassenen Rechtsakten zu beachten.743 Zwar ist bislang offen, ob sich auch aus den Unionsgrundrechten Schutzpflichten ableiten lassen. Dies erscheint insbesondere dort fraglich, wo es sich um eine Pflichten zur Rechtsetzung handeln würde.744 Auch ist der Schutzbereich der Unionsgrundrechte in der europäischen Rechtsprechung bislang nur teilweise und auch nicht immer exakt bestimmt worden.745 Allerdings schließen die Unsicherheiten auf der Ebene des Unionsrechts Pflichten für den nationalen Gesetzgeber nicht aus. Der Europäische Gerichtshof hat nämlich entschieden, dass neben dem Unionsrecht auch nationale Schutzstandards anwendbar bleiben, sofern dadurch weder das Schutzniveau der EU-Grundrechtecharta, wie sie vom Gerichtshof ausgelegt wird, noch der Vorrang, die Einheit oder die Wirksamkeit des Unionsrechts beeinträchtigt werden.746 Des Weiteren sind in Fällen, in denen ein Umsetzungsspielraum besteht, innerhalb dieses Spielraums neben den Unionsgrundrechten die nationalen Grundrechte auf nationale Umsetzungsakte parallel anwendbar.747 Sofern sich aus den Unionsgrundrechten keine Schutzpflichten für den Unionsgesetzgeber ableiten lassen, dürfte es folglich möglich bleiben, derartige Pflichten für den nationalen Gesetzgeber unter Rückgriff auf das Grundgesetz abzuleiten.

Die deutschen Grundrechte (Art. 1–19 GG) können sich als negative Kompetenznormen und als objektive Wertentscheidungen auf die Gesetzgebung auswirken und sind in diesem Sinne bei der Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts zu beachten.748 Wenn anderenfalls das Mindestmaß des verfassungsrechtlich gebotenen Schutzes unterschritten wird (Untermaßverbot!), können aus den Grundrechten Schutzgewähransprüche abgeleitet werden.749 Ob ein solcher Schutzgewähranspruch besteht, hängt zum einen vom Wert des betroffenen Rechtsguts und dem Grad der Gefahr ab, dem das Rechtsgut ausgesetzt ist. Zum anderen ist auch der Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum zu beachten, über den der Gesetzgebers bei Maßnahmen zur gleichzeitigen Verwirklichung von untereinander abzuwägenden Verfassungsanforderungen verfügt.750 Das Bundesverfassungsgericht hat demzufolge zwar eine Schutzpflicht des Staates anerkannt, die etwa eine Risikovorsorge gegen Lebens- und Gesundheitsgefährdungen umfasst.751 Zugleich hat es allerdings klargestellt, dass der Spielraum des nationalen Gesetzgebers eine gerichtliche Überprüfung derartiger Schutzpflichten aufgrund des Grundsatzes der Gewaltenteilung und des Demokratieprinzips nur in Bezug auf evidente Verletzungen zulässt.752 Davon abgesehen ist nach der Rechtsprechung bisher offengeblieben, in welchem Umfang die Gefahrenvorsorge zum Schutz anderer Rechtsgüter als Leben und Gesundheit auf grundrechtliche Schutzgewährpflichten zurückgeführt werden kann. Dasselbe gilt übrigens für die ebenfalls denkbare Ableitung von Schutzpflichten zugunsten einzelner Berechtigter aus objektiven Verfassungsprinzipien (z.B. aus dem Sozialstaatsprinzip).753

Als zusätzliche Schranke für verfassungsrechtlich hergeleitete Gefahrenvorsorgepflichten nehmen einzelne Stimmen des Schrifttums schließlich an, dass aus den Freiheitsgrundrechten eine verfassungsrechtliche Präferenz für die Aktivierung selbstregulativer Beiträge folge.754 Wenn man dies akzeptiert, so dürfte eine Grenze dort zu ziehen sein, wo der Schutz der Selbstregulierung mit anderen höchstrangigen Rechtsgütern kollidiert. Darauf ist am Ende des nachfolgenden Unterabschnitts näher einzugehen.

2. Abweichende Beurteilung im Finanzaufsichtsrecht?

Im Finanzaufsichtsrecht erscheinen die höchstrangigen Vorgaben zumindest hinsichtlich des Schutzziels der Gefahrenvorsorge relativ eindeutig. Die finanzaufsichtsrechtliche Gefahrenvorsorge hat insoweit hauptsächlich im objektiven Interesse der EU am Binnenmarkt zu erfolgen, wobei Vorschriften zur Umsetzung der Vorgaben der EU-Verträge (Verordnungen, Richtlinien, aber auch soft law wie z.B. Technische Standards) diesen Schutz im objektiven Interesse detailliert ausformen. Demgegenüber erscheinen subjektiv-grundrechtliche Aspekte eher nachrangig. Das schließt nicht aus, dass sich aus den EU-Verträgen oder dem Grundgesetz gewisse Schutzpflichten für die EU und ihre Mitgliedstaaten ergeben können. Die Entscheidung hat freilich wichtige Haftungsimplikationen. Denn wenn es derartige Pflichten gäbe, dann hätten die EU und die Mitgliedstaaten diese Pflichten möglicherweise durch ihr früheres Nichthandeln hinsichtlich der Finanzinstrumente, die zur Finanzkrise 2008–2012 beigetragen haben, verletzt.

Das rechtswissenschaftliche Schrifttum tendiert dennoch ganz überwiegend zur Bejahung mehr oder weniger konkreter Schutzpflichten.755 Deshalb soll die Problematik nachfolgend genauer untersucht werden. Dabei sind die grundsätzlichen Mindestanforderungen des EU-Rechts an die Gefahrenvorsorge (Abschn. a)), die Mindestanforderungen des deutschen Rechts (Abschn. b)) und mögliche Abweichungen aufgrund der Selbstregulierung im Finanzbereich (Abschn. c)) getrennt zu betrachten.

a) EU-Recht: Keine Übertragung deutscher Grundsätze zu Schutzpflichten und zum Untermaßverbot

Es wurde bereits zuvor darauf hingewiesen, dass die Schutzgüter der Finanzmarktaufsicht zwar kein ausdrücklicher Gegenstand des Primärrechts sind, dass sich der durch die EU-Verträge geschützte Binnenmarkt aber ohne Gewährleistung der Stabilität des Finanzsystems nicht erhalten bzw. weiter entwickeln lässt. Die Errichtung eines europäischen Binnenmarktes ist ihrerseits ein sowohl für die EU-Institutionen als auch für die Mitgliedstaaten durch die EU-Verträge höchstrangig festgelegter Auftrag.756 Daraus lässt sich jedenfalls ableiten, dass Maßnahmen der Gefahrenvorsorge, welche die EU und ihre Mitgliedstaaten im Finanzbereich ergreifen, auf die Bekämpfung schwerwiegender Störungen der europäischen Finanzsysteme ausgerichtet sein müssen. Die Frage, ob weitergehend sogar eine Pflicht der EU oder der Mitgliedstaaten zur Bekämpfung systemischer Gefahren besteht, ist dennoch als offen anzusehen, da eine solche Pflicht in der europäischen Rechtsprechung bisher nicht ausdrücklich anerkannt wurde und ihre Anerkennung in Anbetracht der den Mitgliedstaaten verbliebenen ordnungsrechtlichen Kompetenzen auch nicht selbstverständlich unterstellt werden kann.757 Insoweit sind auch die Grenzen des EU-Rechts aufgrund des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung und des Subsidiaritätsgrundsatzes (Art. 5 Abs. 2, 3 EUV) zu beachten.758

Diese Erwägungen sprechen auch dagegen, die deutschen Grundsätze zu Schutzpflichten und Schutzgewähransprüchen zu übertragen. Zwar erscheint es auf der Basis dieser Grundsätze nicht ausgeschlossen, aus den Vorschriften zum Schutz des EU-Binnenmarktes und den wirtschaftsbezogenen Unionsgrundrechten objektive Handlungspflichten oder gar subjektive Ansprüche abzuleiten.759 Das Unionsrecht gestattet es den EU-Organen allerdings nicht, zum Schutz des Binnenmarkts tätig zu werden, wenn ihnen die nötigen Kompetenzen nicht zuvor ausdrücklich übertragen worden sind und wenn zugleich mitgliedsstaatliche Kompetenzen fortbestehen.760 Dies ist wegen der möglichen parallelen Anwendbarkeit nationaler Schutzstandards neben den Unionsgrundrechten der Fall.

b) Deutsches Recht: Gefahrenvorsorge kein Gegenstand von Schutzpflichten bzw. -ansprüchen

Das Unionsrecht belässt einen Freiraum für nationale Schutzstandards, sofern dadurch der Vorrang, die Einheit oder die Wirksamkeit des Unionsrechts nicht beeinträchtigt werden. Das kann etwa in solchen Fällen relevant werden, in denen nach dem Finanzaufsichtsrecht der EU Schutzlücken verbleiben und der nationale Gesetzgeber Anlass sieht, diese Schutzlücken durch eigene Vorgaben zur Gefahrenvorsorge ergänzen. Aus deutscher Perspektive stellt sich unter diesen Umständen die Frage, ob sich aus den nationalen Grundrechten konkrete subjektive Schutzgewähransprüche gegenüber dem deutschen Staat herleiten lassen. Die Finanzmarktteilnehmer sind in ihrer wirtschaftlichen Betätigungsfreiheit geschützt (Art. 12 Abs. 1, 14 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG).761 Anleger und Sparer können sich zudem auf den grundrechtlichen Schutz des Eigentums berufen (Art. 14 Abs. 1 GG). Daneben lässt sich erwägen, ob das Sozialstaatsprinzip im Sinne einer objektiven Schutzpflicht den Schutz wirtschaftlicher Freiheiten verlangt, die in einer Krise gefährdet werden können (Art. 20 Abs. 1 GG).762

Die Gefahrenvorsorge im Finanzbereich dürfte bei Lichte betrachtet allerdings kein Gegenstand von Schutzpflichten oder -ansprüchen sein. Hiergegen sprechen zum einen der Anwendungsvorrang des EU-Rechts als Grenze (Abschn. aa)) und zum anderen das Fehlen hinreichend konkreter grundgesetzlicher Schutzgüter (Abschn. bb)).

aa) Anwendungsvorrang des EU-Rechts als Grenze

Das Grundgesetz ist nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts europarechtsfreundlich auszulegen.763 Deshalb findet grundsätzlich keine verfassungsgerichtliche Kontrolle von Unionsrechtsakten statt. Eine Ausnahme kommt nur zum Schutz grundlegender Verfassungsprinzipien in Betracht.764 Das Bundesverfassungsgericht beschränkt sich ansonsten darauf, innerhalb des vom Unionsrecht gesetzten Rahmens zu überprüfen, ob der deutsche Gesetzgeber die ihm verbleibenden Spielräume in verfassungskonformer Weise nutzt.765 Die Grenzen dieser Spielräume werden aus unionsrechtlicher Perspektive durch den Anwendungsvorrang des EU-Rechts bestimmt.766

Das EU-Recht schützt den Binnenmarkt. Dieser Schutz erfolgt zwar im Allgemeininteresse, kommt aber auch den einzelnen Marktteilnehmern zugute. Der Schutz des Binnenmarkts umfasst dabei mehrere Teil- und Zwischenziele, zu deren Schutz die EU teils ausschließlich und teils konkurrierend mit den Mitgliedstaaten tätig wird (z.B. Schutz der Finanzstabilität, Wettbewerbsschutz).767 Die EU hat ihre Regelungskompetenzen in den letzten Jahren in weitem Umfang wahrgenommen.768 Der nationale Gesetzgeber darf in Anbetracht dessen zwar weiterhin legislative Maßnahmen vornehmen.769 Dabei muss er allerdings – über das bestehende EU-Finanzaufsichtsrecht (Sekundärrecht) hinaus – auch die Vorgaben der EU-Verträge (Primärrecht) beachten.770 Der nationale Gesetzgeber bleibt danach zwar berechtigt, Ziele innerhalb der ihm verbleibenden Kompetenzen zu verfolgen (z.B. den Schutz des Anlegervertrauens).771 Er darf aber nicht mit Maßnahmen in die marktwirtschaftlich-wettbewerbliche Unionsordnung eingreifen, die lediglich auf den Schutz bestimmter Wirtschaftsinteressen ausgerichtet sind und diese gegenüber anderen, ungeschützt bleibenden Interessen einseitig bevorzugen.772 Die wirtschaftliche Betätigungsfreiheit und die Interessen von Sparern und Anlegern können solche Wirtschaftsinteressen darstellen. In Fällen, in denen nationale legislative Maßnahmen mehreren Zielen zugleich dienen können, ist somit darauf zu achten, dass die Verfolgung von Zielen im Kompetenzbereich des nationalen Gesetzgebers und die einhergehenden Marktwirkungen in einem ausgewogenen Verhältnis zueinander stehen.

Die Differenzierung nach den verfolgten Zielen ist gerade im Bereich der finanzaufsichtsrechtlichen Gefahrenvorsorge wichtig. Denn je weiter die dazu getroffenen Maßnahmen vorverlagert werden, um so offener ist von vornherein die Entwicklung, die letztlich zu einer Gefahrenlage führen kann. Maßnahmen zum Schutz der wirtschaftlichen Interessen bestimmter Grundrechtsträger können sich dann umso belastender für andere Marktteilnehmer auswirken, welche die mit den Maßnahmen einhergehenden Kosten oder andere Nachteile zu tragen haben. Ein plastisches Beispiel für dieses Problem sind umfangreiche Informations- und Beratungspflichten, die Sparern und Anlegern einerseits eine informiertere Entscheidung ermöglichen, andererseits trotz eines gegebenenfalls nur geringen Beitrags zur Gefahrenvorsorge mit einem ganz erheblichen Aufwand für die mit diesen Pflichten belasteten Banken einhergehen.773 Das EU-Recht dürfte vor diesem Hintergrund Maßnahmen des nationalen Gesetzgebers zur Gefahrenvorsorge zwar nicht in jedem Fall entgegenstehen. Ansprüche von Grundrechtsträgern, die auf den einseitigen Schutz individueller wirtschaftlicher Interessen gerichtet sind, dürften aber durch die Vorgaben der EU-Verträge zum Binnenmarkt überlagert werden.

Das Schrifttum, das etwaige verfassungsrechtliche Schutzgewährpflichten in Betracht zieht, lässt üblicherweise offen, ob solche Pflichten allgemein oder nur in den Fällen bestehen sollen, in denen das EU-Recht Schutzlücken aufweist, die vom nationalen Gesetzgeber ausgefüllt werden können.774 Das Schrifttum äußert sich üblicherweise auch nicht zu dem Problem, welche Grenzen das EU-Recht zieht, soweit Maßnahmen zur Ausfüllung von Schutzlücken mit unausgewogenen Belastungen für die nicht geschützten Marktteilnehmer einhergehen.775 Damit werden grundrechtliche Schutzgewähransprüche im Zweifel auch in Fällen bejaht oder Schutzpflichten aus dem Sozialstaatsprinzip abgeleitet, in denen das EU-Recht dafür nach hiesiger Lesart keinen Raum lässt.

bb) Fehlen hinreichend konkreter grundgesetzlicher Schutzgüter

Der Schutz wirtschaftlicher Interessen ist im deutschen Verfassungsrecht wesentlich schwächer als im EU-Recht ausgestaltet. Das Grundgesetz ist wirtschaftspolitisch neutral. Es überlässt es damit dem Gesetzgeber, sich für ein bestimmtes Wirtschaftssystem und eine ihm sachgemäß erscheinende Wirtschaftspolitik zu entscheiden.776 Die wirtschaftliche Betätigungsfreiheit ist zudem nur ein Teilaspekt anderer grundrechtlicher Schutzgüter. Diese Schutzgüter und auch die Eigentumsfreiheit von Anlegern und Sparern sind stark normgeprägt und folglich durch den Gesetzgeber auszugestalten.777 Die Eigentumsfreiheit unterliegt darüber hinaus einer Sozialbindung.778 Dem Gesetzgeber sind bei der Ausgestaltung der Eigentumsfreiheit deshalb Spielräume zur Austarierung von privaten und öffentlichen Interessen zuzugestehen (einschl. des öffentlichen Interesses an einer von staatlichen Eingriffen freien Marktentwicklung).779 Bei derartigen Gestaltungsfreiheiten lässt sich allerdings ein fester verfassungsrechtlicher Regelungsgehalt, in Bezug auf den Schutzgewähransprüche bestehen könnten, kaum feststellen.780 Der Schutz ist vielmehr davon abhängig, dass der Gesetzgeber den Grundrechtsträgern überhaupt ein individuelles Recht zur eigenen Verfügung zuordnet.781 Wenn der Gesetzgeber nicht die Nutzung eines solchen Rechts als solche beschränkt, müssen die Grundrechtsträger auch nachteilige Veränderungen der wirtschaftlichen Verhältnisse hinnehmen, da der grundrechtlichen Schutz den wirtschaftlichen Erfolg und die Sicherung von Erwerbsmöglichkeiten nicht mitumfasst.782 Anders als im Fall der Vorschriften über den Binnenmarkt bezieht sich der Schutz also nicht auf die Marktverhältnisse. Auch das Sozialstaatsprinzip ist durch den Gesetzgeber zu konkretisieren. Der Gesetzgeber muss somit in den ihm vom EU-Recht belassenen Freiräumen dafür sorgen, sich die Kontrolle darüber zu erhalten, wie er den Inhalt der genannten Freiheiten und des Sozialstaatsprinzips bestimmt. Das bedeutet jedoch nicht, dass er in Bezug auf die zu definierenden schutzwürdigen Interessen außerdem zu einer finanzaufsichtsrechtlichen Gefahrenvorsorge verpflichtet wäre.783

Zwar wäre zu erwägen, einen Mindestschutzumfang aus dem Wesens- bzw. Kerngehalt der hier relevanten Grundrechte oder des Sozialstaatsprinzips abzuleiten. Als eine Barriere für den einfachen Gesetzgeber verbietet es Art. 19 Abs. 2 GG, ein Grundrecht in seinem Wesensgehalt anzutasten. Die Vorschrift wird teilweise zur Begründung eines grundrechtlichen Untermaßverbots herangezogen.784 Eine engere Barriere sogar für den Verfassungsgeber stellen der Menschenwürdekern der Grundrechte und der Kerngehalt des Sozialstaatsprinzips dar, die nach Art. 79 Abs. 3 GG jeder Änderung entzogen sind.785 Im vorliegenden Kontext könnte es gerechtfertigt sein, diese Barrieren in den Blick zu nehmen, weil Finanzkrisen nicht nur große Vermögenswerte vernichten, sondern sich auch zu gravierenden Wirtschaftskrisen ausweiten können, in denen eine umfassende Entwertung bestehender Rechtspositionen droht (durch Massenarbeitslosigkeit, Inflation usw.). Angesichts dessen erscheint es vertretbar, den Gesetzgeber als verpflichtet anzusehen, eine wirtschaftliche Ordnung zu gewährleisten, in der verkehrsfähige Güter überhaupt noch bestehen können.786 Allerdings wäre ein solcher auf den Wesens- bzw. Kerngehalt beschränkter Schutz auf extrem schwere Finanz- und Wirtschaftskrisen auszurichten. Dabei wäre dem Gesetzgeber aber immer noch ein weiter Gestaltungsspielraum dahingehend einzuräumen, ob er Maßnahmen zum Schutz des bestehenden Finanz- und Wirtschaftssystems ergreift oder ob er sich – dann freilich auf EU-Ebene – für Veränderungen des Systems einsetzt, um extreme Krisen auf diesem Wege unwahrscheinlicher zu machen.787 Auch dann wäre eine Schutzpflicht – so sie denn überhaupt bestünde – jedenfalls nicht individuell durchsetzbar.

Etwas anderes könnte freilich dann zu gelten haben, wenn die ursprüngliche wirtschaftspolitische Neutralität des Grundgesetzes aufgrund verfassungsimmanenter Schranken heute nicht mehr vorbehaltlos anerkannt werden kann. Hierfür könnte eine Gesamtschau der heute bestehenden wirtschaftsbezogenen Bestimmungen des Grundgesetzes sprechen. So enthalten die Vorschriften über die bundeseigene Verwaltung Einzelbestimmungen, die den Betrieb bestimmter liberalisierter Netzinfrastrukturen (Eisenbahn, Telekommunikation) in privatrechtlicher Form garantieren.788 Daneben kommt Rundfunk- und Presseunternehmen ein besonders umfassender Schutz zugute, der sie etwa im Verhältnis zu Telemedienanbietern heraushebt.789 Allerdings ist zu bedenken, dass die jeweiligen Garantien sich auf bestimmte Wirtschaftsbereiche beziehen, in denen der Staat auch unter den Bedingungen einer privatwirtschaftlichen Leistungserbringung verpflichtet bleibt, eine Grundversorgung sicherzustellen.790 Dagegen enthält das Grundgesetz außer Vorschriften über die Gesetzgebungskompetenzen und über die Geldpolitik keine näheren Bestimmungen zum Finanzbereich.791 Diesbezüglich bleibt es vielmehr – trotz der hohen Bedeutung des Bereichs für das deutsche Wirtschaftssystem – weiterhin gänzlich offen. Selbst dann, wenn die wirtschaftspolitische Neutralität des Grundgesetzes lediglich einen je nach Regelungsbereich durchbrochenen Grundsatz darstellen sollte, würde aus dieser Erkenntnis somit nichts für die Gefahrenvorsorge im Finanzbereich folgen.

Soweit das einschlägige Schrifttum dennoch konkrete Schutzpflichten zur finanzaufsichtsrechtlichen Gefahrenvorsorge bejaht, wird argumentiert, der Gesetzgeber sei verpflichtet, die Grundrechtsträger innerhalb der Marktgegebenheiten vor „spezifischen Risiken“ zu schützen, die ein besonderes Schutzbedürfnis begründeten.792 Im Übrigen wird auf das Untermaßverbot und den Effektivitätsgrundsatz verwiesen.793 Die angesprochenen spezifischen Risiken werden allerdings aus Gegebenheiten abgeleitet, die Märkte im allgemeinen prägen (z.B. ungleich verteilte Macht, Informationsasymmetrien). Dass der grundrechtliche Schutz nicht die Marktverhältnisse umfasst, wird hierbei ausgeblendet. In Hinblick auf Katastrophenereignisse im Allgemeinen wird unter Rückgriff auf vorgrundgesetzliche Ideen sogar erörtert, ob gefahrenbezogene Maßnahmen auch ohne Bindung an das Rechtsstaatsprinzip geboten sein können.794 Dies erscheint von vornherein widersprüchlich, weil der Gesetzgeber an das Schutzgut gebunden bliebe, aber zugleich die Bindung an das Rechtsstaatsprinzip entfiele. Darüber hinaus käme es auch zum Präventionsstaat, der ohne rechtliche Grenzen auf Risikominimierung ausgerichtet ist. Eine derart einseitige Ausrichtung am Ziel der Risikoprävention würde die rechtsstaatliche Ordnung in ihrem Kern infrage stellen.795 Die Versuche, aus dem Grundgesetz konkrete Schutzpflichten zur Gefahrenvorsorge herzuleiten, können nicht überzeugen.

Klarzustellen ist, dass das Fehlen grundgesetzlicher Schutzgüter, aus denen eine konkrete Schutzpflicht abgeleitet werden könnte, nicht bedeutet, dass die Grundrechtsträger verfassungsrechtlich völlig schutzlos wären. Zu recht wird im Schrifttum darauf hingewiesen, dass Finanzkrisen ohne staatliches Eingreifen in Extremfällen zum Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung führen können.796 Der deutsche Staat bleibt selbst mit Blick auf solche Fälle zur Sicherung eines menschenwürdigen Existenzminimums verpflichtet.797 Hierbei ist ihm jedoch erneut ein weiter Gestaltungsspielraum zuzubilligen. Da das Grundgesetz den Staat auf kein bestimmtes Wirtschaftssystem festlegt, steht es ihm also auch frei, ob er Vorsorgemaßnahmen zum Schutz des Finanzsystems trifft oder ob dieses in einer Krise verstaatlicht und sich auf direkte Leistungen an etwaige Hilfsbedürftige beschränkt.798

19 957,33 ₽
Жанры и теги
Возрастное ограничение:
0+
Объем:
2081 стр. 2 иллюстрации
ISBN:
9783800593309
Правообладатель:
Bookwire
Формат скачивания:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip

С этой книгой читают

Хит продаж
Черновик
4,9
454